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Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius … Teil 1

Oskar Ludwig Bernhard Wolff
Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius,
seinem Leben, seinen Taten und seinem Ende
Volksbücher Nr.46, Verlag Otto Wigand, Leipzig

Von der Stadt Rom, von Romulus und Remus

Die Taten des Zauberers Virgilius, welche er voll­bracht in der Stadt Rom und an anderen Orten, sind so merkwürdig, dass sie wohl verdienen, ausgeschrieben und der Nachwelt überliefert zu werden.

Zu allen Zeiten war Rom groß durch Namen und Ruhm, und die, welche da wohn­ten, genossen großer Verehrung zu ihrer Zeit. Aber der Kaiser von Rom, Romulus, erschlug seinen eigenen Bruder Remus aus Hass und Neid, ungeachtet Remus die Stadt Rom und alles Gebiet, das zu ihr gehörte, dem Romulus abgetreten hatte. Remus nahm jedoch den ganzen Schatz mit sich in das Land Kampanien. Dort an einem Fluss, genannt Welin, baute er eine kostbare und reiche, feste Stadt mit schönen, hohen Mauern, welche innen und außen ausgeschmückt war mit herrlichen, in Stein ge­hauenen Bildern, und aller Schmutz in der Stadt wurde in die Erde geleitet durch den Fluss Welin, der vorbeifloss. Diese Stadt war zu jener Zeit eine der schönsten, und er nannte sie Remus nach seinem eigenen Namen. Als nun Romulus erzählen hörte von seinem Bruder und von dessen Stadt, wurde er sehr zornig, denn die Mauern waren dort so hoch, dass ein Mann, der im Graben stand, mit einem Bogen den Pfeil nicht hinüberschießen konnte. Die Mauern von Rom aber waren so niedrig, dass ein Mann leicht hin­überspringen konnte und hatten auch keine Gräben.

Es traf sich nun eines Tages, dass Remus kam und seinen Bruder Romulus in Rom besuchte. Er hatte nach seinem Stand und Rang ein großes Gefolge bei sich und seine Gemahlin daheim in Kampanien gelassen, wo sie soeben eines Söhnleins genesen war, das wie sein Vater Remus genannt wurde.

Als er nun vor Rom ankam und die Mauern sah, sagte er zu dreien Malen, dass sie so niedrig seien und sagte noch dazu, er wolle mit einem Anlauf hin­überspringen. Gleich darauf nahm er auch einen Anlauf und sprang richtig hinüber. Da nun sein Bruder Romulus dies vernommen hatte, wie Remus solches getan hatte, sagte er, das sei eine schlechte Tat und er solle dafür büßen und seinen Kopf verlieren. Kaum war er daher mit ihm zu­sammengetroffen, so packte er ihn mit eigenen Händen und schlug ihm das Haupt ab. Bald danach aber brachte er ein großes Heer auf und zog damit nach Kam­panien und berannte dort die Stadt des Remus. Er eroberte sie und machte die Paläste, Türme und Häuser dem Erdboden gleich. Aber seine Schwester, die Frau des Remus, konnte er nicht finden, denn sie war durch eine Falltür und einen unterirdischen Gang aus der Stadt zu ihren Verwandten geflohen, denn sie war eine der vornehm­sten Frauen auf Erden. Nachdem nun Romulus das Land und die Stadt des Remus zerstört hatte, kehrte er nach Rom zurück, wo er mit großem Jubel empfangen wurde.

Wie der junge Remus seinen Vater rächt und selbst Kaiser wird

Die Gattin des Remus wurde sehr betrübt und trauerte schwer, als sie die Kunde erhielt von dem Tod ihres Ge­mahls sowie auch von der Zerstörung und Verheerung des Landes und der Stadt durch seinen Bruder. Nach seinem Ab­zug ließ sie dieselbe Stadt schöner und herrlicher wieder aufbauen, mit weit höheren und stärkeren Mauern als zu­vor und stattete solche reichlich durch ihre Macht und ihre Schätze aus, aber so machtvoll war sie nicht mehr, wie sie bei des Remus Lebzeiten gewesen. Auch erzog diese edle Frau ihr Söhnlein wohl und im Laufe der Jahre wurde dasselbe kräftig und stark genug, eine Rüstung zu tragen.

Dann sagte seine Mutter zu ihm: »Mein lieber Sohn, willst du deinen Vater rächen, den dein Oheim erschlug?«

Und der Sohn antwortete ihr: »Binnen drei Monden.«

Fortan bat er nun seine Verwandten, ihre Mannen zu rüsten, und als solches geschehen war, brachen sie auf. Er zog mit einem großen Heer nach Rom und in diese Stadt ein, und als er drinnen war, ließ er ausrufen, dass keinem Bürger ein Leid geschehen solle. Darauf begab er sich zum kaiserlichen Palast. Als nun der Kaiser erfuhr, dass er gekommen sei, berief er seine Räte, um mit ihnen Rat zu pflegen, aber die Senatoren meinten, es gebe kein anderes Mittel als den Tod; »denn«, sagten sie, »weil Ihr seinen Vater erschlagen habt, so wird er wieder­um Euch erschlagen.«

Kaum hatten sie dies gesprochen, so trat Remus ein, und als er seinen Oheim Romulus auf dem kaiserlichen Thron sitzen sah, ergriff ihn der Zorn. Er zog das Schwert, packte Romulus bei den Haaren und hieb ihm den Kopf ab. Als dies geschehen war, fragte er die Großen und Senatoren von Rom, ob sie deswegen Krieg mit ihm führen wollten. Diese aber antworteten sämtlich »Nein«, gaben ihm das Reich und krönten ihn als recht­mäßigen Herrn.

Als er nun Kaiser geworden war, sandte er zu seiner Mutter und diese kam zu ihm. Nun wurde Rom mit starken Mauern und tiefen Gräben versehen und ward be­rühmt, und es ließen sich dort verschiedene Völkerschaften nieder, welche große Paläste und andere schöne Gebäude aufführten. Remus war ein Mann, stark an Leibeskraft, reich an Gut, weise im Rat und hatte viele Länder und Herrschaften unter sich. Bei ihm war ein Ritter, der lange seiner Frau Mutter gedient hatte, ein kühner Mann, tapfer in der Schlacht. Dieser nahm sich eine Frau aus der Stadt Rom und heiratete dasselbe, eines Senators Tochter von vor­nehmem Geschlecht. Remus herrschte aber nicht lange mehr, sondern starb und sein Sohn wurde Kaiser und folgte ihm auf den Thron. Der Ritter aus Kampanien aber, der des Senators Tochter heimgeführt hatte, lehnte sich wider den jungen Kaiser auf, bekriegte wider ihn und fügte ihm großen Schaden zu. Diesem Ritter gebar seiner Frau einen Sohn unter großen Schmerzen und Nöten, der Knabe aber wurde Virgilius genannt.