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Lorenz, der hinkende Wirt am langen Steg – Kapitel 2

Lorenz, der hinkende Wirt am langen Steg
verfolgt von einem Hexenfluch
Ein höchst belehrendes Volksgeschichtchen für jedermann
Verlag der J. Lutzenberg’schen Buchhandlung, Altötting, ca. 1860

2. Kapitel

Herkunft und frühe Jugendjahre des hinkenden Wirtes

Nachdem wir vom Wirtshaus am langen Steg gehört haben, ist es an der Zeit, auch von dem hinkenden Wirt Lorenz zu lesen.

Sein Großvater war ein wohlhabender und angesehener Bauer in der Nähe des Pfarrdorfes im Tal und besaß nicht nur ein schönes Heimatgut, sondern auch ein Zulehen; zwar auf einem Berg, aber für seine Wirtschaft sehr nützlich.

Dieser Mann aber hatte das seinige verloren, ohne dass man sich erklären konnte, wie und warum. Nicht gewaltige und plötzliche Unglücksschläge, als da sind: Feuersbrünste, Wolkenbrüche, Überschwemmungen, Hagelschläge, schlechte Jahre, feindliche Einfälle, Viehseuchen und dergleichen, die ihn um Hab und Gut brachten, sondern oft wiederholte, scheinbar kleine und leicht zu ertragende Unglücksfälle. Auch war er gewiss nicht leichtsinnig oder arbeitsscheu oder tölpelhaft in seiner Haushaltung, in Handel und Wandel, oder wagte zu viel auf Spekulation, oder war etwa ein gottloser Mensch geworden, dem das Glück gewöhnlich den Rücken kehrt. Nein, plötzlich kam es über ihn, dass ihm nichts mehr gelang und alles misslang. Er konnte anfangen, was er wollte. Von Haus und Hof, von den Äckern, vom Zulehen und von der Alm, ja von seinem Wald, kurz von allem, was er besaß, von A bis Z, schien der Segen Gottes verschwunden, und alles, was er unternahm, endete mit Verlust und Schaden.

Wahrlich, langsam marternd und stechend trieb ihn das Unglück oder der Unreim zum unvermeidlichen Abhausen. Wäre er ein gottloser Bauer oder ein bloß weltkluger Mensch gewesen, er hätte verzweifeln müssen. Allein, er war ein guter Christ und bewies erst jetzt, in der Stunde seiner drohenden Verarmung, dass sein Christentum nicht hohl war, sondern einen frischen Kern hatte. Er tröstete sich wie Hiob: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn.« Er tröstete sich mit dem guten Gewissen, dass nicht Müßiggang und Trägheit, nicht ungerechter Besitz, nicht übertriebener Aufwand, nicht ein sündiges und gottvergessenes Leben schuld an seinem Verfall und damit eine Strafe Gottes war. Ja, er verlor nie den Mut und das Gottvertrauen, wenn auch seine Unglücksfälle Schlag auf Schlag kamen, schränkte seine Anstrengungen ein, wie er nur konnte, suchte sich und die Seinen von der Sünde zu reinigen und zu bewahren, betete mit den Seinen immer inbrünstiger zu Gott und sprach oft: “Wenn wir auch alles in dieser Welt verlieren, so wollen wir doch nur unsere Seele retten!«

Es gab aber Leute, die sich einbildeten, der Großvater sei in seinem Reichtum ein harter und filziger Mann gewesen, der nicht selten arme Leute aus seinem Haus wies und einmal von einer Witwe, die er auf listige Weise um das ihrige gebracht hatte, mit einem furchtbaren Fluch auf Kind und Kindeskinder belegt worden war.

Diese Witwe, die man lange Zeit Greth genannt habe, sei eine Hexe gewesen, die aus Bosheit und Rachsucht manchem Böses angetan habe und selbst von ihren eigenen Leuten am meisten gefürchtet worden sei. Sie sei auch nicht nach der Art eines ordentlichen Christenmenschen gestorben, sondern nach einer schrecklichen Sturmnacht nicht mehr zum Vorschein gekommen. Namentlich in den Spinnstuben, wo man solche scheußlichen Lügen und Schauergeschichten, bei denen manchem die Haare zu Berge stehen wollen, das Atmen schwer wird und man sich dann im Dunkeln kaum noch wohin zu schauen und zu gehen traut, so gern aufzutischen und anzuhören pflegt, statt sich Wahres, Erbauliches und ordentlich Unterhaltsames zu erzählen, wovon es doch auch viel gäbe, hatte sich dieses Gerücht von dem Großvater des Lorenz und dem Hexenfluch und ihrem Verschwinden immer weiter verbreitet. Ob und was nun daran wahr gewesen, wird wohl kein Sterblicher mit Sicherheit erfahren; Tatsache aber war und ist, dass der einst reiche und angesehene Großvater des Lorenz gänzlich verschwunden war, ohne dass man ihm eine sichtbare Schuld daran zuschreiben konnte, und dass es die Meinung vieler war, eine unsichtbare Macht habe ihn zu Grunde gerichtet. Nur das schon erwähnte Zulehen auf dem Berge sei ihm von seinem einstigen schönen Besitz geblieben, und dorthin habe er sich zurückgezogen, wo er auch bald darauf gestorben sei.

Dieses Zulehen nun war dem Vater des Lorenz als sein Eigentum geblieben, nämlich eine armselige Hütte, wo in seinen besseren Tagen eine Kuh und eine Geiß im Stall standen, wo er alljährlich für den Winter ein Schwein zu schlachten hatte und wo er auch in guten Jahren von seinen wenigen mageren und mühseligen Äckern mehr Hafer und Erdäpfel einbrachte, als er für sich und die Seinen brauchte.

Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, suchte er auch Verdienst durch Tagelohnarbeit bei größeren Besitzern im Sommer und im Winter durch allerlei Arbeiten mit Holz, Horn und Bein sowie mit Reisig, Zweigen und Wurzeln für den Bedarf der Hauswirtschaften. Allein, trotz Fleiß und Geschicklichkeit kam er nicht auf einen grünen Zweig.

Jeder Jahrgang brachte ein Kind, aber der Tod holte regelmäßig eines, und die Wiege des Neugeborenen und der Sarg des Verstorbenen standen mehrmals nebeneinander.

Wenn ihn die Not oft sehr drückte, oder wenn allerlei unglückliche Umstände eintraten, so dachte er wohl flüchtig an den Fluch der langen Greth, der noch hier und da erzählt wurde und der auf Kind und Kindeskind fiel; aber die lebendige Erinnerung an die Glaubenslehre, dass der dreieinige Gott und sein Reich doch mächtiger sei als der Teufel und sein ganzes Gefolge, und dass ohne Wissen und Willen des himmlischen Vaters kein Sperling vom Dach und kein Haar vom Haupt falle, hatte ihn immer wieder aufgerichtet und getröstet.

Eines Tages, mitten im Winter, brach in seiner Hütte ein Feuer aus. In kurzer Zeit brannte seine Hütte bis auf die Grundmauern nieder. Wer je eine solche Hütte gesehen hat, aus Holz, mit ihrer Umgebung von lauter feuerfangenden Gegenständen, in ihrer Abgeschiedenheit von Häusern, Menschen und rettenden Händen, dem wütendsten Sturm und Gewitter ausgesetzt, dazu mit einem winzigen Brünnlein, das nicht selten im Winter ganz ausbleibt oder zufriert, der wird sich nicht wundern, dass eine Feuersbrunst mit so einer Hütte und mit allem, was sie enthält, bald zu Ende ist.

Dem Vater des Lorenz aber verbrannte nicht nur die Hütte mit allem Hausgerät, nicht nur die Kuh und die Geiß, sondern der arme Mann, der selbst nur mit Mühe und Not mit seinem Lorenz dem Verbrennen entging, musste am anderen Morgen die wenigen Überreste seines verbrannten Weibes, das er wie seine Seele geliebt hatte, aus der Brandstätte herausholen. Von seinem jüngsten Kind fand er nichts mehr.

Dieses traurige, für einen Mann und Vater erschütternde Ende seiner Frau und seines Kindes brach ihm die Lebenskraft. Er klagte nicht, er weinte nicht, aber in verdächtiger Eile verließ er den Ort des Unglücks.

Sein entfernter Nachbar, ein wohlhabender Bauer, geleitete ihn in sein Haus. Dort erkannte man bald an seinem Benehmen, vor allem aber an dem unbegreiflichen Ekel, seinen nunmehr einzigen Sohn Lorenz auch nur einmal wiedersehen zu wollen, und an seinem furchtbaren Geschrei: »Lorenz, Lorenz, du Unglückskind! Du verfluchtes Kind! Der Fluch der langen Greth liegt auf dir. Du hast Feuer gelegt, du hast deine Mutter verbrannt, du hast deine Schwester verbrannt«, dass der arme Mann dem Wahnsinn verfallen sei; denn es war nicht die geringste wirkliche Ursache zu solchen anklagenden Ausrufen gegen seinen Sohn vorhanden.

Es musste in dem Unglücklichen aufgestiegen sein und sich ihm vorgestellt haben, was er vielleicht schon in jungen Jahren von unvorsichtigen, leichtsinnigen Erzählern und Erzählerinnen über die lange Greth und ihren Hexenfluch gehört hatte. Ein schreckliches Beispiel dafür, wie oft durch solche Geschichten ein böser Same in die Herzen der Kinder gelegt wird, der seiner Zeit so schreckliche Früchte trägt.

Lorenz’ Vater wurde in das Armenhaus der Gemeinde gebracht, wo er glücklicherweise bald starb.

Lorenz, der vierzehnjährige Knabe, war nun wohl ein sehr armes Waisenkind, sein zwar armes, aber doch, seine Heimat war mit Mutter und Schwesterchen verbrannt, der Vater so jämmerlich gestorben; aber der himmlische Vater war für ihn nicht gestorben. Der gute Nachbar nahm ihn an und auf, als seinen Hüterbuben. Manches Gerücht wurde nun wieder lauter, dass man der langen Greth den Hexenzauber nicht absprechen könne, da sie den Großvater zum Abhausen gebracht, den Vater so schrecklich zu Grunde gerichtet habe und nun gewiss auch über den Buben kommen werde; denn ihr Fluch ging ja über Großvater, Kind und Kindeskind, allein der Bauer fragte nicht nach solchem Gerücht. Als auch seine Bäuerin anfing, Bedenken gegen die Annahme des Buben zu äußern, sagte er zu ihr: „Hex hin! Hex her! Darauf achte ich nicht, sondern darauf, dass der arme Lorenz jetzt niemanden mehr hat, dass er ein frischer, starker und wohlgeformter Bub ist, dass er seine fünf guten Sinne hat und ein tüchtiger Arbeiter werden kann, und dass wir ein gutes Werk tun, wenn wir uns um ihn kümmern. Darauf sagte die Bäuerin nur: “Nun, in Gottes Namen.«

Obgleich meist die Stelle eines Hüterbuben bei einem Bauern nicht viel Anziehendes hat, und ein solcher Bursche, besonders an Orten, wo man auch seine Mitmenschen nur nach dem schätzt, was sie eintragen und einbringen, auf der Weide, bei Sturm und Gewitter, Schnee und Regen, oft ohne Schuhe und schützende Kleider sein muss, wenig und schlechte Kost erhält, dafür aber viel Scheltworte, ja auch viel Schläge, oft eine Liegestatt hat wie ein Hund, und wenn die Dienstherren selbst leichtsinnig und nachlässig sind, von übermütigen Knechten und Mägden Dinge sehen und hören müssen, die sie frühzeitig in Grund und Boden verderben können, so war solches bei dem Hüterbuben Lorenz nicht der Fall. Seine Pflegeeltern waren es nicht bloß dem Namen nach, sondern auch wirklich vor Gott und der Welt, d. h. sie beuteten den Knaben nicht bloß zu ihrem Nutzen aus, sondern erzogen und pflegten ihn auch christlich zur Ehre Gottes und zu seinem eigenen Wohl und Heil.

Lorenz ehrte auch seine Pflegeeltern, d. h. er hatte eine kindliche Ehrfurcht und Liebe gegen sie, vergaß keinen Tag, Gott und ihnen zu danken für die große Barmherzigkeit, mit der sie ihn in seiner größten Not und Verlassenheit aufgenommen und gepflegt hatten, wie er es zu Hause nie gehabt hatte, und machte sich in seiner Stellung so gut, dass selbst der Oberknecht ein gutes Zeugnis von ihm geben musste und gab. Nur hier und da wollte dieser bei dem sonst so fröhlichen Knaben einen Anflug von auffallender Trübsinnigkeit und Schwermut bemerkt haben.