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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 3 – Kapitel 4

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Dritte Episode
Der Bildhauer von Menschenfleisch

Kapitel 4

Ein Rückkehrer

Wenige Monate vor Joë Dorgans Verschwinden hatte die vornehme Mrs. Griffton, die in New York eine gut gehende Pension führte, eine bittere Enttäuschung erlebt.

Ein Chemikalienhändler – zumindest gab er sich als solcher aus – hatte sich mit falschen Versprechungen einen Kredit für einige Wochen erschlichen. Dann war er plötzlich an einem Samstag verschwunden, genau an dem Tag, an dem er seine Rechnung begleichen sollte, und seitdem hatte niemand mehr etwas von ihm gehört.

Eine ganze Woche lang hatte Mistress Griffton das Esszimmer der Pension mit ihrem Gejammer erfüllt.

»Was für ein Betrüger!«, schimpfte sie über ihren Gast, »eine Schande, mein Vertrauen so zu missbrauchen, das ist eines treuen Yankees unwürdig!«

Und sie schloss tränenreich: »Ich habe soeben eine Lektion gelernt, die ich anwenden werde; ich werde nie wieder jemandem Kredit geben, das schwöre ich feierlich.«

Mistress Griffton hätte sich vielleicht mit dieser Enttäuschung abgefunden, wenn nicht einige ihrer Kunden sie mit boshafter Beharrlichkeit daran erinnert hätten, dass der flüchtige Schuldner eine unleugbare Ähnlichkeit mit dem berühmten Baruch Jorgell, dem Mörder eines französischen Chemikers, aufwies. Man breitete vor ihr wie zum Vergnügen die Nummern der Zeitungen und Zeitschriften aus, in denen das Foto des Mörders abgedruckt war.

»Sehen Sie, Mademoiselle«, sagte man ihr immer wieder, »Sie haben eine großartige Gelegenheit verpasst, eine Belohnung von mehreren tausend Dollar zu kassieren«.

»Sie glauben also, dass dieser friedliche junge Mann der Mörder von Monsieur de Maubreuil und der Dieb der Diamanten ist?

»Wir sind uns ganz sicher«, rief der Chor der Internatsschüler, »sehen Sie sich sein Porträt an.«

Und tatsächlich gab es eine perfekte Ähnlichkeit zwischen dem berüchtigten Mörder und dem säumigen Schuldner …

Nach reiflicher Überlegung entschloss sie sich, zur Polizei zu gehen und eine ordentliche Aussage zu machen. Sie erwartete, für ihren Eifer gelobt zu werden. Zu ihrer Überraschung wurde sie vom Chef der Kriminalpolizei unfreundlich empfangen.

»Mistress«, rief er wütend, »Sie hätten sich die Mühe gleich ganz sparen können. Sie hätten heute nicht kommen dürfen. Was haben Sie sich dabei gedacht? Sie haben jeden Tag einen Schurken am Tisch, dessen Kopf sein Gewicht in Gold wert ist, Sie bemerken sogar ganz naiv, dass er dem Porträt in allen Zeitungen gleicht, und kommen erst auf die Idee, zu mir zu kommen, als der Vogel weggeflogen ist? Wirklich, das ist unverzeihlich!«

»Aber das wusste ich nicht! Denken Sie, Mister, wenn ich das hätte voraussehen können … Ich habe ihm sogar Glauben geschenkt …«

»Sie sind dumm! Und er hat Sie natürlich nicht bezahlt?«

»Nein, Mister!«

»Sie sind auch zu naiv, er hat gut gehandelt, Sie bekommen, was Sie verdienen. Der Mörder ist jetzt auf dem Weg ins Ausland oder hat sich in irgendeinem abgelegenen Winkel versteckt, wir werden ihn nicht mehr finden!«

Als der Detektiv die Pensionswirtin hinausbegleitete, fügte er mit ungnädiger Miene hinzu: »Die Spur ist verloren, diesmal wirklich verloren, und zwar durch Ihre Schuld. Ich freue mich, Sie bald wiederzusehen, Mistress!«

Sie war in sehr schlechter Stimmung, als sie zum Haus zurückkehrte.

Dennoch war Mistress Grifftons Schritt nicht ganz umsonst gewesen.

Ihre Aussage wurde in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht, und das brachte einen ganzen Schwarm von Reportern ins Haus, die wissen wollten, was der berühmte Baruch Jorgell aß, welche Gewohnheiten er hatte, welche Spiele er spielte und welche Tabakmarke er bevorzugte.

Die Zeitungen waren begierig auf detaillierte Informationen und veröffentlichten ein Ganzkörperporträt von Mrs. Griffton sowie Fotos des Besucherzimmers und des gemeinsamen Esszimmers.

Nach den Reportern und Hobbydetektiven kamen die Schaulustigen. Es war ein nicht enden wollender Strom von Schaulustigen, die das Zimmer des berühmten Verbrechers besichtigen und dort sitzen wollten, wo er seine Mahlzeiten einnahm. Das Haus war immer voll.

Mit dem Erfolg hatte die Frau in ihren eigenen Augen eine neue Bedeutung erlangt. Im Salon, wo sie allabendlich die Unterhaltung ihrer Gäste leitete, saß sie in ihrem Sessel neben dem Klavier mit der Miene einer echten Grande Dame; jetzt willigte sie erst nach langem Bitten ein, den neuen Gästen die hundertfach wiederholte Geschichte von dem Mörder Baruch Jorgell zu erzählen, der zweifellos gekommen war, um sie zu töten.

»Alles in allem«, schloss sie, »bin ich nur durch den Schutz der Vorsehung dem Tod entronnen.«

Die Zuhörer erschauderten bei dem Gedanken an die Gefahr, in die sie sich begeben hatte.

Für sie war die Lektüre der Zeitungen mit ihren spannenden Berichten über Verbrechen, Selbstmorde und Lynchmorde, in denen die blühende Fantasie der Reporter nicht mit Unwahrscheinlichkeiten geizte, der feierlichste Moment des Tages.

Aber es war klar, dass Mistress Griffton bald selbst eine Hauptrolle in einer dieser Kriminaltragödien spielen würde, die eine so starke Anziehungskraft auf sie ausübten.

Eines Abends saß Mrs. Griffton an ihrem gewohnten Platz zwischen Klavier und Teetisch und las einen langen Artikel über Joë Dorgan, dessen Leiche noch immer nicht gefunden worden war, als die elektrische Klingel an der Außentür mit schnellen Schlägen ertönte.

»Toby«, befahl Mistress Griffton dem Diener, der gerade Tee und Kekse servierte, »mach die Tür auf. Lass die Person herein, vorausgesetzt, sie sieht respektabel aus.«

»Jawohl, Mistress!«

»Ich weiß nicht«, fügte sie hinzu, »wer um diese Zeit hier sein kann.«

Toby lief los.

Er kam fast augenblicklich zurück, mit bleichem Gesicht und einem entsetzlichen Zittern am ganzen Körper.

»Was ist los?«, fragte Mistress Griffton majestätisch.

»Herrin, Herrin!«, stammelte der Stewart mit unartikulierter Stimme.

»Was ist los?«

»Mistress…«, wiederholte Toby erschrocken.

Der arme Teufel war so erschrocken, dass ihm nichts anderes zu entlocken war.

Mistress Griffton war gerührter, als sie zugeben wollte.

»Etwas Ungewöhnliches geht hier vor sich«, flüsterte sie, »ich muss selbst nachsehen, welcher Eindringling Toby so erschreckt hat.«

Um ihre Selbstbeherrschung zu demonstrieren, faltete sie langsam ihre Zeitung zusammen, setzte ihre Brille auf und ging zielstrebig zur Tür.

Sie hatte keine Zeit, in den nächsten Raum zu gehen, denn sie wurde beinahe von einem Mann umgerannt, der in schmutziger, schäbiger Kleidung und mit verwirrtem Blick in den Besucherraum stürmte. Er warf ihr einen flehenden, entsetzten Blick zu.

Der Neuankömmling hatte den Kopf erhoben und stammelte unverständliche Worte; sein knochiges, ausgemergeltes Gesicht trat ins Licht.

Mistress Griffton und mit ihr alle Anwesenden hatten einen langen Schrei des Entsetzens ausgestoßen. Eine alte Dame fiel in Ohnmacht, andere verbarrikadierten sich hinter dem Klavier, und Toby war bereits unter einem Tisch verschwunden.

»Baruch Jorgell!«, rief jemand inmitten des unbeschreiblichen Lärms. »Das ist er! … Wie kann er es wagen, hierher zu kommen? … Er wird uns alle töten! … Hilfe! … Mörder!«

Mistress Griffton war für einen Moment wie gelähmt, aber in der allgemeinen Panik war sie die erste, die ihren Mut wiederfand und mit bewundernswerter Kaltblütigkeit die Notwendigkeit der Situation erkannte.

»Meine Damen und Herren«, befahl sie mit donnernder Stimme, »wir müssen die Türen schließen und den Mörder unschädlich machen, bevor er seine Waffen einsetzen kann.«

Baruch Jorgell wirkte keineswegs furchteinflößend. Er sah sich weiterhin mit einem unbewussten und vagen Blick um, als wäre er plötzlich vom Mond in das Wohnzimmer des Hauses gefallen.

Als Frau Griffton ihre kräftige, tröstende Stimme erklingen ließ, fassten auch die Unnahbarsten wieder Mut. Im Nu wurde Baruch, der keine Anstalten gemacht hatte, sich zu wehren, von zehn starken Armen gepackt.

Er wurde auf den Boden geworfen, mit Vorhanggürteln gefesselt und auf einen Sessel gesetzt, ohne dass er aufhörte, benommen und dumpf mit den Augen zu rollen.

Alle Anwesenden brachen nach dieser glänzenden Gefangennahme in triumphales Hurra aus.

Mistress Griffton strahlte vor Freude und Stolz.

»Nun, Toby«, sagte sie mit bewundernswerter Einfachheit, »hole zwei Polizisten.«

Ich werde mich tapfer rächen, dachte sie. Als ich zu ihm ging, um ihm Informationen zu bringen, empfing er mich sehr unfreundlich. Jetzt werden wir sehen, was er sagt.

Sie betrachtete den elenden Mann im Sessel, dessen Augen nun von Tränen geschwollen waren, mit ihren Augen wie einen Schatz.

»Das ist er«, flüsterte sie, »ich erkenne ihn wieder, aber er scheint den Verstand verloren zu haben; er sieht dumm aus; es ist eine Strafe Gottes, wahrscheinlich hat ihm die Reue den Kopf verdreht«.

Die Bewohner des Hauses bildeten nun einen großen Kreis um den Mörder, den sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Das war also der gerissene Bandit, der mit Verbrechen überhäufte Mörder, der die Polizei beider Welten auf den Plan gerufen hatte! Im Sprechzimmer herrschte tiefe Stille.

Trotz des Ernstes der Lage konnte Mistress Griffton nur mit Mühe ein zufriedenes Lächeln verbergen.

Wie das Milchmädchen, von dem der Fabeldichter spricht, zählte sie sich alle Gewinne und Vorteile auf, die ihr ein Fang dieser Größenordnung bringen würde.

An erster Stelle stand die Belohnung, die eine große Summe Geld in ihre Kasse spülen würde, dann die wachsende und natürlich kostenlose Werbung für das Mietshaus, aber all das war nur ein kleiner Teil des Ruhms, der sich daraus ergeben würde, die Gesellschaft von einem Verbrecher dieser Größenordnung befreit zu haben. Sie sah ihr Porträt bereits an prominenter Stelle neben dem von Baruch Jorgell.

Im Nachhinein kam ihr der Gedanke, dass es für künftige Interviews vielleicht gut wäre, ein erstes Gespräch zu führen, bevor die Reporter und Detektive eine so aufsehenerregende Story aufgedeckt hätten.

»Meine Damen und Herren«, sagte sie so ernst, als stünde sie einem Gerichtssaal vor, »halten Sie es nicht für absolut notwendig, dem Mörder einige Fragen zu stellen?«

»Aber ja, es ist absolut notwendig«, riefen alle Anwesenden mit einer Stimme.

Baruch Jorgell, dem Tränen über die Wangen liefen, blickte wie ein gejagtes Tier.

Sie sagte: »Du schändlicher Schurke, bist du in dieses ehrliche Haus zurückgekehrt, um mich zu ermorden – mich, den du schon einmal schändlich betrogen hast, indem du meine Güte missbrauchst?«

»Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Toby, der unter dem Tisch hervorgekrochen war, unter dem er sich versteckt hatte.

»Ruhe«, sagte Mistress Griffton, »der Angeklagte soll antworten.«

Aber Baruch Jorgell kam nicht aus seiner dummen Enge heraus.

Auf die wiederholten Fragen der Hausherrin antwortete er nur mit zusammenhanglosen Worten.

»Ja, ja … Ich weiß nicht … Nein«, stotterte er wie ein Mann, der sich unglaublich anstrengt, um sich zu erinnern.

Mehr war zunächst nicht aus ihm herauszubekommen. Doch als Mistress Griffton ihn immer wieder mit Fragen quälte, begriff sie schließlich, dass Unbekannte – zweifellos Komplizen – den Mörder bis vor die Tür des Mietshauses geführt hatten und nach dem Drücken des Klingelknopfes geflüchtet waren.

»Die Tramps«, stammelte er, »die Rote Hand! Ja.«

»Er will uns klarmachen«, sagte Mistress Griffton, »dass er zu den Banditen der Roten Hand gehört. Wahrscheinlich hat er sich deshalb solange der Fahndung entzogen.«

»Man kann es nicht begreifen«, sagte einer der Bewohner, »er scheint ein Idiot geworden zu sein, ein völliger Idiot.«

»Alle Mörder enden so, sie trinken Gin oder Äther, um der Reue zu entgehen, und verlieren schließlich den Verstand.«

Und sie fuhr in einem Ton der Klugheit fort: »Soll ich Ihnen sagen, was passiert ist, es ist nicht schwer zu erraten. Von allen Seiten gejagt, musste er bei den Verbrechern der Roten Hand Zuflucht suchen, die sich für ihre Gastfreundschaft mit dem Diebstahl seiner Diamanten revanchierten. Nachdem sie ihn beraubt hatten, entledigten sie sich seiner, indem sie ihn hierher zurückbrachten«.

»Warum hier und nicht woanders?«, fragte jemand.

»Das ist leicht zu erklären, denn sie haben meine Aussage in der Zeitung gelesen. Als sie ihn hierherbrachten, wussten die Leute, die ihm die Diamanten abgenommen hatten, dass er verhaftet werden würde, und das war wahrscheinlich der beste Weg, ihn loszuwerden.«

»Vielleicht hat er seine Diamanten noch?«, sagte Toby beiläufig.

»Das wäre möglich«, erwiderte Mistress Griffton, »aber wir haben nicht daran gedacht, ihn zu durchsuchen.«

»Es ist nur so«, bemerkte einer der Bewohner schüchtern, »dass wir vielleicht gar nicht das Recht dazu haben?«

»Doch«, entgegnete ein anderer. »Solange die Durchsuchung in Anwesenheit ehrbarer Zeugen stattfindet, ist sie völlig legal.«

»Es ist alles legal.«

»Durchsuchen wir ihn!«

»Das ist es …«

Nachdem der Vorschlag einstimmig angenommen worden war, wies Mistress Griffton Toby an, die Taschen des Gefangenen zu durchsuchen.

Unter den ängstlichen Blicken der Anwesenden machte sich der improvisierte Ermittler an die Arbeit. Nach und nach legte er seine Funde auf den Rand des Klaviers: ein Bowiemesser von beachtlicher Größe, eine Browning, eine Tabakdose und verschiedene andere Gegenstände wurden nacheinander sichergestellt, und schließlich kam eine Brieftasche zum Vorschein, die einige Geldscheine und Papiere auf den Namen Baruch Jorgell enthielt.

»Sehen Sie«, rief Mistress Griffton, »es gibt keinen Zweifel, das ist der Mörder von Monsieur de Maubreuil!«

Aber die Anwesenden waren noch nicht fertig. Plötzlich zog Toby mehrere farblose und durchsichtige Steine aus dem Futter seiner Weste.

»Ich kann Ihnen versichern«, sagte einer der Anwesenden, ein Edelsteinhändler, »das sind die schönsten Rohdiamanten, die ich je gesehen habe.«

Diese interessante Untersuchung sollte fortgesetzt werden, als plötzlich zwei Polizisten in das Sprechzimmer stürmten.

Nach einer kurzen Erklärung legten sie Baruch Jorgell Handschellen an und führten ihn ab, wobei sie ihn jeweils an einem Arm stützten, da er offenbar nicht stehen konnte. Alle Anwesenden wurden gleichzeitig aufgefordert, sich zur Polizeiwache zu begeben, um dort ihre Aussagen zu machen.

Auf dem Weg dorthin kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Mistress Griffton, die behauptete, ihr stehe die gesamte Prämie zu, und ihren Bewohnern, die der Meinung waren, jeder habe Anspruch auf einen Teil. Der Polizeichef, dem der Fall vorgelegt wurde, erklärte, dass Mistress Griffton zuerst für das Geld entschädigt würde, das ihr zustand, und dass sie darüber hinaus den größten Anteil erhalten sollte. Diese gütliche Einigung wurde von allen akzeptiert.

Baruch Jorgell wurde in eine vergitterte Zelle gesperrt, und nachdem jeder seine Aussage gemacht hatte, kehrte man in das Haus der Familie zurück, wo Mistress Griffton zur Feier des denkwürdigen Ereignisses allen Bewohnern eine Schale Punsch anbot.