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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 5 – 7. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 5
Die Menschenfalle im alten Haus
7. Kapitel

Die Menschenfalle

Die Wirkung dieser letzten Worte war furchtbar. Garry wurde kreidebleich, seine Hände ballten sich, und er schien im Begriff zu sein, wütend aus seinem Sessel emporzufahren.

»Mein Herr«, schrie er, »ich muss wirklich glauben, einen Wahnwitzigen vor mir zu sehen. Was soll das heißen, was bedeutet das, was soll die Erwähnung der Diamanten, von denen in den letzten Tagen die Zeitungen berichteten? Was habe ich damit zu tun?«

»Was Sie damit zu tun haben?«, meinte Sherlock Holmes, »hören Sie mal, Mr. Garry, Ihnen geht es noch schlimmer, wie Ihrem Kompagnon, dem Hopkins. Ich vermute, dass er dort hinter der Tür steht, die angelehnt geblieben ist. Und er wird eifrig zuhören, aber das schadet nichts, es ist mir sogar recht lieb, dass er alles hört. Also, wenn Sie es denn hören wollen, so geht meine Kombination dahin, dass die beiden Inder, welche Sie so liebevoll und edel aufnahmen, die Absicht haben, die Donelsonsche Nachlassenschaft für sich in Anspruch zu nehmen. Da die Leute aber keine gesetzlichen Rechte dazu besitzen, so versuchen sie, ihr Ziel durch Drohungen zu erreichen und gleichzeitig Rache zu nehmen, Rache für eine Schuld des verstorbenen Masers, die ich jetzt nicht näher erwähnen will. Diese Leute sind eigens nach London gekommen, um den Major aufzusuchen und mit ihm Abrechnung zu halten. Ich glaube bestimmt, dass das junge Mädchen nicht an diesem Rachegedanken teilgenommen hat, wohl aber jener finstere Mensch, der den Namen

Nan Sing führt. Welche Schuld auf seiner Seele lastet, das wird wohl die Zukunft ergeben. Der Major starb schnell, so schnell, wie ein gewisser Sherlock Holmes sterben sollte, auf welchen ein bisher unbekannt gebliebener Mann einen kleinen, indischen Giftpfeil abschoss. Sagen Sie mal, Mr. Garry, haben Sie vielleicht noch ein solches spanisches Rohr da in der Sammlung an Ihren Wänden? Die Dose mit dem Gift ist sicher untergebracht, ebenso der Rest der kleinen Pfeile, die jener Unbekannte mit sich führte. Haben Sie vielleicht noch ein Duplikat davon? Oder ist der seltsame Stock schon benutzt worden, als der Major so plötzlich starb – am Schlagfluss, wie die Ärzte sagen?«

»Wahrhaftig, wahrhaftig, es ist ein Irrsinniger bei mir eingedrungen!«, rief Mr. Garry.

»Sie spielen Ihre Rolle schlecht, Mr. Garry«, meinte Holmes, indem er aufstand. »Doch wir wollen jetzt die Geschichte mit dem Major ruhen lassen. Ich sagte Ihnen schon, das kommt erst später an die Reihe.

Sie sind lange in Indien gewesen, und ich weiß, dass Sie Geschäfte in allen Erzeugnissen dieses Wunderlandes machen. Da steht nun in meinem Adressbuch, welches ich besitze und in welchem Sie verzeichnet sind, Folgendes unter der kurzen Ankündigung: Empfiehlt sich zu gewissenhafter Schätzung von Edelsteinen aller Art, speziell indischer Juwelen.

Mr. Garry, haben Sie es nicht veranlasst, dass ein gewisser Archibald Donelson, ein Neffe des toten Majors, auf den Gedanken kam, einen auffallend großen Diamanten bei Ihnen schätzen zu lassen, hier in diesem Büro?«

Garry wurde immer unruhiger. Er zog ein buntes, seidenes indisches Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. Dann sah er hilfeflehend zu der Tür hinüber, hinter welcher Holmes nun ein verdächtiges Geräusch zu vernehmen glaubte.

»Irrsinn, heller Wahnwitz!«, flüsterte der Agent.

»Ich bin noch nicht zu Ende«, fuhr Sherlock Holmes ruhig fort, indem er aufstand. »Setzen Sie sich nur ruhig wieder in Ihrem Sessel vor dem Schreibtisch, Mr. Garry. Hier links ist die Tür zum Korridor. Sie sitzen dort, und nun stellen Sie sich mal vor, ich bitt Archibald Donelson. Ich komme jetzt zur Tür herein, nachdem Sie mir aufgemacht haben. Sie haben sich eben vor Ihren Schreibtisch niedergelassen, und ich stehe hier, am Rand des bunten Teppichs. Und da sage ich zu Ihnen: Sie müssen immer denken, ich bin Archibald Donelson. Ich habe den Diamanten meines Vetters mitgebracht, da Sie sich ja vortrefflich auf die Schätzung solcher Juwelen verstehen. Ich habe aber nicht davon geredet, ganz wie Sie es wünschen, denn du lieber Gott, man ist Geschäftsmann und da will man eine kleine Maklergebühr

gern mit in den Kauf nehmen. -So, nun sprechen Sie, Mr. Garry, Sie sagen zu mir: Ach, bitte, treten Sie näher, Mr. Donelson, mir wird das Stehen schon sauer bei meinem zunehmenden Alter usw., zeigen Sie mir den Stein, ich werde prüfen. Und nun taxieren Sie den Stein und nennen eine hohe Summe. Und sagen auch so nebenbei, dass Sie den Verkauf vermitteln wollen, natürlich unter Zeugen, dass Sie sich verpflichten, diese ungeheure Summe zu beschaffen, dass Sie sich natürlich dafür eine kleine Provision ausbedingen und dass diese zwischen Ihnen und mir – Sie müssen immer denken, ich bin Archibald Donelson – geteilt wird. Und damit das alles sicher wird, und dieser mündliche Vertrag festgelegt wird, schreiben Sie einen Zettel und verpflichten sich, die Summe zu beschaffen und schreiben darauf die Maklergebühr und die Provision, wie Sie es nun nennen und setzen Ihren Namen darunter. Darauf sagen Sie freundlich: Mein bester Herr Donelson, treten Sie heran und unterschreiben Sie ebenfalls mit Ihren Namen. Und das tut er und tritt hier an die Ecke heran an den Schreibtisch und unterschreibt, und dann, Mr. Garry, da greifen Sie an den kleinen vorstehenden Knopf, der da hinten an Ihrem Schreibtisch angebracht ist und drücken darauf – so …«

Garry sprang auf. Im selben Moment erhielt er einen Faustschlag von Sherlock Holmes, dass er zur Seite taumelte. i

Der Detektiv stand vor dem Schreibtisch, er drückte auf den Knopf, an der dem Teppich abgewendeten Stelle.

Ein dumpfes Schnappen ließ sich vernehmen.

Gleich darauf folgten ein Krachen und ein dumpfer Anschlag, als ob ein herabstürzendes Brett schwer gegen die Wand schlüge.

Seltsames war geschehen. Mitten in dem bunten Teppich, und zwar vor dem Schreibtisch, klaffte eine viereckige Öffnung, und darunter sah man ein schwarzes gähnendes Loch.

Eine Falltür hatte sich urplötzlich geöffnet, und die schwere Tür war es gewesen, deren Verschluss urplötzlich gelöst wurde und die nun hinunterschlug und mit dumpfem Anprall gegen die Wand klappte.

»Und da ist Archibald Donelson hinabgestürzt«, fügte Sherlock Holmes mit wahrhaft metallener Stimme hinzu, »da hat man dem Betäubten mit leichter Mühe den Garaus gemacht und ihm den Diamanten abgenommen. Von Henry Donelson aber dachte man durch Drohung den zweiten Diamanten zu erpressen. Und nicht Donelson allein ist es gewesen, der hier sein Ende fand, nein, auch jene anderen, die man vermisste und von deren Verbleib niemand etwas ahnte. Es wird sich schon herausstellen, unter welchen Vorspielungen man sie hierher auf den Teppich an den verhängnisvollen Schreibtisch lockte. Das ist eine Menschenfalle, Mr. Garry.«

Der Alte stand kreidebleich, keines Wortes mächtig, halb gegen die Wand gelehnt. Sherlock Holmes aber sprang blitzschnell zurück, an der Öffnung vorüber, zu dem Platz, wo er zuerst gesessen hatte, um den Rücken zu decken.

Jählings war die Tür hinten aufgerissen worden und herein stürzte eine jugendliche Gestalt, die einen herzzerreißenden Wehruf ausstieß. Es war Nauma, die Nichte des alten Inders.

»Nein, nein, nicht mehr«, rief das junge Mädchen verzweiflungsvoll, »es ist genug des Schrecklichen geschehen. Schon wieder ein Opfer. Nein, nein!«

Das junge Mädchen sah zwar Sherlock Holmes, der wie eine Bildsäule der kommenden Dinge harrte, jedoch glaubte die Inderin, es sei wieder ein Unglücklicher in die Menschenfalle gestürzt. Auch hörte man unten im Kellerraum ein lautes Geräusch, als ob dort ein paar Männer durch eine Tür stürmten.

Nauma sank unwillkürlich in die Knie, aber im selben Augenblick kam ein Mann hinter ihr hergesprungen, ein junger schöner Mann, in eleganter Kleidung, dessen wildverwegenes Gesicht vor Wut förmlich verzerrt erschien.

»Du hast uns verraten«, schrie Hopkins, denn er war es, mit förmlich brüllender Stimme, »du hast uns verraten, elende Dirne! Heda, ihr da unten, kommt herauf, ihr seid hier notwendiger!«

Unten vernahm man Getrappel, als ob einige Leute rasch eine hölzerne Stiege hinaufstürmten.

Gleich darauf sah man durch die offene Tür vier junge, gutgekleidete Männer in das Büro stürzen, Männer, deren Gesichter alle schlimmen Leidenschaften verrieten.

»Gut, sehr gut«, sprach Sherlock Holmes, »da habe ich ja die ganze Gesellschaft beisammen. Und ich habe auch meine Zeugen.« Dabei deutete er mit der Rechten nach Nauma, die mit weit aufgerissenen Augen in die Menschenfalle hinabstarrte.

Der Agent verharrte hinter seinem Schreibtisch, ohne zu wissen, was er tun oder lassen sollte. Sherlock Holmes blickte auf den Agenten, dann wieder auf Hopkins und dessen Gefährten, die wahrhaft tigerartige Blicke auf ihn richteten.

Aber eins schien der kühne Mann doch zu übersehen. Nämlich, dass zur Linken der Vorhang gelüftet wurde, dass ein boshaft grinsendes Gesicht in das Zimmer lugte.

Das war Nan Sing, der Inder, welcher von dort mit der Aufmerksamkeit eines Raubtieres die ganzen Vorgänge beobachtete.

»Ja, eine Zeugin«, setzte Sherlock Holmes mit tönender Stimme hinzu, »und diese ist das junge Mädchen, welches nur gezwungen Zeuge der abscheulichen Taten war; Nauma, die junge Inderin, deren Herkunft ich ganz genau kenne, wird vor Gericht als Zeugin auftreten. Und das genügt im Verein mit dem, was ich selbst gesehen habe.«

In diesem Augenblick stieß Hopkins ein gellendes Hohngelächter aus.

»Nein, sie wird nicht Zeugnis geben«, schrie der Verbrecher, der blitzschnell einen Revolver aus der Tasche gerissen hatte und die Mündung der Waffe auf die Schläfe des aufschreienden Mädchens richtete.

Für ihn war Nauma nun gefährlicher als Sherlock Holmes. Erst wollte er die töten, welche die furchtbarsten Aussagen machen konnte. Dann war es immer noch Zeit, mit dem Detektiv abzurechnen.

Im gleichen Moment aber, wo Hopkins den Revolver hervorzog, hatte auch Sherlock Holmes mit beiden Händen zugleich in die Taschen gegriffen, und im nächsten Moment fielen zwei Schüsse.

Hopkins hatte die Waffe nicht abgefeuert, deren Geschoss sicherlich den Kopf des jungen Mädchens zerschmettert hätte. Mit tödlicher Sicherheit hatte Sherlock Holmes gefeuert, aber auch den einzigen Schuss getan, der in der gefährlichen Lage nötig war. Selbst wenn er Hopkins niederstreckte, hätte dieser vielleicht noch Kraft gefunden, das unglückliche Mädchen niederzuschießen. Deshalb hatte Sherlock Holmes, dieser Meisterschütze, mit blitzartiger Schnelligkeit auf die Waffe des Verbrechers gezielt und diese auch getroffen.

Direkt vor Hopkins Fingern zerschmetterte die Kugel den Kolben der gefährlichen Waffe, schleuderte den Revolver unbrauchbar beiseite, und der Druck war noch kräftig genug, um auch Hopkins über den Boden hinrollen zu lassen.

Den zweiten Schuss hatte der Inder abgefeuert, indem er direkt auf Sherlock Holmes’ Kopf zielte. Aber er hatte dabei eins vergessen, nämlich den Umstand, dass Holmes, wie man zu sagen pflegt, die Augen überall hatte.

Im selben Moment, in dem der Inder auf Sherlock Holmes schoss, hatte sich dieser in die Knie geduckt; die Kugel aus dem Revolver des Inders pfiff über seinen Kopf hinweg und schlug klatschend in die indischen Dekorationen, sodass einer der bemalten Holzgötzen mit lautem Getöse von seiner Konsole herabpurzelte.

Gleich darauf schoss Nan Sing zum zweiten Mal, während er einen gellenden Schrei der höchsten Wut ausstieß. Aber Erstens befand er sich in größter Erregung und dann machte Sherlock Holmes mit einer schnellen Wendung einen Sprung zur Seite, sodass auch diese Kugel ihr Ziel verfehlte.

 

»Mein brauner Freund«, sprach Sherlock Holmes, indem er seinerseits die eine der Waffen hob, die er in den Händen trug, »ich muss Euch unschädlich machen.« Nang Sing versuchte zum dritten Mal zu schießen und diesmal ein sichereres Ziel zu fassen. Aber Holmes kam ihm zuvor. Nun blitzte es vor der Mündung des Revolvers auf, den er in der Linken trug. Mit furchtbarem Wehegeheul ließ Nan Sing seine Waffe fallen und wälzte sich mit durchbohrtem Unterarm auf dem Boden herum, während seine weißen Zähne raubtierartig in den dunkel- grünen Vorhang bissen.

Inzwischen hatte es hinter Sherlock Holmes unablässig geknickt und geknackt. Die vier Gefährten des verbrecherischen Hopkins hatten funkelnagelneue Revolver hervorgezogen und dieselben auf Sherlock Holmes gerichtet, in der besten Absicht, diesen gehassten Mann, dem sie mehrere Jahre schweren Kerker verdankten, über den Haufen zu knallen.

»Damned«, schrie der eine der Männer, »sie versagen ja, die verdammten Waffen. Hopkins, was soll das bedeuten?«

Sherlock Holmes hatte sich soeben überzeugt, dass Nan Sing ihm nicht mehr gefährlich werden konnte und den Revolver des tückischen Inders mit einem Fußstoß zur Korridortür geschleudert. Nun drehte sich der berühmte Detektiv ganz gelassen um, indem er mit den Augen, in denen der Spott funkelte, die bestürzten Banditen betrachtete.

»Ah, jetzt greift Ihr nach den Messern«, sprach er, »nun, dann ist es auch Zeit, dass ich mich wieder mit euch beschäftige. Jetzt schleunig die Messer hingelegt und die Hände hoch, die Revolver könnt ihr meinetwegen ruhig behalten. Damit könnt ihr sogar weiter auf mich knipsen. Aber die Messer weg! Ich habe noch zehn Schuss übrig, und wie ich schieße, davon habe ich ja eben an dem trefflichen Hopkins einen Beweis geliefert. Schöne Revolver, funkelnagelneu, tadellos. Hopkins, Sie haben prächtig eingekauft, man muss es Ihnen lassen. Ausgezeichnet, Sie haben auch kein Geld gespart, ich weiß es, die Revolver kosten durchschnittlich 30 Schill. Ein hübsches Geld. Sie hätten auch geschossen, und ich bin fest überzeugt, dass ich jetzt mit Kugeln gespickt wäre, wenn die Patronen losgegangen wären. Aber seht mal, seitdem die Londoner Waffenhändler, ja selbst die Althändler, die neuen Instruktionen von der Polizeibehörde erhielten, da haben sie sich auch ganz besondere Patronen angeschafft, die Personen verabreicht werden, denen man nicht recht trauen darf. Natürlich geschieht das nur dann, wenn ihnen eine Warnung zugeht. Und dafür sorge ich! Sehen Sie, Hopkins, als Sie gestern Abend zu Ihren Gefährten dort sagten, Sie wollten die Revolver kaufen

und auch die Patronen, die dazu gehörten, da habe ich dafür gesorgt, dass Sie die nötigen Geschosse erhielten, in denen zwar die Bleipille sitzt, aber bei denen Sie statt des Pulvers einfach schwarzen Streusand finden. So, nun könnt ihr nach Belieben weiterknipsen, so viel ihr wollt. Aber der Streusand geht bei bestem Willen nicht los. Hopkins, bleiben Sie mal ruhig da, wo Sie sich befinden. Ich werde Sie lehren, nach der Tür zu kriechen! Den Revolver können Sie doch nicht mehr gebrauchen, ohne Kolben kann niemand schießen, und das Ding ist verbogen.«

»Ihr seid mit dem Teufel im Bunde, Holmes«, keuchte Hopkins, »woher habt Ihr das alles gewusst?«

»Lassen Sie sich daran genügen, dass ich es weiß«, erwiderte Sherlock Holmes mit eisiger Kälte. »Man muss sich immer erst genau umsehen, ehe man Dinge schwatzt, die ein anderer hören kann. Aber ich glaube nicht, Hopkins, dass Sie je wieder in die Lage kommen werden, diese meine wohlgemeinten Ratschläge zu befolgen. Wenn mich nicht alles täuscht, werden Sie hängen. Ich habe es Ihnen vorhergesagt. Heute ist Freitag, und morgen sollte ich schon tot sein. Ich glaube aber, Hopkins, ich lasse Ihnen keine Zeit mehr, Ihre Absicht auszuführen. Dreimal habe ich Ihnen das Vergnügen gestört, mit dem Blasrohr, mit der Brillenschlange und hier in dem Büro, wo es so schöne Gelegenheit gab, mich um die Ecke zu bringen. Hopkins, glauben Sie denn, ich sei solch ein Narr, um nicht zu wissen, dass sich hier ein Magazin befunden hätte, dass hier die Falltür war? Sind Sie so töricht gewesen, mich täuschen zu wollen? Der Ausschnitt im Teppich ist sehr geschickt hergestellt, ganz geschickt, natürlich, wenn man nicht näher hinsieht. Und der Hebel am Schreibtisch, der die Falltür öffnet, ist ja auch so weit ganz sinnreich angebracht. Nur hat der Agent da drüben in seiner Zerstreuung und Erregtheit mit dem Finger daran gespielt und mich dadurch noch aufmerksamer gemacht, als es nötig war. Halt, Hopkins, hiergeblieben, Sie kennen mich, machen Sie eine Bewegung zur Tür, um zu entwischen, so sorgt eine Kugel dafür, dass Sie zunächst mit dem Wundarzt Bekanntschaft machen, ehe der Kerker dafür sorgt, dass man Sie unschädlich macht.«

Sherlock Holmes spottete nun nicht mehr, er hielt seine beiden Waffen auf die Verbrecher gerichtet, er hielt den vor Wut stöhnenden Hopkins mit einem Revolver in Schach, während er mit dem zweiten die vier Männer bedrohte, welche ihre unbrauchbaren Revolver mit einem wilden Fluch beiseite schleuderten.

»Meine Leute werden gleich hier sein«, sprach Sherlock Holmes, »die Behörde ist benachrichtigt,

und da hier geschossen worden ist, so dürften sie bald eindringen. Es dauert nur noch so lange, bis der Schlosser draußen aufgemacht hat. Da sind sie schon!«

Im nächsten Moment stürmten einige Kriminalbeamte in Zivil, von einigen Polizisten gefolgt, in das Büro und blieben, überrascht von dem Anblick, der sich ihnen bot, am Eingang stehen.

»Treten Sie nur näher, Herr Inspektor«, rief Sherlock Holmes dem Beamten zu, welcher die Leute führte. »Es sieht ein bisschen sonderbar hier aus, aber ich habe dafür gesorgt, dass wir die Burschen alle lebend bekommen. Fesseln Sie Hopkins, denn das ist der Gefährlichste, zuerst und dann die anderen.

Der Inder hat einen Denkzettel abbekommen, denn es blieb mir nichts weiter übrig. Das junge Mädchen aber, welches ohnmächtig am Boden liegt, das nehme ich in meine Obhut. Das unglückliche Geschöpf ist unschuldig an den Freveln, die hier vorgefallen sind, und sie wird Zeugnis davon ablegen, was hier geschah, wenn ahnungslose Menschen an den Schreibtisch herantraten und durch diese Klappe hier, die Sie geöffnet sehen, in die Tiefe stürzten. Mein lieber Inspektor, Sie können in der Chronik der letzten unaufgeklärten Fälle vier streichen. Es wird sich zeigen, wo diese Unglücklichen geblieben sind. Das letzte Opfer eines raffiniert schlauen Anschlages ist der unglückliche Archibald Donelson gewesen.«

Es war Sonnabendvormittag gegen elf Uhr, als ein Wagen vor dem villenartigen Gebäude hielt, in welchem die Geschwister Donelson wohnten. Henry Donelson, der gerade am Fenster stand, sah Sherlock Holmes aussteigen und sprang eilig hinab, um den Mann, dessen langes Ausbleiben ihn bereits beunruhigte, zu begrüßen. Als er unten ankam, trat ihm Sherlock Holmes schon entgegen. Der Wagen aber blieb vor der Villa stehen, als ob Holmes denselben zur Rückfahrt benutzen wollte.

»Warum sind Sie so lange geblieben?«, rief Henry Donelson aufgeregt, »Sie glauben gar nicht, wie ich mich geängstigt habe. Es sind indessen noch zwei Drohbriefe eingelaufen, und in einem ist bereits der Ort bestimmt, wo ich den Diamanten, das Vermögen meiner Schwester, niederlegen soll.«

»Das habe ich erwartet«, erwiderte Sherlock Holmes, »aber Sie können jetzt ganz ruhig sein und die Drohbriefe beiseite werfen. Ihnen droht nicht die geringste Gefahr mehr. Ich habe dafür gesorgt, dass diejenigen, welche Ihnen in der Tat gefährlich werden konnten, hinter Schloss und Riegel sitzen.«

Sherlock Holmes war bei den letzten Worten in die Wohnung der Geschwister getreten. Er griff in die Tasche, holte eine kleine Pappschachtel hervor und öffnete dieselbe.

»Ist das der Diamant, den Sie Ihrem Vetter Archibald Donelson anvertrauten?«

»Ja, ja«, rief Henry Donelson, überrascht auf das Kleinod starrend, »er ist es. Aber wo ist Archibald, haben Sie ihn gefunden?«

»Ja, und noch drei andere Männer«, erwiderte Sherlock Holmes, während seine Stimme einen metallenen Klang entnahm. »Fragen Sie nicht weiter danach. Mr. Archibald hat Sie nicht betrogen, sondern ist als Opfer seines zu großen Vertrauens gefallen.«

»Er ist tot?«, riefen die Geschwister.

Sherlock Holmes’ Schweigen sagte mehr als Worte.

Plötzlich schob Henry Donelson den Diamanten, der auf dem Tisch lag, mit einer hastigen Gebärde zurück.

»Nehmen Sie ihn, Mr. Holmes«, rief der junge Mann, »Sie haben uns vielleicht vor dem schlimmsten Schicksal bewahrt, und der Diamant, den wir noch besitzen und dessen Erlös meine Schwester mit mir teilen will, sichert uns eine sorgenfreie Zukunft.«

»Ich nehme den Diamanten«, sprach Sherlock Holmes, »aber ich will Ihnen jetzt mit wenigen Worten etwas erzählen, was Sie unbedingt erfahren müssen. Wir wollen über das Ende Ihres Vaters schweigen, er ruht in der Erde, und keine Macht der Welt kann ihn ins Leben zurückrufen. Die seltsamen Papiere, welche Sie mir anvertrauten, Herr Donelson, habe ich nach einiger Mühe entziffert, sie enthalten ein seltsames Bekenntnis. Ihr Vater hat während seines langweiligen Garnisonlebens in Indien an den Mysterien einer Vereinigung Gefallen gefunden und ist Mitglied einer Sekte geworden, welche ihre Herkunft von alten Fürsten ableitet. Zuletzt scheinen nur noch sehr wenige von den Mitgliedern dieser Sekte übrig geblieben zu sein. Genug, Ihr Vater hat sich mit einer jungen, schönen Inderin, der Tochter eines der überlebenden Mitglieder, nach indischer Sitte vermählt, nachdem er Witwer geworden war. Die Inderin, welche sehr schön gewesen sein muss, war seine rechtmäßige Gattin. Das Einzige also, was man Ihrem Herrn Vater zum Vorwurf machen kann, ist der Umstand, dass er sich geschämt hat, von dieser Ehe zu sprechen. Als er nach England zurückkehrte, ließ er seine Frau und sein Kind zurück. Die Inderin starb aus Sehnsucht nach dem Gatten, der nicht zurückkehrte, und das Kind …«

»Wo, wo ist es?«, riefen Elise und Henry wie aus einem Mund. »Haben wir einen Bruder oder eine Schwester?«

»Eine Schwester«, entgegnete Sherlock Holmes, »ein holdes, junges Geschöpf, dessen Ähnlichkeit schon allein dafür bürgt, dass es die Tochter des Majors Donelson ist.

Alles andere aber finden Sie in den Papieren des Toten, die ich Ihnen entziffert in wenigen Tagen zurückgeben werde. Der Oheim des Kindes kam nach England, um den Major zu zwingen, dass er das Kind als das seine anerkenne. Da begann die Strafe, welche Ihr Vater für sein Schweigen verdient hatte, denn der Inder, ein rachsüchtiger, jähzorniger Mensch, hat Ihren Vater unablässig mit Drohungen gepeinigt und gemartert.«

»Das ist richtig«, fiel Henry Holmes ins Wort. »Ich habe mehrmals einen Mann mit braunem Gesicht, der europäische Kleidung, aber einen Turban trug, aus dem Zimmer meines Vaters kommen sehen, der sich nach solchen Besuchen stets in furchtbarster Aufregung befand.«

»Nun, es ist derselbe«, erwiderte Sherlock Holmes, »leider kann er nicht mehr sprechen. Er hat nämlich gestern, als ich endlich das Ziel erreichte, nach welchem ich strebte, einen unbewachten Moment benutzt, um Gift zu nehmen, welches er jedenfalls mit sich geführt hat. Er war sofort tot. Aber es ist auch gut, denn ich glaube, sein Tod bedeutet eine bessere Zukunft für das junge, schöne Geschöpf, welches der Mann schlimm genug behandelt hat.«

»Wo ist sie?«, riefen Elise und Henry wieder. »Mr. Holmes, Sie wissen, wo sich das Mädchen befindet. Bringen Sie die Tochter unseres Vaters zu uns, und wir werden sie mit offenen Armen aufnehmen.«

Die scharfen grauen Augen des Detektivs schienen einen Augenblick ihre Klarheit zu verlieren, es ging wie ein Schleier darüber hin. Kein Zweifel, es gab auch Dinge, die diesen Mann von Eisen rührten.

»Also wirklich?«, sprach er. »Nun, Mr. Donelson und Sie, Miss, ich habe es, offen gesagt, von Ihnen nicht anders erwartet. Und so will ich nur noch das eine sagen: Als Ihr Vater damals starb, plötzlich starb, sah der Inder ein, dass allzu scharf schartig macht. Nun wollte er wenigstens die Diamanten besitzen, welche der Major als Heiratsgut erhielt, und auf welche der unheimliche Mensch Ansprüche machte. Der Zufall führte ihn mit den Verbrechern zusammen, denen er sein Geschick erzählte. Diese Schurken wussten es mit raffinierter Schlauheit dahin zu bringen, dass der unglückliche Archibald Donelson den Diamanten bei einem ihrer Komplizen schätzen lassen wollte. Den Diamanten nahm der Inder an sich. Ich habe ihn bei dem Toten gefunden. Den zweiten Diamanten begehrten die Verbrecher für sich. Vielleicht hätten sie auch den Inder später getötet und ihm den zweiten Diamanten abgenommen. Hopkins und Genossen war ja alles zuzutrauen. Sie sind also wirklich entschlossen, die Tochter Ihres Vaters aus zweiter Ehe aufzunehmen?«, fragte Sherlock Holmes nach einer kurzen Pause.

»Ja, ja«, riefen die Geschwister wie aus einem Mund.

Holmes ging hinaus, ohne ein Wort zu sprechen.

Die Geschwister eilten ans Fenster und sahen, wie Holmes durch den kleinen Vorgarten schritt, an den Wagen trat und einer verhüllten weiblichen Gestalt beim Aussteigen half.

Sie zitterte und schwankte, Holmes führte sie sorglich in das Haus und die Treppe hinauf, wo Elise bereits der Verhüllten entgegeneilte.

»Hier ist Ihr neues Heim«, sprach Holmes zu dem jungen Mädchen, und seine sonst so scharfe Stimme klang ungewöhnlich mild. »Hier finden Sie eine neue Heimat an dem Herzen braver und edler Menschen.«

Henry Donelson prallte ordentlich zurück, als die Kapuze des Mantels herabfiel und er beinahe Elises Abbild vor sich sah.

Kein Zweifel, das war die Tochter des Majors Donelson, bei der nur die leichtgebräunte Haut und der eigenartig schmachtende Ausdruck der dunklen Augen auf die indische Mutter hindeuteten.

Schüchtern stand das junge Wesen vor den beiden Geschwistern. Elise aber presste Nauma sofort an ihr Herz und wollte sie zu ihren Gemächern führen.

»Halt, noch einen Augenblick«, sprach Sherlock Holmes, »jetzt bin ich überflüssig, und ich will nicht weiter stören.

Herr Donelson, Sie haben mir den Diamanten geschenkt, als Entgelt für meine geringen Dienste. Und mit dem Recht des Besitzers lege ich ihn hiermit in die Hände Naumas, deren Eigentum der Diamant fortan sein soll. Und nun seien Sie recht glücklich.«

»Halt, halt«, rief Henry Donelson.

Er eilte Sherlock Holmes nach, aber er sah nur noch die hagere Gestalt des berühmten Detektivs in die Droschke steigen. Noch einmal blickte das geistreiche Gesicht Sherlock Holmes zu dem Fenster empor, und dann entzog ihn der schnell davonrollende Wagen den Blicken der Nachschauenden.