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Der Detektiv – Band 28 – Das Rätsel des Indischen Ozeans – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Das Rätsel des Indischen Ozeans

Teil 1

Wer Indien bereist und sich die größte Moschee der Welt die Dschama Masdschid in Delhi, nicht ansieht, versäumt das Imposanteste, was es an orientalischen Baudenkmälern überhaupt gibt.

Wir hatten die Dschama Masdschid soeben zum dritten Mal auch innen besichtigt. Zum dritten Mal, und doch waren wir genau so hingerissen von der Wirkung dieser Überfülle von architektonischer Schönheit wie beim ersten Mal. Wir standen nun und schauten zurück auf diesen großartigen Prachtbau, nahmen stumm Abschied davon, denn am anderen Morgen wollten wir weiter nach Norden, nach Nepal hinein, um uns den höchsten Berg der Welt, den Gaurisankar, aus nächster Nähe anzusehen.

Die Freitreppe hinaus stürmte nun eine Schar von kleinen, braunen Zeitungsverkäufern. Es war gegen halb fünf nachmittags, und soeben mussten die zwölf in Delhi erscheinenden Tageszeitungen zur Verteilung gelangt sein.

Heulend und brüllend wie eine Horde Teufel sauste die kleine Bande die Stufen empor, drängte sich an die zahlreichen Touristen heran, schrie ununterbrochen den Namen ihres Blattes aus und sofort anschließend den Titel irgendeines Sensationsartikels, der die Kauflust und die Neugier anregen sollte.

»Delhi-Post! … Delhi-Post! … Das Neueste über die Thugs … die Thugs!«

Harst wurde gleichzeitig mit mir auf den braunen Knirps aufmerksam, der gellend diese Worte kreischte und dazu eine Nummer der Delhi-Post in der rechten Hand schwenkte.

»Hast du gehört?«, fragte Harst. »Das Neueste über die Thugs? Hm – wer weiß, was da wieder so ein fantasievoller Redakteur zusammengefabelt hat. Kaufen wir ein Blatt. Man kann nie wissen …« Er führte den Satz nicht zu Ende, rief den Knirps herbei und breitete dann die Zeitung auseinander, indem er sich an die Sandsteinbrüstung der Treppe lehnte.

»Aha – hier ist der Artikel schon!«, meinte er dann. »Ich werde vorlesen.«

Vor kaum einer Woche vergiftete sich, wie unseren Lesern noch erinnerlich sein wird, eine Europäerin, Mistress Bellingson, die Witwe des Brahmanen Javisindra, des einstigen Oberhauptes der Mördersekte der Thugs. Dank der Hilfe des weltberühmten Liebhaberdetektivs Harald Harst gelang es dann auch, die letzten Mitglieder dieser Sekte zu verhaften und für immer unschädlich zu machen. Wenigstens nahm man bis heute an, dass nicht ein Einziger der Thugs sich noch in Freiheit befände. Nun aber ist in Madras, wie uns unser dortiger Korrespondent drahtet, ein Mord verübt worden, bei dem offenbar ein Thug als Täter infrage kommt. Einzelheiten können wir über dieses Verbrechen heute noch nicht bringen, da es erst heute früh entdeckt wurde. Das Opfer dieser Untat ist einer der Privatdetektive Lord Edward Wolpoores, der bekanntlich von jener Mistress Bellingson andauernd durch Attentate schwer bedroht wurde und sich deshalb eine eigene Leibwache von 20 Detektiven hielt, die er nun wohl abgeschafft hätte, da seine hartnäckige Todfeindin endlich sich selbst gerichtet hat. Der ermordete Detektiv heißt Robinson Campell und ist ein geborener Irländer. –Sollte es sich bestätigen, dass hier abermals ein Thug aus religiösem Fanatismus einen Europäer mit der geweihten Schlinge erdrosselt hat, so dürfte unsere Polizei nicht eher sich zufriedengeben, bis sie auch die allerletzten dieser gefährlichen Anbeter der Blutgöttin Kali der irdischen Gerechtigkeit überliefert hat. Es wäre dankbar zu begrüßen, wenn Herr Harald Harst, der ja noch hier in Delhi weilt, sich dieser Sache annehmen wollte. Soweit uns bekannt, ist Lord Edward Wolpoore mit dem deutschen Meisterdetektiv befreundet und gerade Seiner Lordschaft wird viel daran liegen, dass zunächst festgestellt wird, ob es sich hier wirklich um einen Mord handelt, der auf das Konto der Thugs kommt. Sollte sich dies bestätigen, so müsste Seine Lordschaft nach wie vor sich auf jede nur mögliche Weise vor den Nachstellungen dieser wahnwitzigen Fanatiker zu schützen suchen, die ihm und allem, was Wolpoore heißt, den Tod geschworen haben.

Harst faltete die Zeitung wieder zusammen und schaute mich ernst und nachdenklich an, sagte dann: »Eine böse Neuigkeit für Freund Wolpoore! Er wird dadurch schwer beunruhigt worden sein. Als wir ihm vorgestern hier auf dem Bahnhof Lebewohl sagten, war er so froh und heiter, da nun endlich der ewige Alpdruck dieser drohenden Attentate von ihm genommen war. Hm – der Zeitungsschreiber hätte sich den an meine Adresse gerichteten zarten Wink, der Polizei so etwas zu helfen, den Mörder schleunigst unschädlich zu machen, sparen können. Es ist selbstverständlich, dass ich schon in Wolpoores Interesse sofort nach Madras reise. Ich glaube, abends um 8 Uhr geht ein Schnellzug nach Allahabad. Dann könnten wir übermorgen früh in Madras sein.«

Wir stiegen die Freitreppe vollends hinab und begaben uns zu dem Exzelsior-Hotel, um sofort unsere Koffer zu packen. Kaum hatten wir damit begonnen, als ein Kellner uns eine an Harst gerichtete Depesche brachte. Der Absender war Lord Wolpoore. Das Telegramm lautete:

Heute früh bei Eintreffen in Madras mit Nachricht empfangen, dass einer meiner Detektive vor einer Stunde in einem Gehölz erdrosselt aufgefunden. Drei Stunden später in meinem Privatkontor eine neue, mich sehr erregende Entdeckung unheimlichster Art. Herzliche Bitte, sofort hierher zu kommen. Auf meine Kosten Extrazug unter Berufung auf mich bestellen. Können dann morgen Abend hier in Madras. Gruß Ihr alter Wolpoore.

Harst hatte das Telegramm überflogen und mir dann gereicht.

»Na – was hältst du davon?«, meinte er. »Extrazug! Das sagt genug! Wolpoore muss in furchtbarer Angst schweben, wahrscheinlich infolge dieser unheimlichen Entdeckung. Ich fürchte, wir haben hier doch nicht alle Thugs erwischt, und die Bande will nun natürlich desto eifriger Wolpoore ans Leben, um den Tod der Bellingson zu rächen. Auch wir haben daher allen Grund, recht vorsichtig zu sein. Wir waren es ja, die Maria Bellingson entlarvten. Und deshalb werden die Thugs auch mit uns abrechnen wollen.«

Er schob die Depesche in die Tasche. »Du kannst hier weiter packen,« fügte er hinzu. »Ich will inzwischen mal mit dem Bahnhofsvorstand des Extrazuges wegen telefonieren. Es wäre das erste Mal, dass wir auf so ganz vornehme Art reisten, mein Alter. Auf Wiedersehen also.«

Er verließ das Zimmer. Wenige Minuten später klopfte es. Es war derselbe Kellner, der vorhin schon die Depesche gebracht hatte. Er hielt jetzt abermals ein Telegramm in der Hand; wieder ein für Harst bestimmtes.

Ich riss es auf und las:

Madras, Nelson-Platz 12. Dringende Bitte einer Ihnen Unbekannten, Mord an Robinson Campell aufklären zu helfen. Bin anderer Meinung als Polizei. Lydia Faringdall als Braut Campells.

Ich starrte auf die Depesche hin. Als Braut …! Arme Lydia! Und anderer Meinung als die Polizei?! Das versprach ein sehr interessanter Fall zu werden.

Gleich darauf trat Harst wieder ein.

»Erledigt, mein Alter,« sagte er lebhaft. »Um 7 Uhr reisen wir mit Extrazug ab – Maschine und Salonwagen. Wolpoores Name tat Wunder. Die Sache kostet die Kleinigkeit von 800 Pfund Sterling.«

Ich hielt ihm die Depesche der Miss Lydia Faringdall hin.

»Wie – noch ein Telegramm?!«, rief er. Als er es gelesen hatte, schüttelte er langsam den Kopf. »Ich glaube, dieser Mord wird nicht ganz leicht aufzuklären sein. Von hier aus gesehen erscheint alles recht verzwickt. Eine Braut, die anderer Ansicht als die Polizei ist, dürfte wohl stets an ein Eifersuchtsdrama denken! Ja, wo Liebe mitspielt, ist die Sachlage stets verworrener, als wenn lediglich andere Tatmotive infrage kommen. Beeilen wir uns jetzt. Wir müssen pünktlich um 7 Uhr auf dem Bahnhof sein. Ich will jetzt sofort auch noch an Wolpoore depeschieren, dass wir morgen Abend in Madras sind, dass er aber so tun soll, als käme ich nicht. Es ist sicherer, wenn wir dort wieder inkognito arbeiten.«

Die Depesche an den Land ging eine halbe Stunde später ab. Harst hatte sie vorsichtigerweise selbst zum nahen Postamt gebracht.

Gegen zehn Uhr abends durchfuhren wir die drittletzte Station vor Madras, ein armselige Städtchen. Es war bereits dunkel. Über uns stand ein Gewitter, das dann einen wahren Wolkenbruch herabsandte. Es regnete derart, wie es eben nur in den Tropen regnen kann. Unser Lokomotivführer mäßigte nun die Geschwindigkeit. Bei solchen Wolkenbrüchen kommen in Indien nur zu leicht Unterwaschungen des Schienenstranges vor.

Wir hatten das eine Fenster des Salonabteils ganz heruntergelassen und schauten in die pechfinstere Nacht hinaus. Wenn ein Blitz aufflammte, konnten wir die Umgebung einigermaßen deutlich unterscheiden.

Als gerade ein neuer Blitz das schwarze Firmament zerriss, kreischten plötzlich die Bremsen. Mit einem Ruck hielt unser Extrazug.

»Aha – Fahrthindernis!«, meinte Harst. »Es wäre recht unangenehm, wenn wir hier aussteigen und die letzte Strecke etwa mit einem Wagen zurücklegen müssten.«

Der eingeborene Schaffner, ein Hindu, trat ein.

»Sahib,« meldete er Harst. »es wurde soeben von einem Bahnwärter durch Schwenken einer roten Laterne das Haltesignal gegeben. Der Regen hat den Damm vor uns weggerissen. Der Bahnwärter erklärt, vor morgen früh könnten wir nicht weiter.«

»Ist ein Dorf in der Nähe?«, fragte Harst.

»Nein, Sahib. Nur ein einzelnes Gehöft.«

»Ob man dort einen Wagen erhalten kann?«

»Ich bin hier unbekannt, Sahib. Ich werde den Bahnwärter holen.«

Dieser, ebenfalls ein Hindu, machte uns Hoffnung, dass der Besitzer des Gehöfts einen Wagen und ein paar Pferde besäße.

Inzwischen hatte sich das Gewitter verzogen. Wir stiegen aus und wanderten zunächst mal nach der unterwaschenen Stelle des Bahnkörpers, die etwa 50 Meter vor uns lag. Der Mond leuchtete uns nun genügend. Wir sahen, dass ein Wasserrinnsal zwischen zwei Hügeln hervorkam und gerade gegen den Damm flutete, der etwa sechs Meter breit weggerissen war, sodass die Schienen in der Luft schwebten.

Während der Bahnwärter mir auseinandersetzte, weshalb der Schaden nicht so schnell auszubessern sei, schritt Harst scheinbar zwecklos hin und her, bückte sich auch verschiedentlich tief herab und schaltete ebenso oft seine Taschenlampe ein, mit der er den Boden dann ableuchtete.

Als wir zu unserem Zug zurückkehrten, fragte ich Harst, weshalb er denn für die Umgebung des Bahnschadens so reges Interesse gehabt hätte.

»Lediglich des Erdreichs wegen. Einen so hellroten Ton wie an jener Stelle findet man nicht oft. Die Tonschicht liegt kaum 30 Zentimeter tief. Das angesammelte Wasser sah wie Farbe aus.«

Damals nahm ich diese Antwort für bare Münze. Und doch enthielt sie wieder eine jener Verschleierungen des eigentlichen Sachverhalts, in denen Harst so großes leistet, wenn er einen in ihm aufgestiegenen Verdacht verheimlichen will.

Der Schaffner trug uns dann den einen Koffer; den anderen schleppten wir gemeinsam. Der Bahnwärter hatte uns die Richtung angegeben, wo in einem fernen Gehölz das Gehöft des Indigopflanzers Bera Dangschi lag. Nach zehn Minuten standen wir vor der Tür eines sauberen Wohnhauses, klopften den Inder heraus und fragten, ob wir gegen gute Bezahlung einen Wagen bekommen könnten.

Der Mann war sehr höflich, ließ uns eintreten und bedeutete uns dann, dass ein Händler aus Madras vor dem Gewitter hier Zuflucht gesucht habe, nun aber wohl seine Fahrt fortsetzen würde.

Bera Dangschi führte uns auf den Hof seines Grundstücks, wo unter einem offenen Schuppen ein zweiräderiger Karren mit einem hochbeinigen Braunen bespannt hielt. Der Händler selbst lag im Wagenkasten auf mehreren Säcken und schnarchte. Es war ein alter, schmutziger Hindu mit zotteligem Bart, und es kostete uns dann viele Worte, ehe er sich bereitfand, uns mitzunehmen. Der Kerl war so maulfaul, dass er nicht mal sich bedankte, als Harst ihm im Voraus 200 Rupien bezahlte – eine Summe, die für die verlangte Leistung viel zu hoch war.

Wir verstauten unsere Koffer hinten im Wagenkasten, stapelten die Säcke anders auf, damit wir bequem sitzen konnten, und dann ging es hinauf auf die elende, aufgeweichte Landstraße, die hier zumeist zwischen Indigofeldern hindurchführte.

Der Händler war ein mohammedanischer Inder namens Ibrahim ben Mofla. Er hockte vorn auf dem Sitzbrett und kümmerte sich nicht im Geringsten um uns. Der Gaul war kräftig und ging in flottem Trab. Wir wurden in dem Karren ordentlich durchgeschüttelt. Nach dieser Luxusfahrt im Extrazug empfand ich die Stöße und Püffe desto unangenehmer.

Harst rauchte schweigend eine Zigarre und schaute verträumt in die Mondlandschaft hinaus. Nach einer Stunde gelangten wir auf felsigen Boden. Vor uns hatten wir nun eine kahle Hügelkette.

Wir bogen in einen Hohlweg ein. Die Straße stieg jetzt recht steil an. Dann gelangten wir auf ein steiniges Plateau.

Der brummige Alte drehte sich plötzlich nach uns um.

»Ich muss noch von dort zwei Säcke abholen,« sagte er unfreundlich und zeigte mit der Peitsche nach links, wo wir undeutlich etwas wie ein Haus wahrnahmen.

Der Karren rumpelte darauf zu, hielt dann vor einem halb verfallenen Bauwerk, das mehr der Ruine eines kleinen Tempels als einem Wohnhause glich. Hinter einem Fenster mit völlig erblindeten Scheiben schimmerte Licht. Der Händler kletterte vom Bock herab und pochte gegen das Fenster.

Rechts davon gab es eine Steintreppe mit ein paar Stufen, die zu einer breiten Flügeltür emporführten. Endlich tat diese sich auf. Es erschien ein kleiner, stämmiger Inder, der einen Sack auf dem Rücken trug.

Der Händler schnauzte den Mann grob an. Was er sagte, war nicht zu verstehen.

Der Sack flog dann in den Wagenkasten, aber so ungeschickt, dass er Harst halb über den Schoß zu liegen kam.

Nein – es war nicht Ungeschicklichkeit des Trägers gewesen! Es war raffinierteste Berechnung! Das erkannten wir zu spät.

Harst war nun für ein paar Sekunden so gut wie wehrlos. Und darauf war es abgesehen gewesen.

Ganz unvermutet erhielt ich einen Schlag von hinten gegen den Kopf, einen so wuchtigen Schlag, dass ich ein paar Minuten halb das Bewusstsein verlor. Bevor ich mich noch zur Wehr setzen konnte, rissen die beiden Halunken mich auf die Erde herab und banden mir die Arme auf dem Rücken zusammen. Der Hieb, mit dem Harst bedacht worden war, musste wohl noch kräftiger gewesen sein, denn Harald kam erst wieder zu sich, als die Kerle uns schon in einen Keller der Ruine geschleppt hatten, wo sie uns nebeneinander an die Mauer fesselten, sodass wir aufrecht mit seitwärts erhobenen Armen dastehen mussten.

All das hatte sich so schnell abgespielt, dass ich mir über die Gefahr, in der wir nun schwebten, erst klar wurde, nachdem der Händler, der ja fraglos kein Händler war, uns höhnisch zugerufen hatte: »Denkt an Maria Bellingson, Ihr ungläubigen Hunde! Wir werden Euch hier verhungern lassen, bis Ihr um Gnade winselt und dann sollen Eure Seelen der Göttin Kali als Niedrigste aller Sklaven dienen.«

Kali! Also wirklich – es waren Thugs! Von diesen Mördern, die in jeder Erdrosselung eines Menschen ein frommes Werk erblickten, hatten wir keine Gnade zu erwarten!

Bevor ich diese Gedanken noch recht ausgedacht hatte, verschwanden die beiden Thugs, von denen einer eine Laterne in der Hand hatte, aus dem Keller und ließen uns in nachtschwarzer Finsternis zurück.