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Der Detektiv – Band 28 – Der Tempel der Khali – Teil 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Der Tempel der Khali

Teil 3

Hier jedoch war es eine in Form einer Pyramide erbaute, freistehende Treppe aus blendend weißem Marmor, die mit genau dreißig Stufen in eine zweite Höhle hinabführte. Diese enthielt ebenfalls eine vollständige Tempeleinrichtung, nur dass hier das kostbarste Material – Marmor, roter Sandstein, farbige Kunststeine und reiche Vergoldungen – aufs Verschwenderischste verwandt worden war.

Es ist schwer, all die Pracht zu schildern, die das Licht unserer Taschenlampen uns enthüllte. Der Tempel war genau quadratisch. In der Mitte erhob sich die Marmorpyramide mit ihren je dreißig Stufen an jeder Seite. An der Nordwand stand ein mit schweren, golddurchwirkten Stoffen behängter Altar, auf dem ebenfalls ein Götzenbild in sitzender Stellung thronte. Dieser Götze war jedoch in prachtvolle Gewänder gehüllt, hatte die Arme im Schoß ruhen und das Haupt mit Schleiern dicht verhüllt. Vor dem Altar wieder stand ein großer, muldenförmiger Stein, der mit einer schwarzen Kruste überzogen war. Dass diese Kruste Blut war, sah ich auf den ersten Blick.

Harsts Lampe war nun auf den Götzen gerichtet. Er verhielt sich so völlig regungslos, dass ich schließlich aufmerksam wurde. Dann bemerkte ich, wie seine rechte, freie Hand ganz allmählich hinter seinem Rücken verschwand, wie er in die Schlüsseltasche seiner Hosen fasste und den Mehrlader herauszog.

Dann das feine Knacken der zurückgeschobenen Sicherung der Waffe; dann ein paar schnelle Schritte Harsts auf den Altar zu, dann ein Sprung – und er stand hinter dem verschleierten Götzenbild.

Unwillkürlich war ich ihm gefolgt, befand mich nun ganz dicht vor dem Altar, sah, wie Harst dem Götzen plötzlich die Schleier vom Gesicht wegriss.

Der weiße Lichtkegel meiner Lampe beschien nun das mir nur zu gut bekannte, schmale, feine Antlitz Mistress Maria Bellingsons, der Wahrsagerin von Jorjakara, der Gattin des Brahmanen Javisindras, des einstigen Oberhauptes der Thugs.

Dann auch schon Harsts Stimme: »Mistress Bellingson, sobald wir hier angegriffen werden, sehe ich mich genötigt, Sie niederzuschießen. Sie kennen mich. Ich drohe nie umsonst. Also seien Sie vorsichtig.«

Die weißhaarige Greisin strich sich das durch Harsts ungestüme Entfernung der Schleier in Unordnung geratene Haar mit ruhigen Bewegungen glatt. Ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen. Es war ein Lächeln der Geringschätzung, überlegenen Hohns.

»Master Harst«, sagte sie dann ohne die geringste Erregung, »an meinem Leben liegt jetzt nichts mehr. Ich lebte nur noch, um meine Rache an den Nachkommen dessen, der meinen Gatten aufknüpfen ließ, zu vollenden. Diese Rache ist vollendet. Lord Edward Wolpoore befindet sich in meiner Gewalt und wird noch heute sterben. Mir macht es also nichts mehr aus, ob ich jetzt oder vielleicht nach einem Jahr diese Erde verlasse.«

Mir lief es eiskalt über den Rücken. Die ganze Art, wie diese Frau hier über Edward Wolpoores Tod sprach, dieser Tonfall ihrer Stimme, in der doch trotz aller Ruhe ein unsäglicher Hass und ein nie zu stillender Rachedurst mitzitterten, all das wirkte mehr auf meine Nerven als die grausigste Szene.

Harst trat nun vor und setzte sich neben Maria Bellingson auf den Rand des Altars.

»Mistress Bellingson«, sagte er dann ebenso kühl und klar wie sie, »Lord Wolpoore wird nicht sterben. Hören Sie mich bitte an. Sie wussten, dass ich in Dehli weile. Sie wussten ebenso, dass ich auf die Zeitungsnotiz hin nach Lord Wolpoore suchen würde. Da haben Sie denn, entsprechend Ihrer auf starke Effekte gerichteten geistigen Veranlagung, mir beweisen wollen, dass Sie mir überlegen sind, haben durch einen Ihrer Leute in der Maske eines Fremdenführers mir auflauern lassen. Der Mann traf mich vor dem Kutab Minar. Bei dem Streit mit den anderen Fremdenführer merkte ich, dass dieser gewandte Inder den anderen ganz unbekannt war. Das machte mich argwöhnisch. Ich sah eine Falle voraus und richtete mich danach. Sie sind jetzt des Glaubens, Ihr Vertrauter hat uns hier hinabgeführt, steht vielleicht oben auf der Pyramidentreppe und kann Ihnen jederzeit zu Hilfe kommen, das heißt, uns durch Schüsse unschädlich machen. Sehr wahrscheinlich haben Sie diesen Inder befohlen, er solle uns beide allein hier hinabsteigen lassen, damit Sie als lebendes Götzenbild auf uns desto eindringlicher wirkten; wahrscheinlich wollten Sie uns ganz unvermutet ansprechen und so den Triumph auskosten, Harald Harst einmal durch eine besondere Art Überraschung verblüfft zu haben. Sie irren sich, Mistress. Dieser Effekt ist missglückt. Ihr Vertrauter liegt gefesselt oben in der Ruinenstadt, und die Herren dieses Tempels sind jetzt wir, mein Freund und ich! Ich werde jetzt Wolpoore und Chester Blindley suchen. Die beiden befinden sich fraglos hier. Wenn Sie auch nur die geringste verdächtige Bewegung machen, wird Schraut Sie kaltblütig auf meine Verantwortung niederknallen. Es geht hier um vier Menschenleben, Mistress Bellingson! Um vier! Denn auch mich und Schraut hätten Sie hier ohne Zweifel stumm machen lassen. Was gilt Ihnen denn das Leben von ein paar Leuten, wenn es sich darum handelt, Ihren wahnwitzigen Rachedurst zu stillen?! Ihre eigene Gleichgültigkeit gegen den Tod ist Komödie. Sie sind einer jener Frauencharaktere, die dem Durchschnittsgeist unverständlich sind. Sie lieben das Leben; Sie sind genussfroh. Das weiß ich von Jorjakara her! Sie sind nebenbei die vollendetste Schauspielerin, die es nur geben kann. So – und jetzt nochmals: keinen Laut, keine Bewegung! Schraut, du schießt sofort, wenn Mistress Bellingson auch nur den kleinen Finger hebt oder wenn wir angegriffen werden sollten.«

Ich hatte die Pistole schon in der Hand. Ich hätte geschossen. Ich war fest dazu entschlossen. Ich lehnte mich an den Altar, hatte die Waffe halb erhoben, den Finger am Abzug.

Harst sprang vom Altar herab, wollte nun zunächst den Tempel durchsuchen, der drei durch schwere Vorhänge verschlossene Türöffnungen hatte.

Da – er hatte erst ein paar Schritte getan – da sagte Mistress Bellingson leise: »Master Harst!«

Er drehte sich um, kam zum Altar zurück. »Sie wünschen?«, fragte er.

»Unter welchen Bedingungen würden Sie mit mir über Wolpoores und Blindleys Freilassung verhandeln?«, sagte sie schnell. »Ich will zugeben, dass ich in der Tat am Leben hänge. Wenn Sie mir versprechen würden, der Polizei erst heute Abend sieben Uhr die Vorfälle hier anzuzeigen und bis dahin auch selbst nichts mehr gegen mich zu unternehmen, vielmehr mit Ihrem Freund Schraut, Wolpoore und Blindley nach Dehli sofort zurückzukehren, dann sollen die beiden frei sein.«

Harst überlegte, erklärte nach einer Weile: »Gut, ich bin einverstanden.«

»Dann helfen Sie mir bitte von dem Altar herab. Meine Leute und die Gefangenen befinden sich in einer Nebengrotte dieser Höhle. Ich werde die Geheimtür nach dorthin nur ein wenig öffnen und die nötigen Befehle geben. Sie brauchen keinen Verrat zu fürchten. Ich bin eine ehrliche, wenn auch sehr schlaue Gegnerin.«

Sie schritt auf die Wand gegenüber dem Altar zu. Wir blieben dicht hinter ihr. Es gab dort tatsächlich eine Geheimtür. Maria Bellingson rief dann in das hinter der Tür lastende Dunkel ein paar Sätze in indischer Sprache hinein. Aus dem Dunkel heraus antwortete eine Männerstimme.

Wir führten die seltsame Frau dann zwischen uns zum Altar zurück und warteten gespannt, was nun geschehen würde.

Die Situation erschien mir für uns recht bedrohlich. Aber ich irrte mich. Sehr bald tauchten Wolpoore und Blindley durch die Geheimtür auf, eilten auf uns zu und hätten nun wohl zu gern uns sofort mit Dankesworten überschüttet, wenn Harst nicht sehr energisch abgewinkt und auf die Treppe gedeutet hätte.

»Führe sie nach oben, Schraut«, sagte er kurz. »Ich folge Euch! Vorwärts, nur kein langes Zaudern!«

Er übernahm also wieder den gefährlichsten Teil des Rückzuges. Wir hasteten die Stufen empor; dann auch die zweite Treppe. Hier holte uns Harst ein, der in langen Sprüngen uns nachstürmte. Wir gelangten unbehelligt ins Freie, fanden die drei Molgedeys noch in dem Versteck vor, banden den Gefangenen los und ließen ihn laufen.

Dann wandten wir uns dem Kutab Minar zu, wo stets Wagen zur Rückfahrt nach Dehli zu haben sind. Die Molgedeys mussten versprechen, bis zum Abend die heutigen Erlebnisse zu verschweigen. Wolpoore und Chester Blindley konnten sich gar nicht genugtun mit Dankesworten, bis Harst zu unser aller Erstaunen sagte: »Danken Sie mir nicht, Wolpoore! Meinen Sie denn, ein so gefährliche Frau wie die Bellingson hätte sich auf diesen gegenseitigen Vertrag eingelassen, wenn sie eben nicht genau wüsste, dass sie sehr bald sich an Schraut und mir völlig gefahrlos rächen und Sie und Blindley wieder in ihre Gewalt bekommen kann? Oh, da kennen Sie sie schlecht! Sie betonte auch so drohend: ›Ich bin eine ehrliche, wenn auch sehr schlaue Gegnerin!‹ Sie hätte sich diese Worte sparen sollen. Sie hat mich dadurch gewarnt. Ich werde sie bis 7 Uhr abends schonen, dann gibt es einen Kampf bis aufs Messer. Sie muss unschädlich gemacht werden, sie und mit ihr die Reste der einstigen Thug-Sekte.«

Um drei Uhr nachmittags waren wir wieder im Exzelsior-Hotel, wo wir Wolpoore und Blindley eins unserer Zimmer überließen. Sie legten sich zunächst andere Namen bei. Nachdem wir vier zusammen gespeist hatten, forderte mich Harst auf, ihn zu Molgedeys zu begleiten.

»Wir müssen doch noch die Inka-Krone wieder herbeischaffen, bevor abends sich vielleicht ernsthaftere Dinge ereignen«, meinte er.