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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 5 – 6. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 5
Die Menschenfalle im alten Haus
6. Kapitel

Im alten Haus

Sherlock Holmes gab die Hoffnung nicht auf. Er war einer jener Männer, welche bis zum äußersten Augenblick um ihr Leben kämpfen. Er stemmte die beiden Ellenbogen gegen die Balken, in denen er hing, und versuchte den Kopf zwischen die Balken zu pressen, auf welche die Bretter der Brücke genagelt waren.

Das gelang teilweise, und nun hörte Sherlock Holmes wieder über sich Worte, welche Hopkins mit seinen Gefährten wechselte.

Die beiden hatten schon vorher gesprochen, da sie aber etwas entfernt von Holmes gestanden, hatte er nicht hören können, was die beiden sprachen. Vielleicht betraf es einen Anschlag auf sein Leben, da mochte ein neuer, boshafter Plan verabredet werden.

Die Leute geben sich viel Mühe um mich, dachte Holmes, schließlich besorgt die Themse, was alle Verbrecher von London nicht fertigbekommen konnten. Dagegen lässt sich aber nichts tun, und sterben müssen wir alle einmal, ob so oder so. Ich sterbe in meinem Beruf, den ich mir selbst erwählt habe.

»Jetzt müsste das Boot bald kommen«, hörte Holmes Hopkins sagen. »Es ist Zeit, denn der Nebel wird immer dichter.«

»Wie ist es denn mit den Revolvern?«, fragte der Gefährte des Verbrechers. »Du wolltest uns doch Schusswaffen besorgen, da wir bisher nichts weiter als unsere Dolche haben. Wir haben alles aufgeboten, um Revolver zu erlangen, aber an den alten Stellen war alles konfisziert, und wir sind ja erst kurze Zeit wieder auf freiem Fuß. Hast du nicht noch einige Schusswaffen?«

»Ich besitze nur meinen Revolver«, entgegnete Hopkins, »einen zweiten habe ich dem Inder, dem Nan Sing, gegeben, denn er bestand durchaus darauf, und man darf diesen Leuten nichts abschlagen. Du weißt ja, es ist sehr notwendig, dass wir Nan Sing in guter Laune erhalten. Aber sei ohne Sorge, morgen soll es mein Erstes sein, dass ich die Schusswaffen kaufe. Ich weiß auch schon ein paar Stellen, wo ich sicher welche bekomme, Ihr braucht vier Stück, und wenn ich die an zwei oder drei verschiedenen Stellen kaufe, so wird das nicht auffallen. Man ist in London sehr aufmerksam, und die Waffenverkäufer haben von der Polizei strenge Weisung erhalten, damit die Verbrecher nicht in den Besitz voll Revolvern und Munition gelangen. Vielleicht steckt auch der verdammte Holmes dahinter, denn der möchte ja am liebsten mit uns allen aufräumen. Morgen in aller Frühe gehe ich von Garry weg und besorge die Schusswaffen. Am Mittag habe ich dieselben. Aber da kommt das Boot. Siehst du das Schwarze? Da kommt es endlich durch den Nebel heran! Na endlich!«

Holmes, dessen Lage immer fürchterlicher, immer unerträglicher wurde, vernahm nun deutlich Ruderschläge. Von dem jenseitigen Ufer der Themse kam ein Boot herangefahren. Gleich darauf erzitterte die Brücke, als das ziemlich große Fahrzeug dagegen stieß.

Holmes vernahm, wie Hopkins, dessen Gefährte, der Inder und das Mädchen in das Boot stiegen, er hörte auch das Signal, mit welchem Hopkins den wachehaltenden Gefährten herbeirief.

Gleich darauf kam der Letztere über die Brücke gerannt und stieg ebenfalls ins Boot.

»Hast du etwas von Sherlock Holmes gesehen?«, hörte der unter der Brücke eingeklemmte Holmes noch fragen.

»Nein, keine Spur«, lautete die Antwort, »es ist überhaupt niemand der Brücke zu nahegekommen. Der wird wohl noch in der Stadt herumrennen und in alle Kneipen gucken, um den Inder und dessen Begleiterin zu entdecken. Da kann er lange suchen.«

»Ja, und der Teufel holt ihn doch«, knirschte Hopkins, »den Kopf muss ich mir allerdings anstrengen, um einen Ausweg zu entdecken. Schade, dass Dan tot ist, der hätte schon irgendwas ausgeheckt, denn das mit dem Stock war seine Idee, und Nan Sing hätte ihm dabei trefflich geholfen. Schade, na, es wird sich ja auch so ein Mittel finden, um Sherlock Holmes in die Hölle zu spedieren. Nun, vorwärts, Jungs.«

Trotz seiner fürchterlichen Lage bemerkte Sherlock Holmes doch, dass die Ruder mit Lappen umwickelt sein mussten, um so wenig Geräusch als möglich zu verursachen. Immer leiser wurden die Schläge, bis sie endlich ganz verstummten.

Nun war es still um Sherlock Holmes bis auf das leise Murmeln und Gluckern des Wassers, welches bereits das Kinn des kühnen Mannes berührte.

»Ich will nicht sterben, ich will nicht«, flüsterte Sherlock Holmes vor sich hin. »Jetzt, wo ich nahe daran bin, einen der schrecklichsten Frevel aufzudecken, jetzt soll ich hier elendiglich umkommen, wie eine eingeklemmte Wasserratte? Niemals, ich will freikommen und ich muss!«

Sherlock Holmes stemmte sich abermals mit den Ellenbogen fest. Der eine Fuß war noch frei, diesen presste er mit aller Gewalt an den Balken, aber er wich und wankte nicht. Höher stieg das Wasser, nun berührte es bereits die Lippen des Detektivs. Da – eine letzte, furchtbare Anstrengung, Sherlock Holmes fühlte, wie der Balken ein wenig kippte. Ein heftiger Ruck und der eingeklemmte Fuß war frei, zwar gequetscht und blutig, aber das kümmerte Sherlock Holmes nicht im Geringsten.

Mit einem jähen Taucherschwung schoss er unter das Wasser. Es war eisig kalt, aber der Detektiv fragte nicht danach. Mit kräftigen Stößen arbeitete er sich unter der Brücke fort, und nun tauchte er in der Flut empor. In wenigen Sekunden war er an der Brücke und zog sich mit leichter Mühe auf die festgerammten Bohlen.

Gott sei Dank, vorerst war er gerettet!

Eine Stunde später hörte die Frau, welche Sherlock Holmes das Absteigequartier vermietet, jenes eigenartige Klopfen, mit welchem der berühmte Detektiv seine Ankunft ankündigte.

Der flinke Bursche, welcher Sherlock Holmes so gute Dienste leistete, schlief bereits fest, die Frau aber sprang auf und öffnete. Beim Schein der trübe brennenden Öllampe sah sie Sherlock Holmes, der eintrat und auf der Stelle zu der Tür seines Zimmers eilte.

»Herr des Himmels!«, rief die Frau. »Sie sind ja patschenass, Sie haben ja keinen trockenen Faden mehr am Leib! Um Himmelswillen, wo sind Sie denn gewesen?«

»An einem Ort, wo ich nicht einmal meinen ärgsten Feind hin wünsche«, gab Holmes mit gewohntem Humor zur Antwort, »jedoch, Sie entschuldigen wohl, dass ich Ihnen nicht erst lange Rede stehe, ich sehne mich danach, aus den nassen Kleidern und ins Bett zu kommen. Gute Nacht! Wecken Sie den Jungen morgen früh um fünf, ich habe wieder einen Auftrag für ihn.«

Damit verschwand Sherlock Holmes in seinem Zimmer, und bald lag er im Bett, während in seinem nimmer rastenden Geist die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal vorüberzogen.

»Also Garry«, murmelte er, als er sich alles überlegt hatte. »Freilich, auch ein Detektiv braucht manchmal ein bisschen Glück und kann froh sein, wenn er den Lauscher spielen darf. Da hätte ich in der Millionenstadt lange suchen können, bis ich diese Schurken gefunden hätte. Nun, ich denke, dass Miss Elise Donelson ihren Diamanten behalten wird. Und wenn alles gut geht, kann auch ihr Bruder das Erbe seines Vaters wieder erhalten. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass mir neue, gefährliche Abenteuer bevorstehen. Hopkins wird sich schon Mühe geben, sein Wort zu halten – und ich werde mir Mühe geben, diesem geriebenen Burschen zuvorzukommen. Es ist ein Wettrennen, ein richtiges Wettrennen, und es fragt sich nur, wer zuerst ankommt. Indes genügt es, wenn ich Hopkins nur um eine einzige Nasenlänge schlage.«

Um fünf Uhr stand der flinke Bursche in Holmes’ Zimmer und erhielt von dem Detektiv einen Auftrag, den der Junge gewissenhaft auszuführen versprach.

Holmes überreichte dem Jungen einige wohlverschlossene Zettel, die er bereits geschrieben hatte, und schärfte ihm nochmals ein, mit der größten Vorsicht zu Werke zu gehen.

»Sieh mal, mein Junge«, sprach er zu dem aufmerkenden Burschen, »du hast mir ja schon oft gesagt, dass es dein Herzenswunsch wäre, mal bei der Polizei angestellt zu werden. Und ich glaube auch, dass in dir etwas steckt. Die Aufträge, die du jetzt ausführen musst, sind ungeheuer wichtig, es hängt viel von ihnen ab. Tust du alles zu meiner Zufriedenheit, verspreche ich dir, dafür zu sorgen, dass du eine gute Erziehung erhältst und mit dem achtzehnten oder neunzehnten Jahr bei der Polizei angestellt wirst. Also gib acht, diesmal sollst du dir deine Zukunft verdienen. Ich habe dir hier alles beschrieben und du musst bei dem betreffenden Haus aufpassen, bis Hopkins das Gebäude verlässt. Geld zum Fahren hast du, und wie ich dich kenne, wirst du dich wie ein Schatten an seine Fersen heften. Lass dich möglichst wenig von ihm sehen, und wenn er die Läden betritt, um die Waffen einzuhandeln, so tust du, was ich dir befohlen habe. Ist Hopkins wieder nach Hause zurückgekehrt, so gehst du zu den Läden zurück, in denen er gewesen ist, und holst dir die schriftlichen Antworten ab, welche alsdann bereitliegen werden. Das ist alles, mein Junge, nun zeige, was du kannst, der Lohn soll nicht ausbleiben.«

Der Junge verschwand wie ein Wiesel, und Sherlock Holmes machte sich wieder an das Studium der seltsamen Dokumente, die aus der Hinterlassenschaft des Majors Donelson stammten.

»Jetzt wird mir alles viel leichter«, meinte er, als er wohl eine Stunde lang eifrig über die Papiere gebeugt gesessen und wiederholt seine Notizen gemacht hatte. »Jetzt sehe ich klar und brauche nicht mehr zu suchen. Es ist kaum zu glauben, welche Fülle von Leidenschaft hier in diesen Schriften niedergelegt ist. Der Major hat ein wenig leichtsinnig gehandelt, aber ich bin überzeugt, dass er seine Schuld schwer büßen musste. Was muss der Mann gelitten haben! Ich werde alles mit dem jungen Donelson besprechen, und der soll auch seiner leidenden Schwester gegenüber offen sein. Er kann wiedergutmachen, was sein Vater fehlte.«

Nach diesen rätselhaften Worten packte Holmes sorgfältig die Papiere ein und übergab sie der Wirtin zur Aufbewahrung. Dann ließ er sich ein gutes Frühstück zubereiten, dessen er nach den Abenteuern der letzten Nacht bedurfte.

»Es ist ein eigenartiges Gefühl«, meinte Sherlock Holmes, als die Frau wieder hinausgegangen war und er die Schüssel heranzog, »in meinem Beruf muss man immer damit rechnen, dass man die Henkersmahlzeit hält, denn man weiß nie, ob es nicht der letzte Bissen ist, den man auf Erden genießt, da ja gerade ich speziell das Pech habe, vielen Leuten zu missfallen. Es gibt viele, die den innigen Wunsch hegen, dass endlich der gehasste und gefürchtete Sherlock Holmes vom Schicksal ereilt werde. Ich denke, so gegen Abend werde ich dem indischen Agenten einen Besuch abstatten. Aber das kann nicht eher geschehen, bis der Junge zurückkehrt. Ich muss erst wissen, was das Bürschchen ausgerichtet hat. Davon hängt alles ab, und danach muss ich handeln. Es hat keinen Zweck, wenn ich nicht die Verbrecher dazu bringe, dass sie die Maske abwerfen, und dass ich nachweisen kann, was in dem Haus geschehen ist. Das ist nun meine letzte Aufgabe, und dabei denke ich auch zu erfahren, was aus dem Diamanten des jungen Henry Donelson wurde.«

Die Zeit verging; die Entscheidung rückte näher, aber Sherlock Holmes bewahrte die gewohnte Ruhe. Es schien gar nichts zu geben, was den ungewöhnlichen Mann aus der Fassung brachte, kein Zeichen von Erregung machte sich bemerkbar. Er schritt so ruhig im Gemach auf und ab, als stände ihm durchaus kein schwerer, gefährlicher Gang bevor, während doch Sherlock Holmes in Wirklichkeit beabsichtigte, sich in den Rachen des Todes zu wagen.

Es wurde schon dunkel, als der Knabe endlich atemlos und erhitzt die Zimmertür aufriss und Sherlock Holmes mit triumphierendem Blick drei Zettel reichte.

Schweigend nahm der Detektiv die Papiere, öffnete sie und überflog den Inhalt. Dann nickte er dem Knaben freundlich zu und legte ihm die Rechte auf die Schulter.

»Das hast du gut gemacht«, sprach er anerkennend. »Wirklich ausgezeichnet. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Hat er dich auch nicht oft zu Gesicht bekommen?«

»Ich glaube, wohl gar nicht«, erwiderte der Bursche, »und wenn es wirklich einmal geschehen ist, so bin ich ihm sicherlich nicht aufgefallen. Freilich, sauer genug hat er es mir gemacht. Er war sehr vorsichtig und ließ sich vor allen Dingen Zeit, aber das ist ihm doch nicht in den Sinn gekommen, dass ich, den er höchstens für einen schmierigen Betteljungen halten konnte, ein Gehilfe des berühmten Sherlock Holmes sei. Höllisch schlau ist er, Herr, denn er hat zu seinen Besorgungen lange Zeit gebraucht. Um sieben Uhr kam er aus dem Haus, aber ich bin fest überzeugt, dass er erst eine ganze Weile im Flur gestanden und die Umgebung beobachtet hat. Sicherlich hat er auch erst aus dem Fenster gesehen, da ich einmal bemerkte, wie sich die Vorhänge etwas bewegten. Ich folgte ihm wie ein Schatten. Um zehn Uhr kaufte er den ersten Revolver, gleich nach Tisch zwischen zwölf und eins kaufte er sich zwei dieser Waffen bei einem Althändler, und um drei Uhr hat er die vierte Waffe gekauft. Unterdessen ist er fast durch ganz London gegangen und gefahren, aber ich war immer hinter ihm drein. Er konnte mir nicht entwischen. Und er hat mich gewiss nicht beachtet. Er hat sich sicherlich nur nach Männern umgesehen, nach Ihnen, Herr, das ist sicher. Er hat gefrühstückt, Mittag gegessen, aber ich habe immer geduldig gewartet, und ihn nicht eher verlassen, bis er mit seinem Paket wieder in dem alten Haus verschwand. Dann habe ich mir bei den Händlern die Antworten geholt, welche Sie erbeten haben, und dadurch ist es spät geworden. Aber Sie können sich darauf verlassen, ich habe nicht an mich gedacht und nur unterwegs ein paar Bissen Butterbrot gegessen, das ich in der Tasche hatte.«

»Brav, Junge«, sprach Sherlock Holmes nochmals, »du hast alle meine Aufträge zur vollen Zufriedenheit erfüllt. Nun springe rasch zu deiner Mutter und lasse dir ein paar belegte Brötchen geben, denn es hilft alles nichts, du musst nochmals fort und einen Auftrag ausrichten. Dann kannst du eine Weile ausruhen, bis ich deiner wieder bedarf. Ich glaube, heute Abend wird sich alles entscheiden.«

Es mochte sieben Uhr abends sein, als Sherlock Holmes das Absteigequartier verließ und plötzlich, wie immer, unvermutet auf der Straße auftauchte.

Er trug anständige Bürgerkleidung, aber seltsamerweise keine Maske. Er war eben Sherlock Holmes, und wie er so durch die Straßen schlenderte, schien es, als hätte der berühmte Detektiv nicht das Geringste vor, sondern dächte allein und einzig daran, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen.

Sherlock Holmes benutzte nur ein einziges Mal die Straßenbahn und dann nur für eine kurze Strecke. Er schien es absolut nicht eilig zu haben, und es war wohl schon 8 Uhr vorüber, als er sich in einem der ältesten Stadtteile Londons befand, in Chelsea, nahe dem Ufer der Themse.

Das war das Ufer, welches der Brücke gegenüberlag, unter welcher Sherlock Holmes in dieser Nacht sein gefährliches Abenteuer bestanden haben würde. Er schaute flüchtig hinüber zu der Stelle hin, wo jenseits des Flusses das gewöhnliche Treiben herrschte.

Da brannten die elektrischen Laternen, und beim Schein derselben sah Sherlock Holmes die Lastträger, die ungeduldig auf das Ende ihres Tagewerkes warteten.

Der Detektiv ging am Kai entlang, bis er an der Ecke einer kleinen, stillen Gasse Halt machte.

Dann ging er ein paar Schritte hinein und blieb vor einem ziemlich alten Haus stehen, welches wohl nur zum Teil vermietet war, denn verschiedene Zettel hingen daran, auf denen Wohn- und Geschäftsräume angepriesen wurden.

Dicht neben der Haustür war ein Schild angebracht, welches in ziemlich plumper Malerei einige exotische Gegenstände zeigte und darauf las man die Worte:

Arthur Garry
Agentur für den Import indischer Erzeugnisse

»Also hier ist es«, meinte Sherlock Holmes. »Wahrhaftig, das hätte mir eigentlich auch in den Sinn kommen können. Aber bei den vielen Schlupfwinkeln, die es in London gibt, und da ich im Anfang noch ganz im Dunkeln tappte, konnte ich nicht daran denken, dass sich hier der Schlupfwinkel der Banditen befinden könnte. Freilich, der Name Garry hat genügt, um das Dunkel zu erhellen, und als ich vollends im Adressbuch nachsah und erfuhr, dass Garry in diesem Haus wohnt, da waren alle übrigen Kombinationen eine Kleinigkeit. Ich treffe hier sicherlich den famosen Herrn Garry zu Hause. Im Erdgeschoss wohnt er, ganz richtig, und ich will nicht Sherlock Holmes heißen, wenn das Büro dieses Mannes sich nicht in dem Zimmer befindet, welches die Einrichtung enthält, welche jene junge Inderin erwähnte. Ja, ja, damals war es eine Niederlage, ein Magazin, und da diente das Versteck auch mal einigen Spitzbuben als Schlupfwinkel. Das ist lange her, sehr lange sogar, und die Hallunken sind sicher fest davon überzeugt, dass niemand mehr hier an diese alte Baracke denkt. So, nun werde ich mal mit diesem Herrn Garry ein Wörtchen sprechen. Ein Vorwand zum Eintreten ist bald gefunden, das soll mir nicht schwerfallen.«

Sherlock Holmes blieb noch einen Augenblick stehen und sah die Gasse hinauf und hinab, dann zuckte er die Achseln.

»Noch können sie nicht hier sein«, meinte er, »aber die Unterhaltung wird ja eine Weile dauert:, und bis dahin werden sie schon kommen. Ich habe es ihnen eilig genug gemacht. Schließlich können sie aber auch nicht eher einspringen, bis der geeignete Moment gekommen ist. Also gehen wir hinein. Ganz recht, hinten ist die Wohnung und natürlich auch das Büro, die Fenster münden nach dem Hof. Ganz vortrefflich.«

Sherlock Holmes öffnete die Haustür, ging über den Flur und setzte eine Glocke in Bewegung, die sich an einer Tür befand, an welcher in Goldbuchstaben nochmals der Name des Agenten stand.

Es dauerte eine Weile, ehe man schlürfende Schritte vernahm. Es schien erst jemand durch ein Guckloch zu sehen, und dann wurde die Tür langsam geöffnet.

Vor Sherlock Holmes stand ein hagerer Mann, der sicherlich schon bejahrt war. Haar und Bart waren fast weiß, die Augen des Mannes waren stechend und unstet, als ob der Agent kein gutes Gewissen hätte.

»Womit kann ich dienen?«, fragte er, als Sherlock Holmes ohne Weiteres in den Korridor eintrat.

»Das können wir wohl drinnen in Ihrem Büro besprechen«, gab der Detektiv kaltblütig zur Antwort, »hier ist nicht der richtige Ort dazu. Ich weiß, dass Sie indische Erzeugnisse einführen, und da ist es nicht ausgeschlossen, dass ich einiges kaufe.«

Der alte Herr schien unentschlossen zu sein, er sah bald auf Sherlock Holmes und dann wieder zu der Bürotür hinüber, die halb offengeblieben war.

»Ja, es ist aber jetzt fast gar nichts vorhanden«, meinte er endlich, »neue Sachen erhalte ich erst gegen den Herbst hin, ich habe gerade in der letzten Zeit viel verkauft, um zu räumen.«

»Nun, vielleicht ist doch noch etwas da, was ich gebrauchen könnte«, entgegnete Holmes, »im Übrigen muss ich mit Ihnen sprechen. Also bitte.«

»Ja, ich weiß wirklich nicht«, erwiderte der alte Herr, »die Bürostunden sind schon vorüber. Ich werde meinen Kompagnon fragen; vielleicht kann dieser Ihnen noch etwas zeigen. Ich selbst beschäftige mich jetzt nur mit der Korrespondenz und habe überhaupt die Absicht, das ganze Geschäft aufzugeben.«

»So, so, einen Kompagnon haben Sie auch?«, meinte Sherlock Holmes, »das wusste ich nicht. Aber Sie können ihn ja rufen.«

Man sah es dem Agenten an, dass er Sherlock Holmes misstraute. Er war vielleicht der Meinung, dass dieser Mann, der ihm natürlich völlig unbekannt sein musste, möglicherweise von der Polizei käme. Holmes machte seiner Unschlüssigkeit bald ein Ende.

»Ich glaube, Ihr Kompagnon heißt Hopkins«, sprach der berühmte Detektiv, »ich müsste mich sehr täuschen, wenn das nicht der Fall wäre. Sie wundern sich, dass ich das weiß? Nun, man hört ja so manches, und Ihr Kompagnon ist ja ein sehr tüchtiger Mensch, der seine Befähigung bereits bewiesen hat, allerdings in einer Weise, die nicht gerade allgemeine Sympathie findet. Kommen Sie, mein Herr, führen Sie mich in Ihr Büro, ich habe in der Tat Wichtiges mit Ihnen zu besprechen. Es ist eine dringende Sache, der Sie sich gar nicht entziehen können.«

»Mein Herr«, erwiderte der Agent, indem er sich aufrichtete, »ich kenne Sie nicht und muss mich deshalb über Ihre Worte außerordentlich wundern. Das klingt fast, als ob ich mich einer Art Verhör unterziehen sollte. Jetzt muss ich dringend um Ihren Namen bitten.«

»O, gewiss, sehr gern«, entgegnete der Detektiv lächelnd, »gehen Sie nur und sagen Sie Ihrem Kompagnon, Sherlock Holmes wäre hier. Er wird schon wissen, wer das ist. Ich bezweifle nicht, dass er alsbald herbeieilen wird, um mich zu begrüßen. Zunächst können wir beide miteinander reden. Meinen Namen wissen Sie nun, und ich glaube fast, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass Sie denselben bereits kannten. Wenigstens dürfte Ihnen Ihr Kompagnon – Sherlock Holmes betonte das Wort spöttisch – einiges von mir erzählt haben.«

Es war interessant, das Gesicht des Agenten zu beobachten. Anfangs hatte er die äußerste Überraschung verraten, denn er war ohne Zweifel über die Kühnheit des Detektivs starr gewesen. Nun aber zeigte es sich, dass er auch einen guten Teil Selbstbeherrschung besaß. Genug, er stieß die Bürotür vollends auf und ließ Holmes eintreten.

Man sah auf der Stelle, dass dieser Raum seither ein Magazin gewesen war. Die Decke war gewölbt und die vordem wohl kahlen Wände nun mit einer schlechten, gelben Tapete bekleidet.

Man sah einige Sessel, einen auffallend großen Schreibtisch, vor dem ein ziemlich großer indischer Teppich in schreienden Farben die ziemlich arg mitgenommenen Dielen bedeckte.

Die Wände waren drapiert und mit allerhand Erzeugnissen aus dem Wunderland Indien dekoriert. Da hingen bunte Schals und eine ganze Anzahl älterer Waffen, wie sie in Indien zum Export gebracht werden, daneben grinsten ein paar geschnitzte bunte Götzenbilder herab.

Sherlock Holmes, der alles sah, gewahrte, dass keine baulichen Veränderungen vorgenommen worden waren. Er hatte diesen Raum als Magazin zwar einmal vor sechs oder sieben Jahren betreten, aber sein Gedächtnis war erstaunlich. Und so fand er sich sofort zurecht, als ob er sich erst vor wenigen Tagen hier aufgehalten hätte.

Außer der Tür zum Korridor befanden sich in dem Raum noch zwei Ausgänge. Der eine etwas rechts vom Schreibtisch, wurde durch eine hinter einem Teppich verborgene Tür versperrt. Der zweite Ausgang war zur Linken, und dort wallte ein großer, grüner Vorhang herab, der die Tür bedeckte.

Sherlock Holmes hatte sich sofort auf einen Sessel niedergelassen und heftete seinen durchdringenden Blick auf den Schreibtisch und auf den bunten Teppich, der vor demselben auf dem Boden lag. Gerade dieser Teppich schien den Detektiv ungemein zu interessieren.

»Ich will wenigstens Mr. Hopkins von Ihrer Anwesenheit benachrichtigen«, meinte der Agent, »Sie entschuldigen wohl einen Augenblick, Mr. Holmes.«

»Sehr gern«, antwortete der Detektiv kaltblütig, »bitte, ich warte.«

Der Agent ging sichtlich aufgeregt zur Tür rechts hinüber und öffnete dieselbe. Er trat hinaus, blieb aber dicht hinter der Tür stehen. Sherlock Holmes vernahm deutlich ein Flüstern.

»Ganz, wie ich es mir dachte«, murmelte der Detektiv, »Hopkins wird jetzt wissen, dass ich hier bin und ist vollständig überrascht. Er versucht sich aber zu fassen. Es wäre die größte Dummheit gewesen, wenn ich die Polizei mitgebracht hätte, die Gesellschaft würde sicherlich Zeit gefunden haben, jedes Verdächtige zu entfernen, denn sie sind sicher auf ihrer Hut.«

Das Flüstern hinter der Tür dauerte einige Minuten, dann kam der Agent zurück, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich auf den dahinterstehenden Sessel nieder.

»Mein Kompagnon sagt allerdings, dass er Sie flüchtig kennt«, meinte Garry mit erzwungener Höflichkeit, »es ist möglich, dass er nachher kommt. Bitte, sagen Sie mir doch, womit ich Ihnen dienen kann.«

»Nun, ehe wir das eigentliche Geschäftliche berühren, möchte ich eine Frage an Sie richten, Mr. Garry«, begann Sherlock Holmes, der sich scheinbar hier ganz behaglich fühlte. »Ich habe aus Verschiedenem, was ich hörte und sah, erfahren, dass Sie einen alten Inder und dessen junge Verwandte bei sich aufgenommen haben.«

»Ja, warum sollte ich denn nicht?«, erwiderte der Agent. »Ich weiß zwar nicht, wer Ihnen das gesagt hat, aber da ist doch nichts Auffälliges dabei? Ich habe selbst lange Jahre in Indien gelebt, und meine verstorbene Frau war eine Inderin. Da ist es kein Wunder, wenn ich den beiden Leuten, die ich zufällig elend und mittellos entdeckte, eine Unterkunft gewährte. Das war doch nur menschlich gehandelt.«

»In der Tat«, erwiderte Sherlock Holmes, »wenn es sich nur darum handelte, den Samariter zu spielen, wäre das sehr edelmütig gewesen. Aber sagen Sie mal, Mr. Garry, womit gedenken Sie sich denn Ihre edle Handlungsweise eigentlich bezahlen zu lassen?«

»Ich mich bezahlen lassen? Womit denn?«, lautete die Gegenfrage. »Die Leute haben ja nichts. Sie verdienen sich etwas Geld durch Vorführung von Gaukelkünsten, aber ich werde noch aus meiner Tasche zugeben müssen, damit sie die Heimreise nach Indien antreten können.«

»Ach so, Sie wollen etwas auslegen?«, versetzte Sherlock Holmes, »freilich, das Bargeld mangelt, obwohl der Inder bei seinen Schaustellungen ganz hübsch verdient. Der Mann hat in den letzten Wochen seine Künste nicht zum Besten gegeben?«

»Es ist mir unerfindlich, weshalb Sie sich darum bekümmern?«, fragte Garry, »ich habe auch keine Lust, mit meinen Wohltaten zu prahlen. Genug, das Mädchen war krank, und da ist der Alte bei seiner Verwandten geblieben. Sie machen mir nicht viel Mühe und sind ruhig und bescheiden. Und ich will es ihnen ermöglichen, dass sie binnen Kurzem in ihre geliebten Heimat zurückkehren.«

»Umsonst wollen Sie das tun?«, hakte Sherlock Holmes lächelnd nach. »Wissen Sie, Mr. Garry, ich will Ihnen mal was sagen. Sie sind ein Mann, dem man bisher über sein Vorleben keine Vorwürfe machen kann. Aber ich glaube, die Vereinigung mit Ihrem Kompagnon dürfte Ihnen gerade kein Glück für die Zukunft bringen. Und dann glaube ich auch, dass Sie sich den Rücktransport der beiden Inder recht teuer bezahlen lassen werden.«

»Was soll das heißen, was bedeutet das?«, rief Garry emporspringend, »es tut mir sehr leid, Mr. Holmes, aber ich kann mich mit Ihnen nicht weiter unterhalten, auch nicht geschäftlich. Es dürfte am besten sein, wenn wir die Unterredung auf der Stelle abbrechen.«

»Das ist Ihr Wunsch, aber nicht der meine«, erwiderte Sherlock Holmes, der, während er sprach, Garry unablässig auf die Finger blickte und wohl sah, dass der Agent mit den Fingern der linken Hand nervös auf der Schreibtischplatte hin und her fuhr. »Das mag ja wohl sein, aber ich gedenke, die Unterredung noch fortzusetzen. Und da möchte ich Sie denn fragen, ob Sie wirklich nur aus purer Wohltätigkeit, aus Edelmut und Güte, die beiden Inder heimsenden wollen.

Wissen Sie, an was ich denke, Mr. Garry? Ich denke, Sie wollen sich die Überfahrt zumindest mit einem der beiden Donelsonschen Diamanten bezahlen lassen.«