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Der Welt-Detektiv – Band 9 – 4. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 9
Der geheimnisvolle Schoner
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

4. Kapitel

Das Wrack der MARIANNE

Juan Mendoza kehrte erst spät in seine Villa zu­rück. Sein bleiches Antlitz verriet deutlich genug, wie ihn das schreckliche Verbrechen, dem sein Kompagnon zum Opfer gefallen, erschüttert hatte.

Er schloss sich sogleich nach seiner Rückkehr in sein Arbeitszimmer ein, ließ sich auf dem Sessel vor dem Schreibtisch nieder und stützte den Kopf in beide Hän­de. Plötzlich ließ ihn aber ein leises Rascheln, das sein Ohr berührte, auffahren. Mit einem leisen Schrei sprang er hoch und griff zum Browning. Aber seine Annahme, dass man nun vielleicht auch ihn zu überfal­len trachtete, traf nicht zu.

Zwei schattenhafte Gestalten lösten sich aus dem Halbdunkel der äußersten Zimmerecke und hoben beschwichtigend die Hände.

Gleichzeitig flüsterte eine bekannte Stimme: »Seien Sie unbesorgt, Señor, aber die augenblickliche Situation lässt es ratsam erscheinen, heimlich zu Ihnen zu kommen.«

»Señor Holmes?«, murmelte Mendoza.

»Ich bin es. Und das hier ist mein braver Jonny. Nein bitte kein Licht! Es ist besser so. Und dann noch etwas: Sind wir hier unbelauscht?«

»Vollkommen«, antwortete der Reeder, »aber ich werde wahrscheinlich in wenigen Minuten Besuch erhalten.«

»Von wem?«

»Ich habe meinen Prokuristen herbestellt. Ich habe mit ihm über manches zu sprechen, was in nächster Zeit geschehen soll.«

»Hm«, machte Sherlock Holmes, »wie heißt doch der Mann gleich? Huas nicht wahr?«

»Ah, Sie kennen ihn?«

»Allerdings«, sprach der Weltdetektiv trocken. »Sie haben sich da ein wahres Musterexemplar von Spitz­buben angeschafft!«

Mendoza prallte zurück. »Huas – ein Spitzbube?«, stieß er heraus. »Huas, der schon seit Jahren unserer Reederei als Prokurist vorsteht?«

»Derselbe. Oder finden Sie es etwa vollkommen in Ordnung, dass sich dieser werte Señor zwei Stun­den nach dem scheußlichen Verbrechen mit dem Mör­der in einer Weinstube traf?«

Mendoza verlor den Rest seiner Fassung.

»Reißen Sie sich zusammen, Señor«, sagte Sherlock Holmes. »Ich habe Ihnen noch mehr zu berichten. Hö­ren Sie gut zu: Seit Monaten treibt in den Antillen ein Schoner sein Unwesen. Kommandant und Besatzung sind Piraten vom reinsten Wasser. Acht Schiffe sind ihnen in den letzten Monaten zum Opfer gefallen, dar­unter die CRIOLLA«, die CHALET und jetzt auch Ihre nagelneue COLUMBIA. Die wertvolle Fracht wurde geraubt, nach Puerto Rico gebracht und von dort von drei übelberüchtigten Kaufleuten verschachert. Die gekaperten Schiffe sind dann wohl unter den Piraten mit Mann und Maus ver­senkt worden. Im Übrigen besitzt die Bande noch auf einer kleinen, unbewohnten Insel ihr Geheimversteck, das aufzufinden mir aber bis heute leider nicht gelun­gen ist.«

Schritte näherten sich der Tür und veranlassten Sher­lock Holmes, in seinem Bericht innezuhalten. Gleich darauf klopfte es.

Einer der Diener meldete von draußen, Señor Huas sei gekommen. Mendoza befand sich in einem Zustand ungeheurer Erregung. Er war kopflos und wusste nicht, was er tun sollte.

»Sprechen Sie ein paar harmlose Worte mit ihm«, flüsterte ihm der Weltdetektiv zu, »und dann schicken Sie ihn wieder fort. Aber verraten Sie sich nicht. Er darf nichts merken.«

Jonny und Sherlock Holmes huschten ins Neben­zimmer. Mendoza knipste das Licht an und schloss die Tür auf. Dann nahm er am Schreibtisch Platz und zwang sich dazu, ruhig Blut zu bewahren. Huas trat ein.

Er verneigte sich respektvoll und kam langsam nä­her, um sich dann, als er des Chefs bleiches Antlitz sah, teilnehmend nach seinem Befinden zu erkundigen. Mendoza wehrte ab.

»Ich bin müde, Huas«, sagte er, »grenzenlos müde. Die Aufregungen dieses Tages haben mich arg mitge­nommen und ich fühle mich augenblicklich außerstan­de, mit Ihnen zu konferieren. Wir wollen sehen, ob wir morgen Vormittag miteinander über die verschiedenen Dinge sprechen können.«

Huas verriet mit keiner Miene, was hinter seiner Stirn vorging. Er wünschte gute Besserung und verließ gleich darauf mit leisen Schritten das Zimmer.

Sherlock Holmes beobachtete vom Nebenzimmer aus, wie der Besucher das Haus verließ. Dann kehrte er mit Jonny zurück und flüsterte: »Drehen Sie das Licht wieder aus!«

Der Reeder tat, wie ihm geheißen. Dann saßen sie sich im Dunkeln gegenüber.

»Dieser Mensch«, begann Sherlock Holmes, »der soeben so teilnahmsvolle Worte für Sie fand, steht mit den Piraten im Bunde. Seit ich das weiß, ist mir vieles klar geworden. Doch ehe ich fortfahre, gestatten Sie mir bitte eine Frage: Welche Feststellung haben Sie oder die Polizei bezüglich der Beute des Mörders ma­chen können?«

»Die Beute?«, wiederholte Mendoza verwirrt. Dann schüttelte er den Kopf. »Man hat nichts geraubt. Señor Holmes!«

»Ich muss Ihnen widersprechen. Der Mörder stahl ein Dokument. Es muss sich sogar um ein sehr wertvol­les Papier handeln.«

Da glitt ein müdes Lächeln über des Reeders einge­fallene Züge.

»Ah, Sie meinen den Plan über das Wrack der MARIANNE? Ja, der ist allerdings verschwunden, aus der Mappe, in die er geheftet war, herausgerissen. Und dieses Papier, glauben Sie, hat der Mörder gestohlen?«

»Ich nehme sogar an, dass der Mord um dieses Do­kuments willen geschah!«

Mendoza starrte den Sprecher an. Dann rief er: »Der Plan ist vollkommen wertlos. Vor etwa fünfunddreißig Jahren sank an der Pedas-Insel ein französischer Dampfer, der Goldbarren nach Puerto Rico bringen sollte. Ein paar Versuche der Reederei, das Wrack zu bergen, scheiterten. Später kauften wir den Franzosen das Wrack ab. Das heißt, wir sicherten uns das Recht, das Wrack jederzeit bergen zu können. Aber auch unsere Versuche misslangen, weil wir unzureichen­de Mittel zur Verfügung hatten. Bis wir dann im vori­gen Jahr einen neuen Versuch unternahmen, das Gold aus dem Wrack heraufzuholen. Wir schickten einen Taucher in die Tiefe. Er kam wieder und lachte uns aus. An der auf dem Plan ange­geben Stelle ist nicht die geringste Spur eines Schiff­wracks zu entdecken! Seit der Zeit haben wir uns den Goldschatz aus dem Kopf geschlagen. Der Plan ist, das werden Sie wohl nun verstehen, vollkom­men wertlos!« Sherlock Holmes wiegte den Kopf hin und her. Dann blickte er Mendoza fest an. Seine Augen leuchteten seltsam in der Dunkelheit.

»Wer leitete im Vorjahr Ihre Bergungsversuche?«, fragte er. »Sie selbst?«

»Nein, ich verstehe von solchen Sachen wenig. Wir zogen einen Kapitän aus Puerto Rico zu Rate, einen Mann, der schon einmal mit Tauchern ein Schiff geho­ben hat.«

»So, so«, meinte Sherlock Holmes. »Der Taucher stand demnach auch im Dienst jenes Kapitäns?«

»Jawohl. Wir hätten letzten Endes auch jemanden aus unserer Stadt genommen, aber in Trinidad gibt es keinen Menschen, der einen Tauchapparat besitzt und was sonst noch alles dazu gehört.«

Der Weltdetektiv blieb eine Weile stumm. Offen­bar verarbeitete er das Gehörte. Plötzlich fragte er: »Besitzt dieser Kapitän Ihr Vertrauen. Señor? Ich meine, könnte es nicht sein, dass der Mann Sie hintergeht? Dass er dem Taucher befahl, Ihnen zu sagen, dass das Wrack nicht zu finden sei, obwohl es sich in Wirk­lichkeit doch an der angegebenen Stelle befindet?«

»Das halte ich für ganz ausgeschlossen.«

»Welche Summe repräsentieren denn die versunke­nen Goldbarren?«

»Es soll sich um ungemünztes Gold im ungefähren Wert von achthunderttausend Dollar handeln.«

»Ein hübsches Stück Geld! Und Sie glauben, es sei völlig ausgeschlossen, dass in dem Kapitän der Gedan­ke aufgestiegen sei, sich dieses Goldbarren aus dem Meer zu fischen? Sehen Sie, Señor Mendoza, das wäre doch eine ganz einfache Geschichte: Der Mann sagt Ihnen, das Wrack befände sich gar nicht an dem bezeichneten Ort. Sie dampfen wieder ab, er kommt zu geeigneter Zeit wieder und birgt das Gold für sich selbst! Wäre das so ausgeschlossen?«

Der Reeder wurde unruhig.

»Sie bringen mich da auf eine Vermutung, die ich bisher noch nicht in Betracht gezogen habe«, antworte­te er schließlich. »Und doch«, fuhr er nach einer kur­zen, nachdenklichen Pause fort, »ich kann es eigentlich nicht glauben, dass Mixton ein solcher Betrüger sein soll. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren, und ich habe noch niemals Veranlassung gehabt, mich über ihn in irgendeiner Weise zu beklagen.«

Sherlock Holmes lachte trocken auf.

»Das habe ich mir beinahe gedacht!«, sagte er.

»Was?«, murmelte Mendoza.

»Dass es sich um Kapitän Mixton handelt. George Mixton, nicht wahr? George Mixton aus Puerto Rico?«

Mendoza richtete sich kerzengerade auf. »Sie kennen den Mann?«

»Ja, ich habe das Vergnügen. Und nun setzen Sie sich ja recht fest auf den Stuhl, denn was ich Ihnen nun sage, wird Sie sicher stark Ihres Gleichgewichts berauben: Dieser Kapitän Mixton. der vor einem Jahr Ihre Bergungsaktion leitete, ist derselbe, der mit sei­nem Schoner seit Monaten die Antillen unsicher macht und neben anderen Schiffen auch Ihre CRIOLLA, CHALET und COLUMBIA in den Grund gebohrt hat!«

»Teufel!«, schrie der Reeder auf.

»Und derselbe«, fuhr Sherlock Holmes fort, »der durch einen gewissen Joe Trynn Ihren Kompagnon ermorden und das Dokument rauben ließ!«

»Woher … woher wissen Sie … wissen Sie das alles?«, keuchte Mendoza.

Der Weltdetektiv hob die Schulter.

»Man hat sich schließlich nicht umsonst monatelang in den Antillen herumgetrieben!«, sagte er einfach.

Mendoza lief mit langen Schritten im verdunkelten Zimmer umher. »Noch heute verständige ich die Poli­zei«, schrie er aufgeregt, »die verruchte Bande zu ver­haften! Noch heute!«

»Nicht doch! Keine Übereilung!«, fiel ihm Sherlock Holmes scharf ins Wort. »Ich habe die Angelegenheit bis hierher verfolgt und werde sie auch zu Ende führen. Sie werden der Polizei kein Wort von dem berichten, was Sie aus meinem Mund gehört haben. Tun Sie es dennoch, wird der gemeine Mord, der an Señor Alsalsa verübt wurde, für immer ungesühnt bleiben, denn der Poli­zei gelingt es schwerlich, die nötigen Beweise heranzu­schaffen! Ich habe vor, ganze Arbeit zu leisten. Ich will nicht Trynn, will nicht Mixton. Ich will die ganze Ban­de mit all ihrem Anhang, ihren Hintermännern und Spionen zur Strecke bringen!«

»Aber … aber, wie wollen Sie das fertigbringen?«

Da wetterleuchtete es in Sherlock Holmes Augen. »Wie? Hören Sie zu!«

Und leise begann er, seinen Plan zu entwickeln, des­sen Tollkühnheit Mendoza zuerst entsetzte, dann aber aus Herzensgründe begeisterte. Am nächsten Morgen flog Sherlock Holmes mit dem fahrplanmäßigen Post­flugzeug nach Puerto Rico zurück, um Kapitän Mixton seine Aufwartung zu machen.

Zur gleichen Stunde ließ sich aber Jonny Buston in des Weltdetektivs Auftrag beim Kommandanten der Seestreitkräfte in Trinidad melden, um eine volle Stun­de hinter verschlossenen Türen mit dem Admiral zu verhandeln. Der Stein war ins Rollen gekommen!