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Die Gespenster – Vierter Teil – 17. Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil

Siebzehnte Erzählung

Die Todesahnung Herrn Herpers zu Sandau

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Totengräber und Nachtwächter besonders in kleinen Städten sich das Talent zutrauen, vorherbestimmen zu können, ob wieder eine Beerdigung nahe bevorstehe oder wohl gar wer von den Einwohnern des Städtchens der erste Sterbende sein werde. Bald wollen Totengräber des Nachts das Visitiereisen oder die Spaten, deren sie sich zum Grabmachen bedienen, spukhaft poltern gehört haben; bald sehen Nachtwächter vor demjenigen Haus, aus welchem die nächste Leiche getragen wird, einen geistartigen Todesvorboten; bald sind es andere spukhafte Ahnungen, die sie zum Todespropheten machen.

Ist nun aber vollends das Amt des Totengräbers und Nachtwächters in einer Person vereinigt (in kleinen Städten nichts Ungewöhnliches), dann blüht auch gewiss diese Art der Wahrsagerei dort vorzüglich – diese Vereinigung zweier städ­tischer Ämter findet zum Beispiel in dem Magdeburgischen Landstädtchen Sandau bei Havelberg statt. Es würde zu viel Vorliebe für meine Vaterstadt verraten, wenn ich ihr alles Talent zum An­schauen der Geister – d. h. unsichtbaren Wesen – und allen Glauben an eine Art von Allwissenheit jener Todespropheten – nicht selten sehr unwissender Menschenrassen – absprechen wollte. Nein, es ist vielmehr auch hier, wie überall.

Wie untrüglich aber die Erscheinungen sind, welche auch hier die nächsten Todesfälle vorbedeutend anzeigen, davon gibt uns Grabenstein, wohl­bestallter Totengräber und Nachtwächter dort, folgenden redenden Beweis: Grabenstein hatte mit seinem eintönigen Horn in einer heiteren Frühlingsnacht des Jahres 1797 die Stunde der Gespenster angedeutet und eben andächtig gesungen:

Dass die schwarzen Nachtgespenster

uns nicht mögen schrecklich sein.

Als plötzlich dennoch eine geistige Gestalt dicht vor ihm vorüber schwebte und den armen Erschrockenen fast versteinerte. Er erkannte sie auf das Überzeugendste für die vorspukende Doppelerscheinung des gerade damals auf dem Sterbebett liegenden Sandauer Ackerbürgers, Herrn Christian Herpers. Dieser Greis, der damals schon seit drei Monaten hart darnieder gelegen, und kraftlos seiner Auflösung entgegengeharrt hatte, wohnte nicht weit vom Kirchhof. Dieser war zugleich der Begräbnisplatz, von woher der ahnende Geist dem Nachtwächter auch zu kommen schien. Vielleicht hatte sie vorläufig die künftige Ruhestätte der zurückzulassenden Herperschen Hülle beschaut. Der dicht an dem Krankenhaus sehr langsam dahinschwebende Geist war vom Scheitel bis zu den Füßen weiß. Das Gesicht desselben, in der mondhellen Nacht deutlich sichtbar, glich völlig dem Herperschen. Es war das blasse Antlitz eines bereits Verstorbenen. Unser Geisterseher zweifelte daher an dem bevorstehenden, vielleicht gar schon dieser Nacht erfolgten Tod des Herrn Herper, umso weniger, je schärfer er die Erscheinung ganz in der Nähe ins Auge gefasst hatte.

Kaum war der neue Tag erschienen, so verkündete er weissagend das Wunder der Nacht allen gläubigen Seelen des Städtchens. Aufmerksam und schaudernd horchte man auf jedes Wort des Todespropheten; geschwätzig und teilnehmend erzählte man die neue Mär dieses Abenteurers überall wieder. Nach wenig Stunden wusste das ganze liebe Städtchen, was Vetter Herper, obwohl er den Morgen noch lebte, nach des Nachtwächters Aussage, nun ganz nahe bevorstand.

Natürlich nahm die Grabensteinische Wahrsagerei niemand mehr zu Herzen, wie die Herperschen Kinder: seine Tochter, die Frau Schwazen, bei welcher er ganz für sich ein Altenteil bewohnte, und sein Sohn, der benachbarte Bürger und Bäcker, Meister Herper. Beide eilten auf das vernommene Gerücht, dass ein vorbedeutendes Gespenst ihm in der vergangenen Nacht bereits eine Grabstätte ausgesucht und den Totengräber auf das nahe Geschäft des Grabbereitens aufmerksam gemacht habe, zu dem geliebten Alten. Aufrichtig äußerten sie ihm herzliche Teilnahme über den nahen Verlust, der ihnen bevorstehe, und sie taten es umso glaubensvoller, je veränderter sie an diesem Mor­gen die Gesichtsfarbe des Kranken fanden, die auch in der Tat und ganz unleugbar sich plötzlich in die Farbe des Todes verwandelt hatte. Der Greis, der nun schon so lange krank und schwach war, schon so manchen Tag einsam durchlebt, so manche Nacht schlaflos durchwacht hatte, vernahm die Todesbotschaft lächelnd, als freue er sich ihrer.

»Wie Gort will«, erwiderte er, mit aller der Ruhe des Gemüts, die nur und die auch sterbend noch das beglückende Erbteil eines gottgefälligen Lebens ist. »Aber darum«, fügte er hinzu, »weil Grabenstein seit der letzten Mitternacht meinen Tod weissagt, darum kann ich eben nicht auf eine baldige Erlösung hoffen.«

Tochter: »Aber Herzensvater, er hat Euch ja doch zu Mitternacht vor sich vorüberschweben gesehen.«

Vater: »Kinder! Ihr habt mich alten Kranken auch wohl schon zur Mitternacht gesehen; aber bin ich deswegen gestorben?«

Sohn: »Ja, wir sahen Euch selbst, Vater! Nicht Euren Geist, wie Er.«

Vater: »Lieber Sohn, wer hat je einen Geist gesehen?«

Tochter: »Er hat es uns bei seiner Seelen Seligkeit geschworen, dass er in dieser Nacht einen ganz weißen Geist sah, der im Gesicht Euch so gleich war, wie ein Ei dem anderen.«

Vater: »Kinder, bei Eurer Seelen Seligkeit bitte ich Euch nie zu schwören, wie dieser schwor, denn er sah in dieser Nacht, wie er schon oft gesehen haben mag, und wie alle Geisterseher sehen: mit Augen voll Trug und grober Vorurteile.

Tochter: »Verzeiht, Vater! Der Mond schien in der vergangenen Nacht sehr hell, und er ist von dem Geist kaum drei Schritte entfernt gewesen.«

Vater: »Ich weiß es, aber das grobe Vorurteil beobachtet im hellsten Licht so unrichtig als im Finsteren.«

Sohn: »Vielleicht war er betrunken und wusste weder, was er sah, noch was er tat; wenigstens lässt sein Leugnen, mich diese Nacht geweckt zu ha­ben, mich so etwas vermuten. Ich wollte, wie ich Euch auch gestern Abend erzählte, um ein Uhr aufstehen, um zu backen, und fürchtete die Zeit zu verschlafen; aber der Nachtwächter, den ich diesmal aus Vergessenheit nicht bestellt hatte, an mein Kammerfenster zu klopfen, hatte diese Nacht den glücklichen Einfall, es unaufgefordert zu tun.«

Vater: »Aber der hat dich auch nicht geweckt – wenigstens um ein Uhr nicht, wo du aufstehen wolltest.«

Sohn: »Verzeiht, Vater; ich hörte deutlich sein Klopfen ans Fenster und seine Stimme; und dennoch versicherte er heute früh, als ich ihm dafür dankte, er habe mich diesmal nicht geweckt, und selbst – vor großer Angst wegen des hier erblickten Gespenstes – nicht einmal daran gedacht, mich wecken zu wollen.«

Tochter: »Dass sich Gott erbarme! Da mag gar der Geist dich geweckt haben.«

Vater (lächelnd): »Ja wohl ein Geist, und zwar in seiner natürlichen sichtbaren Hülle, in der nämlichen, die ihr hier vor euch im Bett erblickt.«

Sohn: »Wie meint Ihr das, Vater?«

Vater: »Genauso, wie die Worte lauten! Du wünschtest gestern Abend, als ich über Schlaflosigkeit klagte, von deinem zu festen Schlaf mir etwas abgeben zu können, indem du fürchten müsstest, auch heute früh wieder, die rechte Backzeit zu verschlafen: Um Mitternacht, wo ich noch kein Auge zugetan hatte, dachte ich daran. Ich versuchte …«

Sohn: »Doch wohl nicht gar, mich zu wecken?«

Vater: »Jawohl, dich zu wecken – und es gelang mir auch. Zwar musste ich mir Zeit nehmen, um bei meiner Kraftlosigkeit erst nur aus dem Bett, dann aus dem Haus und bis zu deinem Kammerfenster hinzukommen. Ich glaube, ich habe auf die fünfzig Schritte bis dahin fast eine Viertelstunde zugebracht.«

Sohn: »Die Stimme dessen, der mich weckte, wäre also nicht die des Nachtwächters gewesen?«

Vater: »Es war die meine. Der Nachtwächter ging stumm wie ein Fisch vor deinem Fenster und stolpernd wie ein Epileptiker vor mir vorüber.«

Sohn (nachdenkend): «So mag er nur Euch und kein Gespenst gesehen haben?«

Vater: »Unstreitig nur mich und kein Gespenst. Er entsetzte sich, mich alten schwachen Mann um Mitternacht hier zu erblicken, als sähe er ein Gespenst. In seiner kindischen Angst vergaß er sogar an unserer Straßenecke abzurufen; auch kam er die ganze übrige Nacht hier nicht wieder vorbei.«

Tochter (voll zweifelnder Verwunderung): »Ist es möglich! Aber … aber, der Geist, den Grabenstein vor unserer Tür sah, war ja ganz weiß? Vom Kopf bis zu den Füßen weiß!«

Vater: »Ich war im Hemd, liebe Tochter, und mit dieser weißen Mütze bedeckt.«

Tochter: »Im Hemd? Um Gottes Willen, da werdet Ihr Euch gewaltig erkältet haben.«

Vater: »Ich fürchte selbst, dass es mir nicht gut bekommen wird – wenigstens ist mir heute gar nicht wohl zu mute.«

Sohn: »Armer Vater! Ihr habt es so gut gemeint!«

Die Tochter zweifelte noch einige Augenblick und stotterte noch einige Aber hervor, die indessen insgesamt von dem guten Alten glücklich geho­ben wurden. So überzeugte er nun seine Kinder, und alle, die es hörten, dass der vermeintliche Todesprophet Grabenstein einmal wieder mit Augen voll Trug und grober Vorurteile gesehen und den langsam fortschleichenden Vater Herper selbst für den sanft dahinschwebenden Geist desselben gehalten hatte.

Übrigens verdient aber der Nachtwächter wegen seiner falschen Deutung dessen, was er sah, und worauf er seine Fehlschlüsse baute, für diesmal allerdings einigermaßen entschuldigt zu werden, denn wer in aller Welt hätte auch nur denken sollen, dass ein kraftloser Greis, der seit einem Vierteljahr fast nicht aus dem Bett gekommen war und von dem ganz Sandau mit jedem neuem Tag fester glaubte, dass der gegenwärtige sein Letzter sein werde, auf den höchst sonderbaren Einfall kommen werde, um Mitternacht im Hemd seinen Sohn wecken zu wollen? Wirklich musste auch der gute Alte für seinen Einfall büßen, denn er hatte sich in der kühlen Nacht so sehr erkältet, dass er von Stund an kränker wurde, bis ihn endlich einige Wochen nach diesem belehrenden Vorfall ein sanfter Tod erlöste.

Lassen Sie, meine Leser, uns den leicht möglichen Fall annehmen, die außerordentliche Erkältung hätte auf den schwachen Greis so mächtig gewirkt, dass die seinen ihn am nächsten Morgen im Bett schon sprachlos oder gar tot gefunden hätten: Was würde dann aus dieser ganz natürlichen sogenannten Ahnung des vermeint­lich spukenden Sterbenden geworden sein? Hätte man es dann dem Nachtwächter verargen können, wenn er bis an sein Lebensende an Todesahnungen und Geistererscheinungen geglaubt hätte?

Wie, wenn nun vollends der Kranke noch vor der Entdeckung, dass er gerade in dieser Nacht den Sohn geweckt hatte, sprachlos ge­worden oder gar gestorben wäre? Wie, wenn der Geisterseher den Sandauern sein spuk­haftes, nächtliches Abenteuer offenbart gehabt hätte, eher jene aufklärende Entdeckung auch nur möglicher Weise zu seiner Kenntnis gekommen sein konnte? Würde dann die vermeinte Glaubwürdigkeit der anscheinenden Wunder der Nacht nicht auf das Auffallendste bewährt worden sein? Würde man nicht geglaubt haben, annehmen zu müssen, dass ahnende Geister nicht nur erscheinen, sondern auch sogar ans Fenster klopfen und rufend die Schlafenden aufwecken können?