Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Die Gespenster – Vierter Teil – 18. Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil

Achtzehnte Erzählung

Laging zu Stolzenau erblickt spukende Beerdigungen und prophezeit danach die nächsten Sterbefälle

Ein ähnlicher, jedoch viel ärgerer Todesprophet als der eben erwähnte zu Sandau, ist der Totengräber Laging, in dem hannoverschen Städtchen Stolzenau an der Weser. Dieser halbtaube Mann, vielleicht mehr betrogener Schwärmer als absichtlicher Betrüger, versichert, kurz vorher, ehe jemand aus dem Städtchen sterbe, eine ihm selbst völlig rätselhafte und unerklärliche Ahnung davon zu haben, indem er dann unwillkürlich aus tiefem mitternächtlichen Schlaf aufgeschreckt und auf eine unwiderstehliche Art angetrieben werde, aufzustehen und zur Straße und dem Haus, woraus die nächste Leiche getragen werde, hinzugehen, um ein Augenzeuge des vorbedeutenden Leichenzuges zu sein.

Von den vielen Todesfällen der Stolzenauer, welche er auf diese Art prophezeite, sind wirklich einige der Weissagung gemäß erfolgt; mehr als eine seiner ominösen Nachtwandlungen und pro­phetischen Todesankündigungen, blieb aber auch ohne Bedeutung und gänzlich unerfüllt.

Diese Letzte war indessen für den großen Haufen der Stolzenauer keineswegs ein Hinderns, diesem Wundermann glaubensvoll anzuhängen und seiner Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit mit fester Zuver­sicht zu trauen. Vielmehr lassen die zu diesem Haufen gehörigen Gläubigen – wenn ihr Stündlein kommt oder nach Lagings Prophezeiung ge­kommen sein soll, und der Zufall sie vielleicht gerade um diese Zeit auf das Krankenlager wirft – sich, durch die ihnen verursachte Angst vor dem nach ihrer Meinung nun unausbleiblichen Tod, schwachmütig zu Tode quälen und zu Grabe tragen.

Dass Laging als Todesprophet einiges Glück machte und seinen Kredit bald unerschütterlich fest gründete, ist aus folgenden zwei Wahrnehmungen der denkenden Einwohner die­ses Städtchens sehr begreiflich:

Fürs Erste pflegt er nur da einen nahe be­vorstehenden Todesfall anzukündigen, wo schon mehrere Kranken in einer Straße nahe beieinander wohnen, oder wohl gar nur da, wo ein gefährlich Kranker nach menschlicher Beurteilung dem Tod bereits entgegen reist. Unter solchen Umständen und Voraussetzungen konnte es dann freilich nicht fehlen, dass nicht – ja es wäre ein wahres Wun­der gewesen, wenn nicht – je zuweilen seine vorgeblichen Todesahnungen in Erfüllung gegan­gen wären.

Und dann hat Laging auch schon oft, sehr oft in seinen eigenen Vorhersagungen erwiesen und gleichsam dokumentiert, dass er in Hinsicht auf die Todesstunde der Stolzenauer nichts weniger als untrüglich, wo nicht gar ein arger Ignorant ist. Hier nur zwei Beispiele, die mir von mehreren ähnlichen, während meines Aufenthalts zu Stolzenau zu Ohren gekommenen Tatsachen, noch erinnerlich sind:

Erstens: Gegen Weihnachten des Jahres 1796 erkrankte Frau Hauptmann in Meyenberg zu Stolzenau. Laging, der allezeit fertige Todesprophet, hatte von dieser ihrer Krankheit kaum gehört. So bildete sein prophetischer Geist ihm ein, die Frau Hauptmann werde durch diese Krankheit unfehlbar des Todes Beute werden. Er weissagte daher frisch drauf los: »Man werde aus dem Haus, worin sie damals wohnte, in den nächsten Tagen eine Leiche tragen, denn er habe das Leichenbegängnis um Mitternacht bereits vorspuken gesehen.«

Sein gläubiger Anhang im Orte rechnete von nun an mit Zuverlässigkeit auf den nahen Tod, der damals kränklichen Frau Hauptmann; allein die misslichen Gesundheitsumstände dieser Dame besserten sich bald. Sie genas und überlebte diese Vorherbestimmung ihres ganz nahen Todes noch anderthalb Jahre.

Obwohl Lagings Gabe, zu prophezeien, diesmal zu Schanden geworden war, so hielt es doch keine von jenen gläubigen Seelen der Mühe wert, davon zu sprechen oder es zu ihrem Nutzen zu beherzigen, »denn es war ja weder ein Wunder noch auch nur etwas Ungewöhnliches, dass ein Mensch irrt.« Ein anderes wäre es gewesen, wenn die Frau Hauptmann wirklich, der Prophezeiung gemäß, gestorben wäre; unstreitig hätte man alsdann lange Zeit von der wunderbar erfüllten Weissagung gebadesalbert.

Zweitens: Um Pfingsten des Jahres 1798 hatte Laging wiederum die Frechheit, eine sehr aufgeklärte und in jeder Hinsicht verehrungswürdige Stolzenauerin – die Frau Majorin Hotzen – wissen zu lassen, dass er zur Gespensterstunde einen vorspukenden Leichenzug aus ihrer Wohnung hin­aus mit Grause beobachtet habe und etwa bin­nen vier Wochen der Erfüllung dieser spukhaften Erscheinung entgegensehe. Diese nicht mehr junge Dame, bei deren schwächlicher Gesundheit es der Gang der Natur unausbleiblich mit sich bringt, je zuweilen zu kränkeln, wurde zufälligerweise inner­halb dieser Monatsfrist ernstlich krank. Alle Wahngläubige im Ort sahen auch nun wieder der Bestä­tigung seiner vermeinten Gabe entgegen. Glückicherweise aber genas die Frau Majorin noch vor dem Ablauf jener vier Wochen vollkommen und lebte mit all ihren Hausgenossen noch im Jahr 1800.

Wäre die Kranke nicht als praktische Christin bereit zu sterben, sobald eine höhere Macht es gebeut; oder hätte sie – und dies kann auch bei den besten Menschen und Christen der Fall sein – eine, ich will nicht sagen, leidenschaftlichere Liebe zum Leben, aber doch einen lebhafteren unwillkürlichen Widerwillen gegen den Tod, als sie wirklich hat; oder wäre endlich gar auch sie eine Sklavin des herrschenden Aberglaubens gewesen, und hätte also keinen Zweifel in die Glaubwürdigkeit des Todespropheten gesetzt – wie leicht würde dann die ängstliche Furcht vor dem vermeintlich nahen Tod ihre Krankheit bis zu dem Grad der Tödlichkeit haben, vermehren und verschlimmern können! Unfehlbar würde man in einem solchen Fall den nämlichen Tod, der dann nur eine Folge der Prophezeiung und des Glaubens daran gewesen wäre, für eine neue Bestätigung der ohnehin schon weit und breit berühmten, prophetischen Talente des Stolzenauer Totengräbers gehalten und als solche nach allen Weltgegenden hinausposaunt haben.

Wenn man endlich auch noch erwägt, dass der Geist in Krankheiten gewöhnlich mit erkrankt, mit schwach und empfänglich für den Wahnglauben und die eitle Furcht vor dem Tod wird, sodass der Kranke dann eben darum auch größerer Gefahr ausgesetzt ist, sollte man da nicht sogar es, warten dürfen, dass dergleichen unberufenen Wahr­sagern, die, ihrer Natur nach, für diejenigen, auf deren nahe Todesstunde hingedeutet wird, allemal ruhestörend sind, selbst vonseiten einer menschen­freundlichen Ortsobrigkeit das Handwerk werde ge­legt werden? Und zwar umso mehr dann, wenn den in ähnlicher Absicht getroffenen, men­schenfreundlichen Maßregeln der solchen Propheten zunächst Vorgesetzten Obern (im gegenwärtigen Fall denen, des ebenso beliebten wie achtungswürdigen Herrn Superintendenten Hoppenstädt) nicht gehörig Folge geleistet wird?

Wenn Laging in Madam B. bei Stolzenau, wenn ein Grabenstein, ein Nietzky und Konsorten durchaus vorbedeutende Geister und Leichenzüge gesehen oder spukhafte Ahnungen und Er­scheinungen gehabt haben wollen, so mögen sie sie für sich behalten und sich daran ergötzen, so gut sie können; aber nicht durch ihre albernen Faseleien die Ruhe und die Zufrieden­heit ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen. Indem sie so ihrer Eitelkeit, ihrer Sucht, Aufsehen zu erregen, und für wun­derbare Menschen gehalten zu werden, ein Opfer bringen, werden sie bloß sich selbst und der Menschheit eine Schuld bezahlen. Denn unmöglich kann es beruhigend für sie selbst, unmöglich erfreulich für ihre Mitmenschen sein, wenn sie als lieblose Todespropheten die Quälgeister, vielleicht gar die Mörder derer werden, denen sie schwärmerisch wahrsagen und Zeichen deuten.