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Der Detektiv – Band 28 – Der Tempel der Khali – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Der Tempel der Khali

Teil 4

Wir gruppierten uns in Molgedeys Zimmer um den Tisch. Harst begann dann sofort ohne lange Einleitung.

»Fräulein Dasy, wäre es nicht richtiger, wenn Sie jetzt Ihren Eltern endlich so viel Vertrauen schenkten und ihnen sagten, dass Sie heimlich mit einem armen, braven Mann verlobt sind! Es ist der Privatsekretär des hier gleichfalls abgestiegenen Geschäftsfreundes Ihres Vaters, nicht wahr? Ich beobachtete Sie heute Vormittag im Speisesaal: Ihre Augen verrieten, was Ihr Herz für den Herrn am zweiten Nebentisch empfand.«

Dasy begann zu schluchzen. »Oh … ich … ich bin ja so schlecht … so …« Sie konnte nicht weitersprechen.

Harst nahm ihre Hand. »Beruhigen Sie sich. Ihre Eltern werden Ihnen alles verzeihen. Auch die Sache mit der Inka-Krone.«

Garratt Molgedey fuhr auf. »Was? Wie? Inka-Krone? Was heißt das?«

»Still, Herr Molgedey, Sie werden sie zurückerhalten. Aber nur dann, wenn Sie mir geloben, Ihrer Tochter die Ehe mit Herrn Tom Smith zu gestatten.«

Molgedey machte ein finsteres Gesicht. Da mischte sich seine Gattin ein. »Garratt, ich begreife nicht, was du eigentlich gegen Smith einzuwenden hast?! Gewiss – er ist arm, aber …«

»Schon gut, schon gut. Ich sage Ja und Amen. Wie steht es denn nun mit der Krone, Herr Harst?«

»Die dürfte Herr Smith in Verwahrung haben. Der Zusammenhang muss nach den Tatsachen, die ich kenne, folgender sein. Ihre Tochter und Smith liebten sich. Er ist arm. Da wollte Fräulein Dasy ihm auf etwas abenteuerliche Weise zu Geld verhelfen, indem sie Ihnen die Inka-Krone entführen wollte, die Sie dann teuer auslösen sollten. Fräulein Dasy zieht an jenem Abend einen Männeranzug an, schleicht in Ihr Zimmer, wo Sie auf dem Diwan eingeschlafen sind, hat dann gerade den Tresor geöffnet, als ein paar echte Einbrecher auf der Bildfläche erscheinen, die Sie zunächst nicht bemerken, dann aber auf Sie feuern, während einer der Kerle gleichzeitig Dasy die Krone zu entreißen versucht. Als Sie mir erzählten, dass zwei der Maskierten vor dem Tresor miteinander gerungen hätten, tauchte der erste Verdacht in mir auf, bei dem Diebstahl müssten zwei Parteien als Konkurrenten tätig gewesen sein. Und als Sie dann feststellten, dass der Brief hier im Hotel verschwunden war, als ich durch Fragen mich überzeugte, dass nur Dasy den Brief an sich genommen haben könnte, während Sie in das Badezimmer gingen, da wusste ich Bescheid! Fräulein Dasy wollte den Brief mich nicht sehen lassen – mich, den gefährlichen Mann, der vielleicht alles aufdecken würde, wenn er den Brief zur Verfügung hatte. Es war also übergroße Vorsicht, die Dasy den Brief stehlen ließ. Ich lernte Ihre Tochter dann persönlich kennen. Ihr scheues Wesen bestätigte mir nur, dass sie mich fürchtete und kein reines Gewissen hatte. Nicht wahr, Fräulein Dasy, es verhält sich doch alles so, wie ich sage?«

Sie nickte nur, fiel dann ihrem Vater um den Hals und bat ihn unter Tränen um Verzeihung.

Wir verabschiedeten uns schnell; wir waren nun hier überflüssig. Als wir den Flur entlang schritten, kam der Hoteldirektor uns entgegen.

Harst blieb stehen. »Die Familienangelegenheit bei Molgedeys ist schon erledigt«, meinte er lächelnd. »Fräulein Dasy wird sich noch heute mit Herrn Tom Smith verloben.«

»Ah – richtig, die Familienangelegenheit also, die Sie heute >Vormittag in meinem Büro erwähnten, Herr Harst! Und ich fürchtete wirklich schon, auch Herr Molgedey sei hier bestohlen worden, ebenso wie der Oberst Dardogne.«

Wir gingen weiter. Harst schob seinen Arm in den meinen. »Mein Alter, diese Amerikanerinnen haben den Teufel im Leib! Es wird nicht alle Tage vorkommen, dass eine Tochter von dem eigenen Vater eine halbe Million erpressen will, damit der heimlich Geliebte kein armer Schlucker mehr ist. Jetzt müssen wir aber auch noch dem Oberst zu seinem Recht verhelfen. Klopfen wir mal bei ihm an.«

Aber Dardogne war nicht daheim. Ein Kellner erklärte uns, der Herr Oberst sei noch nicht von seiner Ausfahrt heimgekehrt.

Es war neun Uhr abends. Lord Wolpoore, Blindley und ich saßen im Speisesaal in einer der Nischen. Harst war soeben durch einen der Diener des Obersten zu diesem gebeten worden, da Dardogne ihm in der Diebstahlssache etwas Neues mitteilen wollte. Inzwischen hatte der Lord auch den Polizeidirektor von Delhi aufgesucht und gegen Mistress Bellingson in aller Form Anzeige erstattet. Die Polizei war auch bereits draußen in der Ruinenstadt in dem unterirdischen Tempel der Kali gewesen, hatte jedoch das Nest leer gefunden, was ja vorauszusehen gewesen war.

Lord Edward Wolpoore fragte mich gerade, ob ich denn nicht wüsste, was Harst nun gegen die Bellingson unternehmen würde, als Harald plötzlich wieder auftauchte und ohne sich zu setzen, sagte: »Dardogne ist heute Nachmittag der verschleierten Frau in der Eingeborenenstadt begegnet, wie er mir soeben mitteilte. Er hat sie aber leider nicht erwischen können, obwohl er seine beiden Diener sofort hinterherschickte. Er hat uns eingeladen, mit ihm auf seinem Zimmer zu soupieren. Ich sagte zu. Mylord, dies ist Ihnen doch hoffentlich recht? Dardogne möchte Sie gern kennenlernen. Er ist ein sehr interessanter Mann. Ich denke, wir gehen sofort zu ihm nach oben. Er möchte mit mir noch über eine nächtliche Streife durch das Eingeborenenviertel sprechen. Er meint, die Verschleierte, die ihm die 1800 Pfund stahl, sei vielleicht die Bellingson gewesen. Das ist eine sehr weit hergeholte Vermutung. Möglich ist alles. Vielleicht hat er aber wirklich recht.«

Der Oberst empfing uns wieder in seinem Korbsessel sitzend. Er hatte bereits den Mitteltisch des Salons decken lassen. Auf einem Seitentischchen standen Weinflaschen in Kübeln und Zigarren.

Wir nahmen sehr bald an der kleinen Tafel Platz. Einer der indischen Diener Dardognes trug das Vorgericht auf, eine Fischpastete. Der Oberst füllte die Gläser mit einem scharf duftenden Wein, der oben an der Grenze Nepals wuchs. Über dem Tisch brannte eine elektrische Lampe mit einer Glocke aus farbigen Steinen. Alles war so recht behaglich und gemütlich und ganz auf einen zwanglos-intimen Ton gestimmt.

Der Oberst hob sein Glas. »Das Wohl meiner Gäste! Ich freue mich, zwei so berühmte Männer wie Harst und den größten Plantagenbesitzer Indiens bewirten zu dürfen.« Er meinte mit Letzterem Lord Wolpoore.

Zu aller Erstaunen sagte Harst da, ohne sein Glas zu ergreifen: »Einen Augenblick bitte. Ich möchte, bevor wir Ihnen Bescheid tun, Herr Oberst, noch eine kleine Geschichte erzählen, die ich letztens erlebte. Ich lernte da auf recht abenteuerliche Weise eine Frau, eine noch sehr rüstige Greisin, kennen, die seit dem Tod ihres Mannes nur noch einen Lebenszweck hatte: Rache zu nehmen an dem Geschlecht eines Engländers, der als Beamter ihren Gatten mit gutem Recht hatte hinrichten lassen. Diese Frau, geistig recht bedeutend, dabei eine vortreffliche Schauspielerin, ich möchte fast sagen eine glänzende Komödiantin, ließ durch ihre Verbündeten einen der Nachkommen jenes Engländers eines Nachts überfallen und nahm ihn gefangen. An demselben Abend erschien sie hier im Hotel verschleiert gerade in dem Augenblick vor der Tür dieses Zimmers, als ein anderer der Gäste, ein Herr Molgedey, den Flur entlangging. Sie ließ sich absichtlich von ihm sehen, damit ein Zeuge vorhanden war, der nachher aussagen konnte, er hätte eine verdächtige Person in der halb geöffneten Tür dieses Zimmers bemerkt. Die Frau hatte nämlich Folgendes vor: Sie wollte einen Diebstahl vortäuschen, damit ich mich mit dessen Aufklärung beschäftigen sollte, damit sie also mit mir bekannt würde und mich veranlassen könnte, gerade heute Vormittag die Ruinenstadt zu besuchen, wo sie angeblich die Verschleierte dreimal beobachtet haben wollte. Gerade heute sollte ich nach der Ruinenstadt, um dort mich nach der mutmaßlichen Diebin umzusehen, gerade heute, weil sie mich und meinen Freund Schraut als ihre gefährlichsten Gegner schleunigst unschädlich machen wollte!«

Ich hatte zunächst nicht recht begriffen, was all das wohl bedeuten konnte. Dann aber fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Was mir bisher noch unklar über den Zusammenhang zwischen Oberst Dardogne und dem neuen Attentat auf Lord Wolpoore war, überschaute ich nun bis in die feinsten Einzelheiten. Mein Herz begann zu jagen. Ich sah voraus, was kommen würde.

Und es kam – sofort! Harst hatte sich erhoben. In seiner halb erhobenen Rechten blinkte matt die Mehrladepistole.

»Mistress Bellingson«, fuhr er fort und ließ kein Auge von dem angeblichen Oberst, »ich hätte Sie in dieser tadellosen Maske nie erkannt, wenn Sie so vorsichtig gewesen wären, nicht auch Ihre schmalen Hände unverhüllt zu zeigen. Als Sie heute Vormittag mit der Faust mehrmals auf die Sessellehne schlugen, fiel mir die geringe Größe Ihrer Hände auf. Und als mein Argwohn dann erst erwacht war, wusste ich sehr bald, dass eine Frau hier den Oberst Dardogne spielte. Dann fand ich in der Delhi-Post den Artikel über das Attentat angeblicher Straßenräuber auf Wolpoore. Nun brauchte ich nicht lange zu überlegen, wer diese Frau sein könnte; nun durchschaute ich auch den Diebstahl der 1800 Pfund, der nur ein Köder für mich war! Sie selbst, Mistress Bellingson, waren die Verschleierte, die Molgedey in der Tür dieses Zimmers bemerkte! Sie waren es, die den angeblichen Fremdenführer nach dem Kutab Minar beorderten. Jetzt kann ich Ihnen auch das sagen, was ich Ihnen heute im Tempel der Kali noch verschweigen musste: Ich habe mit dem Auftauchen dieses Fremdenführers gerechnet; ich wartete auf ihn! Und dieses Souper, Mistress Bellingson, sollte für mich die Quittung sein auf die Befreiung Wolpoores! Der Wein hier enthält einen starken Schlaftrunk. Wir, Ihre Gäste, wären dann wehrlos gewesen. In aller Stille hätten Sie uns vier abtun und das Hotel dann verlassen können! So sollte Ihr Sieg über mich aussehen! Das Spiel ist aus – für immer, Mistress Bellingson! Vor der Tür im Flur steht die Polizei. Auch der Hotelpark ist besetzt.« Er nahm ein leeres Weinglas und schleuderte es gegen die Tür. Diese wurde sofort ausgerissen. Zehn, zwölf Beamte stürmten herein.

Maria Bellingson hatte schnell Perücke und falschen Bart entfernt. Sie lächelte ein wenig, als nun zwei Polizisten ihre Arme packten.

»Master Harst«, sagte sie klar und ruhig. »Sie haben recht. Das Spiel ist aus. In drei Minuten bin ich tot. Eins ist Ihnen doch entgangen: dass ich ein Kügelchen Gift verschluckte, als ich mir den falschen Bart abnahm.«

Sie starb wirklich, bevor man sie noch in den unten vor dem Hotel stehenden Polizeiwagen schaffen konnte. Harst gelang es dann noch in derselben Nacht die Vertrauten der Bellingson, acht Inder, sämtlich Thugs, im Eingeborenenviertel festnehmen zu lassen, wobei er abermals bewies, wie er selbst aus den unbedeutendsten Dingen Schlüsse von weitgehendster Bedeutung zu ziehen verstand. Auch die beiden Diener des Obersten Dardogne waren natürlich Mitglieder der Mördersekte. Von diesen zehn Indern wurden vier zum Tode und die Übrigen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Damit waren auch die letzten bisher noch in Freiheit befindlichen Anhänger der blutigen Kali unschädlich gemacht und nun erst konnte Lord Wolpoore wirklich in Ruhe sich seinen Geschäften und seiner Familie widmen.