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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 3 – 1. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 3
Das Rätsel am Spieltisch
1. Kapitel

Drei Telegramme

Mr. Sherlock Holmes, Baker Street, London.
Sofort abreisen. Erwarte Sie morgen Abend. Monte-Carlo, Hotel Paris. Wenn nicht pünktlich dort, werde Op­fer eines Verbrechens werden. Retten Sie Ihren Freund
Frederic Woodville

Sherlock Holmes stand in seinem Schlafzimmer vor einem kleinen an der Wand hängenden Spiegel und rasierte sein hageres Gesicht, als Harry Taxon ihm dieses Telegramm überbrachte.

Er befahl Harry, dasselbe zu öffnen und ihm vorzulesen.

»Au«, rief Sherlock Holmes und zog das Messer schnell zurück, »ich habe mich geschnitten. Merke dir, Harry, dass man niemals von dem Inhalt eines Briefes oder einer Depesche Kenntnis nehmen soll, wenn man gerade das Rasiermesser über die Wange oder über das Kinn führt. Gib mir ein wenig Wasser und den Alaunstift. So, es hört schon auf zu bluten. Und jetzt, Harry, während ich meine Toilette vollende, schlage das Kurs­buch auf und sieh nach, wie wir am schnellsten nach Monte-Carlo kom­men.«

Harry eilte ins Nebenzimmer und holte ein dickleibiges Kursbuch herbei und zugleich eine Karte, die er vor sich auf dem Tisch ausbreitete. Er suchte emsig darauf, aber, wie es schien, ohne Erfolg.

»Harry, wenn du ein tüchtiger De­tektiv werden willst«, rief Sherlock Holmes, indem er seine einfache Kra­watte vor dem Spiegel knotete, »so musst du vor allem ein guter Geo­graph werden. Ein Mensch, der die Erde, die er von Verbrechern und anderem Gesindel reinigen soll, nicht kennt, kommt mir vor wie ein Blinder, den man mutterseelenallein auf einem Marktplatz stehen lässt. Wir werden am besten tun, wenn wir das nächste Paketboot, welches den Kanal kreuzt und nach Frankreich hinübergeht, be­nutzen. Wie spät ist es jetzt?«

»Sieben Uhr, dreizehn Minuten früh«, gab Harry Taxon zur Antwort, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte.

»Da kommen wir noch bequem zum Zug zurecht«, rief Sherlock Hol­mes, während er in die Ärmel seines Rockes hineinfuhr. »Der Zug verlässt um acht Uhr, zehn Minuten Victoria Station, um neun Uhr, fünf Minuten werden wir in New Haven eintreffen und das Paketboot für Dieppe bestei­gen. Wir werden mithin«, Sherlock Holmes entledigte sich seiner gestickten Pantoffel und zog die Straßenschuhe an, »wir werden mithin, da die Fahrt bei gutem Wetter acht Stunden dauert, etwa um sechs Uhr nachmittags in Frankreich sein. Und jetzt, Harry, sieh einmal die Verbindung zwischen Dieppe und Paris nach. Mrs. Bonnet, mein Frühstück, wenn ich bitten darf – schnell, schnell!«

Die letzten Worte hatte Sherlock Holmes zur Tür hinausgerufen, und es dauerte nicht lange, so brachte Mrs. Bonnet, die alte Wirtschafterin, das Gewünschte herein.

»Dieppe – Paris«, sagte Harry, »Schnellzug um ein Uhr mittags.«

»Können wir nicht brauchen. Wei­ter.«

»Sechs Uhr, siebenunddreißig Minu­ten von Dieppe ab«, verkündigte Harry, »neun Uhr, fünfundfünfzig in Paris.«

»Bravo«, rief Sherlock Holmes. »Jetzt darfst du dafür frühstücken, denn das Übrige kann ich dir so ungefähr aus dem Kopf hersagen. In Paris haben wir eine volle Stunde Zeit, welche wir zum Speisen benutzen werden. Übrigens müssen wir auch auf den Lyoner Bahnhof. Um Punkt elf Uhr geht der Luxus-Express-Train ab, der in der Rivierasaison die Verbindung zwischen Paris und Monte-Carlo her­stellt. Dieser Zug geht über Lyon, Avig­non, Marseille, Toulon, Cannes, Nizza und Monte-Carlo. Und wenn er sich nicht, was höchstens selten passiert, verspätet, so müssen wir morgen Abend neun Uhr auf dem Bahnhof in Monte-Carlo und um neun Uhr, zehn Minuten im Hotel de Paris sein, wo wir Lord Frederic Woodville oder seine Leiche finden werden.«

Viel länger als die Auseinanderset­zung der Reiseroute dauerte das Früh­stück nicht, welches Sherlock Holmes an diesem Morgen einnahm. Auch Harry sputete sich, da er die Kinn­backen seines Herrn und Meisters in rastloser Tätigkeit sah, und erhob sich sofort, als Sherlock Holmes vom Tisch aufstand.

»Was soll ich mitnehmen?«, fragte Harry.

»Unser Reisekoffer ist ja immer ge­packt«, antwortete Sherlock Holmes, »und der enthält alles, was wir zur Ausübung unseres Berufes brauchen. Wirf also nur noch in die Ledertasche einige frische Wäsche, während Mrs. Bonnet einen Wagen holt, der uns nach Victoria Station bringen wird.

Leben Sie wohl«, sagte Sherlock Holmes zehn Minuten später zu sei­ner Wirtschafterin, indem er ihr die Hand reichte. »Halten Sie, wie immer, die Türen meiner Zimmer gut ver­schlossen. Niemand hat das Recht, dieselben zu betreten. Vermutlich werde ich spätestens in acht Tagen wieder in London sein. Ankommende Briefe oder Depeschen senden Sie mir innerhalb der nächsten fünf Tage nach Monte-Carlo postlagernd unter dem Namen Thomas Smith. Auf Wieder­sehen, Mrs. Bonnet.«

Sherlock Holmes eilte die Treppen des Hauses hinab. Er betrat die Straße, und Harry hielt den Kutschenschlag schon geöffnet.

»Mr. Sherlock Holmes, ein Tele­gramm für Sie!«

Ein Messenger-Boy, einer jener vielen Knaben, die in London das Austragen der Depeschen besorgen, da der Engländer es unnötig findet, für dergleichen leichte Dienste die Kraft eines Erwachsenen in Anspruch zu nehmen, tauchte vor Sherlock Holmes auf und reichte ihm aus seiner roten Ledertasche ein Telegramm.

Noch ehe Sherlock Holmes den Wa­gen bestieg, erbrach er die Depesche und las:

Gefahr eminent, wenn Sie nicht morgen 9 Uhr in Hotel de Paris, Monte- Carlo – Katastrophe unvermeidlich.

Sherlock Holmes faltete die Depe­sche zusammen und steckte sie in die Brusttasche seines Rockes, dann sprang er in den Wagen hinein. Der Kutscher ließ seine Pferde im schnellsten Trab gehen, denn Harry Taxon hatte ihm eingeschärft, dass er spätestens acht Uhr vor Victoria Station halten müsse.

Es fehlten aber noch fünf Minuten bis acht Uhr, als der Detektiv und sein jugendlicher Begleiter ausstiegen, und mit der größten Ruhe konnten sie in dem Zug, der für die Passagiere nach New Haven bereitstand, Platz nehmen.

Die kleine Hafenstadt New Haven wurde fahrplanmäßig erreicht und bald nach der Ankunft befanden sich Sherlock Holmes und Harry Taxon an Bord des Paketbootes. Ersterer legte sich, nachdem sie ihre Sachen in der Kajüte geborgen hatten, in einen der Klappstühle, die auf Deck standen, und Harry nahm an seiner Seite auf einem kleinen aufstellbaren Sessel Platz.

Es war ein wundervoller sonniger Wintertag, wie man ihn an der Küste Englands selten hat. Es lag kein Nebel auf der ruhigen spiegelglatten See, über welcher sich der hellgraue Himmel wölbte.

Heute, am 17. Februar, war der Reise­verkehr nicht allzu groß, während diese Paketboote, welche die schnellste und angenehmste Verbindung zwischen der englischen und französischen Kü­ste herstellen, im Frühling, Sommer und wohl auch im Herbst unleidlich überfüllt sind. Die meisten Passagiere hatten es überdies vorgezogen, unten in dem behaglichen Restaurationsraum zu bleiben, während Sherlock Holmes oben auf Deck seine kurze Pfeife rauchte und ab und zu mit Harry einige Worte wechselte.

»Darf ich mir jetzt die Frage erlau­ben, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Harry, nachdem sie etwa eine Stunde lang auf Deck gesessen hatten, »welche Bewandtnis es eigentlich mit dem Te­legramm hat, das Ihr heute Morgen während des Rasierens erhalten habt, und zu dem auch sicherlich die zweite Depesche gehörte, die Ihr beim Bestei­gen des Wagens in London in Emp­fang nahmt?«

»Fragen darfst du eigentlich nicht«, antwortete Sherlock Holmes, während er sich aufs Neue seine Pfeife stopfte, »aber da ich wünsche, dass du über diesen Fall orientiert bist, so werde ich die Muße, die wir während der Über­fahrt haben, benutzen, dir mitzuteilen, was du über die Sache wissen sollst. Bevor ich jedoch meine Erklärungen beginne, wünsche ich einige Fragen an dich zu richten.

Ich habe ein Telegramm aus Monte- Carlo bekommen, nach dessen Emp­fang ich mich sofort entschlossen habe, abzureisen. Findest du das nicht ein wenig unvorsichtig von mir? Könnte es nicht eine Falle sein, um mich für einige Zeit aus London zu entfernen?«

»Ich denke mir«, erwiderte Harry, »dass Ihr, Mr. Sherlock Holmes, nicht abgereist wäret, wenn Euch nicht irgendetwas in der Depesche unzwei­felhaft bewiesen hätte, dass ihr Inhalt ernst gemeint sei.«

»Bravo, mein Junge«, rief Sherlock Holmes, »du triffst ins Schwarze hinein. Erinnerst du dich, dass es in der Depesche hieß: ›Retten Sie Ihren Freund Frederic Woodville‹?

Nun siehst du, Harry, das Wort Freund muss unbedingt in jeder De­pesche vorkommen, welche ich von Woodville erhalte, so ist es zwischen mir und Lord Frederic Woodville verabredet. Wäre das nicht der Fall gewesen, so wäre es mir gar nicht ein­gefallen, einen Schritt aus dem Haus zu tun.«

»Ihr wusstet es schon, dass sich Lord Woodville in Monte-Carlo befand?«, fragte Harry.

»Ja, ich wusste es. Er hat mir vor seiner Abreise mitgeteilt, dass er sich vier Wochen in Monte-Carlo aufhalten würde, oder vielmehr, ich habe ihm den Rat erteilt, dort hinzugehen und wenigstens vier Wochen dort zu blei­ben.«

»Lord Frederic hatte also Veranlas­sung, London zu meiden?«

»Er hatte sie.«

»Wird er von der Polizei verfolgt?«

»In diesem Fall hätte ich ihm doch gewiss keinen Rat gegeben, wie er sich verbergen sollte. Nein, Lord Frederic besitzt einen unversöhnlichen Feind, der ihm seit zwei Jahren beständig nach dem Leben trachtete. Nicht weniger als viermal hat es jener schon versucht, den Lord zu beseitigen.

Vor zwei Jahren, als Lord Frederic sich auf dem Weg von Bombay nach Southampton befand, wurde in der für ihn bestimmten Kajüte, kurz bevor das Schiff den Hafen von Bombay ver­ließ, ein starker Karton mit der Bitte abgegeben, denselben in die Kajüte des jungen Lords zu stellen. Der Karton enthielt eine letzte Überraschung für ihn, die ihm ein Freund zugedacht hatte.«

»Lord Frederic hat sich also längere Zeit in Indien, aufgehalten?«

»Er hat Indien bereist, um sich das Wunderland gründlich anzusehen«, antwortete Sherlock Holmes. »Du musst nämlich wissen, dass Lord Frederic sehr reich ist. Noch vor zwei Jahren hieß er Baronet Frederic Woodville. Da starb plötzlich sein Vater, und Fre­deric erbte von ihm den Lordtitel und ein ungeheures Vermögen. Der Tod seines Vaters war auch der Grund, weshalb er seinen Aufenthalt in Indien unterbrechen musste. Kaum erreichte ihn die Nachricht von dem Ableben seines Vaters, als er sich in Bombay einschiffte, um mit der COLUMBIA nach England zurückzukehren.«

»Ich ahne bereits«, unterbrach Harry den Erzählenden, »in diesem Karton befand sich ein Sprengstoff. Der unversöhnliche Feind, den Lord Frederic Woodville hat, hoffte, dass die Höllenmaschine in demselben Augen­blick, in welchem der junge Edelmann den Karton öffnete, explodieren und ihn in Stücke zerreißen würde.«

»In Indien hat man für solche Zwecke Besseres als eine Höllenmaschine, wel­che sehr schwer zu konstru­ieren ist und nicht immer ganz sicher funktioniert«, nahm Sherlock Holmes wieder das Wort. »Als Sir Frederic sich anschickte, den Karton zu öffnen, hörte er plötzlich im Inneren dessel­ben ein verdächtiges Rascheln. Viel­leicht wusste er damals schon, dass er verfolgt würde und dass man es auf sein Leben abgesehen hatte. Kurz, er war vorsichtig genug, den Kapitän und den Arzt herbeizurufen. Er zeigte ihnen den Karton und machte sie darauf aufmerksam, dass in demselben nach seiner Meinung eine oder mehrere Ratten eingesperrt seien. Der Kapitän bohrte nun vorsichtig ein kleines Loch mit seinem Taschenmesser in den Deckel des Kartons und blickte hinein. Was er in dem Karton sah, veranlasste ihn, denselben in den Maschinenraum hinab tragen zu lassen und den Befehl zu geben, den Karton vierundzwanzig Stunden lang in eine der Abzugsrohren des Dampfkessels hineinzuhängen. Da diese Abzugsrohre beständig von sie­dendem Wasser umspült werden, kann natürlich nichts Lebendes längere Zeit darin bestehen.

Nach vierundzwanzig Stunden wurde der Karton wieder auf Deck gebracht und da man das verdächtige Rascheln nicht mehr hörte, wurde er geöffnet. Man fand darin drei Kobras – drei von jenen furchtbaren Giftschlangen

Indiens, deren Biss unbedingt tötet. Die Reptilien waren selbstverständlich tot, und man warf sie über Bord ins Meer.«

Sherlock Holmes machte eine kleine Pause in seiner Erzählung, legte sich bequem in seinem Lehnsessel zurecht und fuhr dann in seiner Erzählung fort.

»Sir Frederic hätte durch diesen Vor­fall gewarnt sein sollen, aber jedenfalls war er der Meinung, dass ihm nur in Indien Gefahr drohe und nicht auch in England. Er bewegte sich ungeniert in London und machte in fast unverzeihlicher Nachlässigkeit den Fehler, mich nicht sofort von dem seltsamen Vorfall, der sich auf der COLUMBIA abgespielt hatte, zu un­terrichten.

Vier Monate nach seiner Ankunft in London wurden in der Regent Street zwei Schüsse auf ihn abgegeben, als Lord Frederic in seinem Coupé durch die Straße fuhr. Eine der Kugeln verwundete den Kutscher leicht, die andere zertrümmerte beide Fensterscheiben des Coupés, verletz­te aber den Lord, der tief in dem Polster des Wagens lehnte, nicht im Geringsten.

Der Attentäter wurde leider nicht er­mittelt. Damals herrschte in der Regent Street ein starker Menschenverkehr, und der nach übereinstimmender Aus­sage von Augenzeugen wie ein Flei­schergeselle gekleidete Attentäter war plötzlich in einem der Häuser oder im Menschengewühl verschwunden.

Acht Tage später entdeckte Sir Frederic in einer Pastete, die ihm sein Koch vorgesetzt hatte, eine Stecknadel, die wahrscheinlich dazu bestimmt war, ihm den Magen zu durchbohren. Der Koch wurde verhaftet. Der Mann be­wies aber, dass er die größte Sorgfalt auf die Zubereitung der Pastete verwendet hatte. Es war klar, dass die Stecknadel wirklich nur durch ein Versehen in den Pastetenteig hineingekommen sei, oder dass sie ein Individuum, das zur selben Zeit Fische zum Kauf in der Küche angeboten hatte, in den Teig bugsiert haben müsse.

Ich persönlich glaube an die Schuld dieses unbekannten Fischhändlers. Der Koch wurde noch vor dem Hauptverfahren in Freiheit gesetzt.

Lord Frederic wurde es hierauf ein wenig ungemütlich in London, und er wollte nach Paris gehen, um sich dort ein wenig zu zerstreuen. Auf dem Weg von Havre, in dem Schnellzug, der für Paris bestimmt ist, nahm er in einem Coupé erster Klasse Platz, und zwar allein. Auf einer Zwischenstation stieg ein elegant aussehender schwarz­bärtiger Mann zu ihm ins Coupé ein, grüßte höflich und nahm ihm gegen­über Platz. Plötzlich, als der Zug in schnellster Fahrt begriffen war, warf sich der Schwarzbärtige auf den Lord und versuchte ihm ein Dolchmesser in die Brust zu stoßen. Die Spitze des Messers glitt aber an der Schnalle des Hosenträgers, den Lord Frederic trug, ab. Der junge englische Edelmann, der außerordentlich kräftig ist, hatte Geistesgegenwart genug, das Handge­lenk seines Gegners zu packen und es so heftig herumzudrehen, dass das Dolchmesser der mörderischen Hand

entfiel. Im nächsten Moment gab Lord Frederic das Notsignal. Aber bevor der Zug hielt, hatte der Schwarzbärtige die Coupétür aufgerissen und war aus dem Zug hinausgesprungen. Man fand zwar Fußspuren des Schurken, doch derselbe war im nahen Wald verschwunden und wurde, trotzdem sogleich die ganze Gendarmerie der Ortschaft auf die Beine gebracht wur­de, nicht entdeckt.

Nach einigen Monaten kehrte Lord Frederic aus Paris wieder zurück. Kaum aber hatte er Woodville House bezogen, so brach eines Nachts eine fürchterliche Feuersbrunst aus. Lord Frederic, der aus dem Bett sprang, um sich zu retten, fand die Tür seines Schlafzimmers verschlossen und vor seinem Fenster ein Eisengitter, das sich am Abend vorher noch nicht vor demselben befunden hatte.«

»Wie lässt sich denn dies erklären, Mr. Sherlock Holmes?«, fragte Harry Taxon.

»Ziemlich einfach. Während der junge Lord fest schlief, hat man von außen das Eisengitter vor dem Fenster befestigt. Das Fenster des Schlafzim­mers ging auf den Garten hinaus, sodass die Verbrecher ungestört arbei­ten konnten. Es gibt Eisengitter, welche nicht in die Mauer eingelassen, sondern angeschraubt werden, ohne dass das Mauerwerk wesentlich geöff­net zu werden braucht.«

»Und wie entkam der Lord der Gefahr?«

»Die Feuerwehr war glücklicherweise schnell zur Stelle. Einige beherzte Män­ner eilten auf die jammernden Versicherungen des Kammerdieners, dass sein Herr sich noch im Schlafzimmer befände, mit Rauchhelmen versehen durch die Flammen, schlugen die Tür ein und trugen Frederic bewusstlos und halb erstickt ins Freie hinaus. Der junge Lord wurde gerettet.

Das war das fünfte Attentat, das man in einem Zeitraum von noch nicht zwei Jahren gegen sein Leben unternommen hatte.

Ich habe Sir Frederic gekannt, als er noch ein ganz junger Mann war«, fuhr Sherlock Holmes nach einer kleinen Pause fort. »Ich hatte Gelegenheit, sei­nem Vater einmal einen Dienst zu lei­sten, der alte Lord schätzte mich sehr, und ich war oft Gast in seinem Haus.

Als ich nun von jener Feuersbrunst las und von der Gefahr, in welcher Sir Frederic geschwebt, und mich an die vier anderen höchst merkwürdigen Zufälle erinnerte, die das Leben des jungen Mannes bedroht hatten, da hielt ich es für meine Pflicht, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er eines Tages kopfüber gehen würde, denn mir war sofort klar, dass Lord Frederic von einem unversöhnlichen Feind verfolgt würde. Ich begab mich zu ihm ins Hotel Royal, in welchem Lord Frederic eine Flucht Zimmer bewohnte, während die Feuerschäden in Woodville House ausgebessert werden sollten. Der junge Lord empfing mich freudig überrascht. Er sah brillant aus, gesund und kraftvoll, wie ein Mann von dreißig Jahren, der durchaus keine Sorgen hat.

›Ah, Sie sind es, Mr. Sherlock Hol­mes?‹, rief er, indem er mir die Hand schüttelte, ›das ist für mich eine große

Freude, Sie einmal wiederzusehen.‹

›Ich komme in Ge­schäften zu Ihnen, Mylord‹, antwortete ich ihm, ›mich führt nämlich die Ab­sicht her, Sie zu warnen.‹

›Ah, ich verstehe – Sie haben die Ereignisse verfolgt, mit denen ich in den letzten achtzehn Monaten in unan­genehme Berührung kam. Nun ja, Mr. Sherlock Holmes, man verfolgt mich, und ich glaube nicht, dass ich meinen Verfolgern entgehen werde.‹

›Wie, das wissen Sie, Lord Frederic, und Sie setzen sich nicht zur Wehr? Treffen keine Vorbereitungen für Ihre Sicherheit?‹

›Ich weiß, dass alles, was ich tun könnte, mich vor den geplanten Ver­brechen doch nicht beschützen würde‹, gab er mir ernst zur Antwort, und seine schönen blauen Augen füllten sich mit einer gewissen Wehmut.

›Was wollen Sie, mein Freund, fünf­mal bin ich dem sicheren Tod entgan­gen, vielleicht glückt es mir noch ein sechstes oder siebentes Mal, aber dann wird mich die Mörderhand doch er­reichen.‹

›Ich glaube nicht‹, antwortete ich, ›dass ein Mensch in einem Staat wie dem unseren sich so ruhig abschlachten zu lassen braucht.‹

›Gegen diejenigen, die mir nach dem Leben trachten, gibt es keinen Schutz.‹

›So fliehen Sie einige Zeit aus der Welt, leben Sie irgendwo unter ande­rem Namen. Vertrauen Sie keiner Person an, wer Sie seien, wohin Sie sich begeben und wie Sie sich nennen wollen.‹

›Und wenn ich zu den Eskimos entfliehe, wo man überhaupt keinen Namen braucht‹, stieß Lord Frederic hervor, ›sie würden mich doch finden!‹

›Sie? Wer sind diese sie?‹

Der Lord schwieg. Er senkte das Haupt mit dem licht gewellten, sorgsam gescheitelten blonden Haupthaar auf die Brust und blieb so während einiger Minuten fast regungslos. Mir schien es, als kämpfe er innerlich mit sich selbst, ob er mich tiefer in das Geheimnis eindringen lassen sollte, das vernich­tend auf ihm ruhte. Natürlich setzte ich sofort den Hebel an, um den Lord zum Sprechen zu bringen, denn wirklich – mir ist sehr viel an dem Leben dieses vortrefflichen jungen Mannes gelegen, und dann – sein Vater war mein Freund.

›Mylord – ich will gern für Sie alles tun, was ich vermag, aber lassen Sie mich nicht hier mit unsichtbaren Fein­den fechten. Wer es auch immer sei, bezeichnen Sie mir den Mann, von dem Sie glauben, dass er Sie unversöhnlich hasst und Ihnen nach dem Leben trachtet.‹

Frederic hob den Kopf empor und blickte mich fest und ruhig an. Im selben Moment wusste ich, dass ich es niemals von ihm erfahren würde.

›Ich weiß es nicht, Mr. Sherlock Holmes‹, antwortete Sir Frederic, ›ich kenne diesen Mann nicht. Ich habe keine Vermutungen über seine Persön­lichkeit.‹

Jede weitere Frage in diese Richtung erübrigte sich also von selbst. ›Wollen Sie dann wenigstens einen Vorschlag annehmen, den ich Ihnen

machen werde?‹

›Von Herzen gern, Mr. Sherlock Holmes!‹

›Bleiben Sie nicht in London‹, riet ich ihm entschieden, ›reisen Sie sogleich ab. Jetzt ist die schönste Zeit an der Riviera, gehen Sie nach Nizza, Monte-Carlo – wohin Sie wollen, nur bleiben Sie nicht hier. Teilen Sie niemand Ihren Reiseplan mit‹, fuhr ich fort, ›halten Sie sich in Monte-Carlo auf, denn ich nehme an, dass Sie sich an der Spielbank zerstreuen werden. Legen Sie sich dort aber einen falschen Namen bei, ich verspreche mir davon Erfolg. Die Zwischenzeit werde ich benutzen, um mich mit Ihrer Angelegenheit ein wenig zu beschäftigen.‹

›Ganz wie Sie wollen, Mr. Sherlock Holmes, denn ich sehe keinen Grund ein, Ihren Vorschlag abzulehnen! In London ist es langweilig genug und dann – gibt es eine Person, die mich gebeten hat, mit ihr an die Riviera zu gehen. Deshalb sehen Sie mich auch‹, der Lord lächelte, ›so schnell bereit, Ih­ren Wunsch zu erfüllen!‹

›Eine andere Person?‹

›Der ich außerordentlich zugetan bin‹, fuhr Lord Frederic fort, und sein hübsches Gesicht strahlte. ›Kennen Sie Miss Nancy Elliot?‹

›Die schönes Schauspielerin vom Her Majesty Theater? Die ist mir bekannt.‹

›Sie ist – meine Freundin, wir sind uns sehr zugetan. Nancy wünscht, mit mir zu reisen, ich werde also mit ihr nach Monte-Carlo gehen.‹

Ich legte mein Gesicht in nachdenk­liche Falten.

›Sind Sie auch sicher, Mylord‹, fragte ich ihn mit leiser Stimme, ›dass Nancy Elliot mit Ihren Feinden in keinerlei Verbindung steht?‹

Da lachte der junge Edelmann aus vollem Hals. ›Verzeihen Sie, Mr. Sher­lock Holmes‹, sagte er, indem er mir die Hand drückte, ›Sie sind ein sehr ernster Mann, der berühmteste Detektiv der Welt, aber Sie verfallen in denselben Fehler, wie die meisten Detektive, und sehen in der harmlosesten Person einen Verbrecher. Wenn Nancy mein Leben mit dem ihren erkaufen könnte, würde sie es ohne Zögern tun. Ich versichere Ihnen, dass Nancy meine volle Zuneigung besitzt, dass ich sie innig liebe, wenn Sie es so wollen.‹

›Trotzdem würde ich Sie bitten, auch Nancy Elliot erst dann die Mitteilung zu machen, dass Monte-Carlo Ihr Rei­seziel ist, wenn Sie sich unterwegs befinden. Versprechen Sie mir das, Mylord?‹

Der Lord reichte mir sogleich die Hand und rief: ›Das verspreche ich Ihnen, Mr. Sher­lock Holmes!‹

›Versprechen Sie mir weiterhin, dass Sie bei einer Ihnen drohenden Gefahr mich sofort zu sich berufen werden?‹

›Auch das verspreche ich Ihnen, denn glauben Sie nur nicht, Mr. Sherlock Holmes, dass mir an meinem Leben nichts gelegen wäre. Im Gegenteil, noch niemals ist mir das Dasein so schön und lebenswert vorgekommen als jetzt, da ich Nancy, dieses edle, vortreffliche Herz, mein Eigen nenne, da ich mich der Gesellschaft dieser herrlichsten aller Frauen erfreuen darf. Deshalb werde ich Sie als Retter und Helfer sofort zu mir berufen, falls ich aus gewissen Anzeichen auf eine nahe Gefahr schließen müsste.‹

›Sie werden mir in diesem Fall drah­ten‹, fuhr ich fort, ›und ich werde so­gleich zu Ihnen eilen. Um aber sicher zu sein, dass das Telegramm von Ihnen stammt, lassen Sie in demselben das Wort Freund unbedingt erscheinen.‹

›Das Wort soll in meinem Telegramm nicht fehlen, doch hoffe ich, dass ich Sie nicht werde bemühen müssen.‹

›Es ist also abgemacht‹, rief ich, ›Sie reisen, Mylord?‹

›Morgen‹, antwortete er und drückte mir dabei nochmals die Hand. Er dankte mir für meine Fürsorge und ich verließ ihn.«

»Ohne also zu wissen, wer eigentlich der Todfeind des Lords sei?«, fragte Harry.

»Ohne es zu wissen!«

»Und Ihr habt in der Zwischenzeit nichts hierüber ermittelt?«

»Nun vielleicht doch einiges, wenn auch ziemlich Unbedeutendes. Das ist aber vorläufig noch nicht spruchreif, Harry, und du würdest mir einen Ge­fallen tun, wenn du jetzt in die Kajüte hinuntergehen und für dich und mich steifen Grog besorgen wolltest. Der Wind bläst hier oben auf Deck energisch!«

Ohne jede Verspätung, ja noch fünf Minuten vor der angesetzten Zeit, fuhr das Paketboot in den Hafen von Dieppe ein. Sherlock Holmes und Harry begaben sich sogleich zum gegenüberliegenden Bahnhof und be­stiegen den Schnellzug nach Paris.

Sherlock Holmes verriet eine gewisse Ungeduld während der Fahrt. Sobald der Zug auf einer Station nur dreißig Sekunden länger hielt, als der Aufenthalt im Kursbuch angegeben war, öffnete er das Fenster und fragte den Kondukteur fast zornig, weshalb man denn nicht weiterfahre. Trotz­dem fehlte keine Minute an der vor­geschriebenen Zeit, als der Schnellzug in die Bahnhofshalle in Paris einlief.

Sherlock Holmes nahm einen Wagen und fuhr mit Harry sogleich zum Lyoner Bahnhof hinüber. Es war zehn Uhr, zwanzig Minuten als sie im Wartesaal erster Klasse saßen und Sherlock Holmes ein reichliches Diner bestellte.

»Der Riviera-Expresszug!«, meldete ein Beamter, indem er die Türen des Wartesaals öffnete, »Lyon, Avignon, Marseille, Toulon, Cannes, Nizza, Monte-Carlo, einsteigen bitte!«

Sherlock Holmes und sein Famulus schritten auf den Perron hinaus, Harry trug die Ledertasche, der Koffer war als Personengut aufgegeben worden.

»Erster Klasse nach Monte-Carlo«, wandte sich Sherlock Holmes an den Kondukteur.

»Bitte, Monsieur, steigen Sie nur ein«, erwiderte der Beamte, indem er die Tür des Coupés öffnete.

»Sherlock Holmes! Sherlock Hol­mes! Sherlock Holmes!«, rief ein Uni­formierter, indem er in atemloser Hast über den ganzen Perron eilte. »Wo ist Sherlock Holmes?«

In diesem Moment richtete sich Sherlock Holmes kerzengerade auf. Noch niemals hatte Harry seinen Herrn

so bleich, so unbeweglich gesehen.

»Hier ist Sherlock Holmes«, rief Har­ry, »was wünschen Sie von ihm?«

»Ein Telegramm!«, gab der Beamte zur Antwort.

»Geben Sie her«, versetzte Harry, in­dem er dem Mann ein kleines Trinkgeld einhändigte. »Soll ich es öffnen, Mr. Sherlock Holmes?«

»Nein, noch nicht – steigen wir ein!«

Es war bereits höchste Zeit, die Plätze einzunehmen, denn schon wurde die Coupétür geschlossen. Der Detektiv und Harry ließen sich auf dem weichen Polster nieder. Sherlock Holmes hatte Harry die Depesche abgenommen und hielt sie in seiner knöchernen Hand, während er seine Blicke auf dem kleinen Papier ruhen ließ, als wollte er es durchbohren. Der Zug setzte sich in Bewegung. Klappernd, rasselnd, unter den gellenden Pfiffen der Lokomotive verließ er die Halle des Lyoner Bahnhofes, um nach dem Süden zu eilen.

»Wir kommen zu spät, Harry«, rang es sich von den Lippen Sherlock Hol­mes’, »ich weiß es. Doch jetzt müssen wir erst recht so schnell wie möglich in Monte-Carlo eintreffen.«

Dabei öffnete er das Telegramm, und mit ruhig klingender Stimme las er, den nichts überraschen konnte, weil er alles voraussah.

Mr. Sherlock Holmes, London. Lyoner Bahnhof, Riviera Express.
Lord Frederic Woodville um vier Uhr nachmittags in seinem Zimmer ermordet – kommt sofort!
Nancy Elliot.

Fortsetzung folgt …