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Der Detektiv – Band 28 – Der Tempel der Khali – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 28
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Der Tempel der Khali

Teil 2

Inzwischen waren wir in den zweiten Stock gelangt. Der Hoteldirektor, ein Engländer namens Warton, führte uns in den Wohnsalon des Obersten.

Dardogne war ein älterer Mann mit grauem Spitzbart, frischem gebräunten Gesicht und noch sehr vollem, straff gescheiteltem Haupthaar – alles in allem eine vornehme militärische Erscheinung. Er war uns gleich am ersten Tag hier im Hotel aufgefallen. Er musste sehr reich sein, denn er hatte sich für die Ausflüge in die Umgebung einen eleganten Ponywagen gemietet, der dauernd zu seiner Verfügung stand. Der Hoteldirektor hatte uns gelegentlich erzählt, Dardogne bereise seit Wochen zu seinem Vergnügen Indien und sei bereits vorher in Japan gewesen. Seine Diener waren Inder. Er hatte sie wahrscheinlich erst hier in Indien gemietet.

Der Oberst saß in einem hochlehnigen Korbsessel an einem Seitentischchen. Er trug wie immer seinen Hornkneifer mit grauen Gläsern, dessen Seidenschnur er hinter das Ohr gelegt hatte.

Er begrüßte uns sehr liebenswürdig in seiner Muttersprache, entschuldigte sich deswegen, weil er des Deutschen nicht genügend mächtig wäre, dankte Harst für die Bereitwilligkeit, mit der dieser sich sofort bei ihm eingefunden hätte und berichtete dann folgendes.

Er war gestern bereits um halb zehn zu Bett gegangen, da er am Tage einen Ausflug zu den Ruinen des alten Dehli gemacht hatte, der ihn sehr ermüdet hatte. In der Schublade des Schreibtisches des Salons hatte er ein Päckchen Banknoten verwahrt gehabt. Dieses Geld – 1800 Pfund Sterling – war nun heute früh nicht mehr zu finden gewesen.

Das war kurz der Sachverhalt. Harst stellte dann durch Fragen noch fest, dass einer der Diener stets im Schlafzimmer des Obersten die Nacht über bleiben musste, da Dardogne infolge seines Leidens auch nachts jederzeit jemand zu seiner Bedienung brauchte. Der andere Diener schlief dann in dem Zimmer links vom Salon. Die Flurtür mit der Nummer 46 führte direkt in diesen hinein. Die Schublade war verschlossen gewesen. Der Oberst betonte wiederholt, seine beiden Diener seien bereits ein Jahr in seinem Dienst und hätten sich bisher auch nicht die geringste Unredlichkeit zu Schulden kommen lassen. Daher sei jeder Verdacht gegen sie von vornherein von der Hand zu weisen.

Harst untersuchte darauf das Schloss von der Schublade, ebenso das der Flurtür und fragte dann den Oberst, ob dieser vielleicht in den letzten Tagen irgendwie auf eine verschleierte, schlanke Dame aufmerksam geworden sei.

Dardogne lachte kurz auf. »Dame … Dame? Monsieur Harst, ich bin stets Frauenfeind gewesen, kümmere mich nie um Frauen. Wie kommen Sie denn gerade auf eine verschleierte …«

Er schwieg plötzlich, schlug mit der Faust auf die Lehne des Korbsessels und rief dann: »Ah, zum Teufel, da fällt mir ein, dass ich in der Tat einem solchen Frauenzimmer schon dreimal … ja ja, dreimal … begegnet bin! Und denken Sie, Monsieur Harst, stets an derselben Stelle. Waren Sie schon in der Ruinenstadt des alten Dehli oder genauer der uralten Stadt Indraprastha, wie Dehli um das Jahr 500 nach Christi noch hieß? Kennen Sie schon den berühmten Kutab Minar, das 76 Meter hohe Minarett einer unvollendeten Moschee in dieser Ruinenstadt?«

Harst schüttelte den Kopf. »Wir haben zunächst die Sehenswürdigkeiten Dehlis besichtigt. Heute wollten wir eine Tagestour zu den Ruinen unternehmen.«

»Ja ja – lassen Sie sich nur nicht diese meilenweite Ruinenstätte entgehen!«, meinte Dardogne begeistert. »Wer auch nur etwas Sinn für Romantik hat: Dort findet er sie! Doch zurück zu der Verschleierten! Also vor dem Kutab Minar traf ich sie – dreimal wie gesagt! Sie hatte stets einen Eingeborenen bei sich, der ihre Staffelei und sonstiges Malgerät schleppte. Ich besinne mich jetzt sehr genau: Die Frau trug stets einen hellen, karierten Seidenmantel und ein großes Fernglas mit hellgelbem Lederfutteral umgehängt. Nun erklären Sie mir aber, weshalb Sie diese Dame – es war ja fraglos eine Europäerin – mit dem Diebstahl hier in Verbindung bringen?«

Harst erzählte Garratt Molgedeys Erlebnis am gestrigen Abend und fügte hinzu: »Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die Verschleierte, die sich beim Anblick Molgedeys wieder in dieses Zimmer zurückzog, die Diebin gewesen ist. Die Zeit stimmt. Sie sind um halb zehn schlafen gegangen, und Molgedey kam nach zehn Uhr vom Badezimmer zurück den Flur entlang.«

Dardogne bearbeitete abermals die Sessellehne mit der Faust. »Zum Teufel, das ist ja hier eine nette Wirtschaft in Ihrem Hotel!«, fuhr er den Direktor mehr einen scherzhaft groben Ton anschlagend in seiner abgehackten Sprechweise an. Er hatte so eine Art, manche Worte wie einen Trompetenton hervorzustoßen, dass man daran schon den alten Soldaten erkannte. »Wie mag die Frau nur zu dem Tür- und dem Schreibtischschlüssel gekommen sein? Es handelt sich doch um moderne Kunstschlösser, die nicht mit jedem Drahthaken zu öffnen sind. Um das Geld ist es mir nicht so sehr zu tun, als um die Aufklärung der Frage: Wer ist diese Verschleierte, und wie konnte sie wissen, wo das Geld lag und dass ich überhaupt so viel in bar mit mir führte!«

Harst versprach Dardogne, sich nach Kräften zu bemühen, die Frau zu finden.

»Sollte sie noch in Dehli sein, so werden wir sie schon aufstöbern«, meinte er und verabschiedete sich dann von Dardogne mit einem Händedruck. Dass der Oberst Kraft hatte, merkte ich nun, als er auch mir die Hand reichte und dabei meine Finger derart drückte, dass ich vor Schmerz zusammenzuckte.

Wir gingen dann in das Büro des Direktors hinab, wo Harst das Fremdenbuch durchsah und Warton noch allerlei fragte, was mit dem Diebstahl der 1800 Pfund zusammenhing. Warton vermochte jedoch keinen einzigen Hotelgast als fragwürdig hinzustellen. Harst vermutete offenbar die Verschleierte unter den Hotelgästen selbst. Mir erschien dies unwahrscheinlich. Der ganze Verdacht gegen diese Frau, die doch den Oberst vor der berühmten Moschee in der Ruinenstadt genauso bemerkt haben musste, wie er sie gesehen hatte, erschien mir hinfällig oder genauer ausgedrückt: Ich bezweifelte, dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelte.

Als wir das Büro dann gerade wieder verlassen wollten, erschien der kleine Herr Molgedey, schwenkte eine Zeitung in der Hand und rief: »Herr Harst, ich habe Sie überall gesucht! Hier steht in der heutigen Morgennummer der DEHLI-POST (in Dehli erscheinen 12 englische Zeitungen) Ihr letztes Abenteuer in Jorjakara auf Java ganz genau beschrieben!«

Die Veränderung währte nur Sekunden. Sein Gesicht entspannte sich wieder. Er faltete die Zeitung wie spielend eng zusammen und sagte zu Garratt Molgedey:

»Wollen Sie uns nicht mit Ihrer Gattin und Tochter bekanntmachen? Vielleicht haben Ihre Damen gestern Abend ein verdächtiges Geräusch gehört, als Sie nach dem Badezimmer gingen!«

Molgedey brachte uns an den Tisch, wo seine Frau und seine Tochter Dasy zusammen mit einer anderen amerikanischen Familie saßen.

Frau Molgedey war gut anderthalb Köpfe größer als ihr Gatte. Dasy hatte dieselbe schlanke, volle Gestalt und war ein recht hübsches Mädchen, nur schien sie etwas ungewandt und ängstlich zu sein. Die Bekannten Molgedeys verließen uns sehr bald. Wir waren nun allein an dem Tisch. Harst begann sofort von dem Verschwinden des Briefes zu sprechen. Die beiden Damen hatten jedoch nichts Verdächtiges gehört.

»Ich war todmüde und schlief sofort ein«, erklärte Frau Molgedey, die für gut eine halbe Million Brillanten an sich trug.

Jedenfalls verlief diese Unterredung, wie ich annahm, ganz ohne Ergebnis.

Mittlerweile war es elf Uhr geworden. Harst und ich empfohlen uns, gingen auf unsere Zimmer und rüsteten uns zum Aufbruch zu der Tagestour nach der Ruinenstadt.

»Vergiss deinen Mehrlader nicht, mein Alter«, sagte Harst plötzlich. »Stecke auch deine Taschenlampe zu dir, ebenso ein paar Ersatzbatterien. Hier ist irgendeine Teufelei im Gange! Ich wittere Unrat, wie ja wohl die anrüchige Redensart lautet.«

Ich fuhr förmlich herum.

»Teufelei?«, fragte ich ungläubig.

»Ja, mein Alter. Hier, bitte lies mal!« Er holte die Zeitung aus der Tasche hervor, die er im Büro des Direktors unauffällig zu sich gesteckt hatte, entfaltete sie und deutete auf eine gesperrt gedruckte Notiz auf derselben Seite, wo auch der Artikel über unser Abenteuer in Jorjakara stand.

Ich las Folgendes:

Lord Edward Wolpoore, der bekannte Plantagenbesitzer, ist in der verflossenen Nacht unweit Dehli auf der Straße Agra-Dehli offenbar von Wegelagerern überfallen und zusammen mit einem seiner Begleiter entführt worden. Es handelt sich fraglos um einen Versuch, von dem reichsten Mann Indiens eine größere Summe zu erpressen. Der Lord kam im eigenen Auto von Agra, und zwar in Begleitung des Chefs seiner Privatpolizei Chester Blindley sowie zweier Detektive, von denen einer den Chauffeur spielte. Gerade dieser Detektiv entging den Wegelagerern, die quer über die Straße eine Stahltrosse gespannt hatten, sodass das in voller Fahrt dahinjagende Auto sich überschlug, wobei der eine Detektiv getötet wurde, während der Chauffeur nur mit einer schweren Stirnverletzung davonkam. Die Banditen werden ihn wohl ebenfalls für tot gehalten haben, ließen ihn liegen und dürften sich mit ihren beiden Gefangenen in einen der zahlreichen Schlupfwinkel geflüchtet haben, die die Ruinenstadt des alten Dehli so zahlreich bietet. Der Detektiv liegt jetzt im Krankenhaus und hat angegeben, dass die Wegelagerer fünf maskierte Eingeborene waren. Wir werden in der Abendausgabe über diesen frechen Überfall noch genauer berichten.

Ich ließ das Blatt sinken und schaute Harst ganz entsetzt an, sagte kopfschüttelnd:

»Wegelagerer? Glaubst du daran? Ob es sich hier nicht weit eher um ein neues Attentat gegen den Lord handelt, ob nicht auch hier wieder diese unerbittliche Rächerin ihres Gatten, die Mrs. Bellingson, dahintersteckt?«

»Weshalb fragst du noch?«, meinte Harst achselzuckend. »Wenn ich vorhin von Teufelei sprach, wenn ich mich zu einem Ausflug zu der Ruinenstadt wie zu einem Kampf rüste, dann …!« Und er füllte den Patronenrahmen seines Mehrladers, schob die Waffe in die Tasche und überließ mich einem Sturm von Gedanken.

Mrs. Bellingson! Ich dachte an die Panther im alten Schloss in Jorjakara; ich dachte mit Wehmut daran, dass die schöne Globetrotter-Zeit nun wieder vorbei war, dass wir nun gleich drei Fälle auf einmal in Arbeit hatten: Molgedey, Oberst Dardogne und nun noch unseren Freund Wolpoore!

Der Leser wird sich erinnern, dass wir Wolpoore in Kapstadt kennengelernt hatten. Ich habe dies alles – auch die ersten Attentate auf den Lord vonseiten der Thugs – in einem früheren Band Die Siegellacktröpfchen erwähnt. Nun war Edward Wolpoore also wirklich den rachsüchtigen Feinden in die Hände gefallen! Und Chester Blindley, der Detektivchef der Leibwache des Lords, ebenfalls!

Harst mahnte zur Eile.

Auf der Treppe holten wir die Familie Molgedey ein.

Ich zuckte zusammen, als mein Blick Dasy Molgedeys am Riemen über dem weißen Kleid hängende Fernglas traf, denn dieses Fernglas hatte ein hellgelbes Lederfutteral.

Ich war so verwirrt über diese Entdeckung, dass ich Garratt Molgedey eine ganz verkehrte Antwort gab.

Harst ging mit Dasy Molgedey vor uns und lachte sie heiter an. Offenbar hatte er soeben einen Scherz mit ihr gemacht. Sollte er das hellgelbe Futteral nicht bemerkt haben?

Vor dem Hotel trennten wir uns von Molgedeys, die sich das imposanteste Gebäude Dehlis, die größte Moschee der Welt, den Dschama Masdschid, ansehen wollten, ein Genuss, den wir schon hinter uns hatten.

Wir mieteten einen Wagen zur Fahrt zu der 8 Kilometer von dem neuen Dehli entfernten Ruinenstätte Indraprastha, durchquerten Teile der engen, schmutzigen Eingeborenenstadt, die im Südwesten liegt, und gelangten bald auf eine halb zerstörte Prachtstraße, deren metergroße Marmorplatten zumeist durch Unkraut und Baumschößlinge aus ihrer Lage gebracht sind und nur noch einen schmalen, geschlängelten Pfad benutzbar machen, auf dem unser Wagen wie auf einer Tenne dahinrollte.

Die Ruinenstadt beginnt eigentlich schon vor den Toren des neuen Dehli, das vollständig als Festung gebaut ist. Verlässt man das Südtor, so breitet sich vor dem Wanderer eine hügelige, mit teilweise urwaldartigen Hainen, einzelnen bebauten Feldern und vielfachen Trümmerstätten bedeckte Ebene aus, die, je weiter man sich von Dehli entfernt, desto mehr den Eindruck einer zerstörten, uralten Stadt macht. Die Trümmerfelder, überragt von Resten größerer Gebäude, gehen bald ineinander über, sind von Unkraut und Bäumen überwuchert und auch hie und da durch vom Wind aufgehäufte Sandmassen so dicht bedeckt, dass auf diesen kahlen Lichtungen Dörfer entstanden sind, die meist von Hindus bewohnt werden. Das Wahrzeichen dieser Stätte einer einst hochentwickelten Kultur (das alte Indraprastha soll über eine Million Einwohner gehabt haben) ist der Kutab Minar, das Minarett der unvollendet gebliebenen Moschee.

Harst ließ den Wagen weit vor dem schlanken Turm halten, lohnte den eingeborenen Kutscher ab und schwenkte dann nach links mitten in die Trümmerstadt ein. In großem Bogen näherten wir uns, oft zu recht unbequemen Kletterpartien gezwungen, dem Kutab Minar von Süden, bemerkten schon von Weitem vor dem Turm eine Menge Touristen und beobachteten nun zunächst die Fremden von der Höhe einer Mauer aus, die wir mithilfe einer Platane erklettert hatten. Wir standen hier völlig verborgen zwischen ungeheuren Distelstauden, die sich in den Mauerritzen angesiedelt hatten, schauten aber umsonst nach einem hellen, karierten Seidenmantel aus, sodass Harst nach einer Weile sagte: »Mischen wir uns zwischen die Touristen und warten wir ab. Etwas ereignet sich ohne Frage.«

Inzwischen hatte ich mit Harst bereits über Dasy Molgedeys hellgelbes Fernglasfutteral gesprochen. Er hatte aber dazu erklärt: »Ein Zufall, mein Alter, tatsächlich! Du bist hier – halb auf falscher Fährte, halb!« Was dieses halb bedeutete, das wollte er mit erst später mitteilen.

Kaum tauchten wir vor dem Kutab Minar auf, als sich auch schon drei, vier der gewerbsmäßigen eingeborenen Fremdenführer an uns herandrängten. Die Touristen aus Dehli lassen sich nämlich sämtlich zur Besichtigung der Ruinenstadt zunächst bis vor die unvollendete Moschee fahren und beginnen hier mit der Wanderung durch die endlose Trümmerstätte. Deshalb hat auch die Fremdenführergilde ihre Börse vor dem Kutab Minar eingerichtet.

Jeder dieser Führer arbeitet nun mit einem besonderen Trick. Der eine flüstert dem Touristen zu: »Sahib, ich allein weiß, wo es noch ein Haus hier mit echtem Elfenbeinmosaik zu sehen gibt, und ich kann dir, o Sahib, zum Andenken Stücke des Mosaik verkaufen.« Ein anderer macht es geheimnisvoller: »Sahib, ich kann dich an eine Stelle führen, wo einst ein Schatz vergraben wurde. Dort steht ein Stein mit geheimnisvollen Zeichen, die keiner bisher deuten konnte. Wer sie aber deutet, findet den Schatz.« Diese Schatzphantasten haben die meisten Erfolge.

Harst schickte die Leute sehr energisch weg. Kaum waren wir die aufdringliche Gesellschaft los, als ein kleiner Herr mit Panamahut und Sonnenschleier auf uns zugeschossen kam: Garratt Molgedey, der Tabakfritze, wie Harst ihn vorhin scherzend genannt hatte.

»Herr Harst – Herr Harst, wir haben uns die Sache überlegt«, rief er schon von Weitem. »Wir wollen doch erst die Ruinenstadt in Augenschein nehmen. Dürfen wir uns Ihnen anschließen? Dasy brachte mich auf den Gedanken, lieber in Ihrer interessanten Gesellschaft das alte Dehli zu durchstreifen.«

Dasy! Diese dunkelblonde Amerikanerin war damit für mich abermals der Gegenstand argwöhnischer Gedanken geworden. Ich musterte sie erneut daraufhin, ob sie wohl schon in ihrem Äußeren irgendetwas von einer fragwürdigen Persönlichkeit an sich hätte. Aber sie erschien mir wieder nur leicht befangen, etwas unsicher in ihrem ganzen Sichgeben und auch fast zu ernst und melancholisch für ihre vielleicht 22 Jahre.

Harst hatte inzwischen Molgedey bereits erwidert, er würde sehr gern in so angenehmer Begleitung durch die einstigen Straßen des berühmten Indraprastha wandern, hatte den Damen die Hände geschüttelt und dann gefragt, ob man vielleicht einen Fremdenführer nehmen solle. Molgedey meinte, ohne einen solchen würde es wohl kaum gehen. Als ich dann auch meinerseits die Familie begrüßte, waren wir schon wieder von einem halben Dutzend dieser schlauen Inder umdrängt, die uns ihre Dienste anboten. Einer davon zeigte sich besonders rücksichtslos, schob die Übrigen beiseite und raunte uns Herren unter dem Wutgeschrei der Konkurrenz zu: »Ich kann etwas zeigen, das selten ein fremder Sahib zu sehen bekommt, weil die Hindu sich scheuen, Ungläubige an jenen Ort zu geleiten. Es ist ein unterirdischer Tempel mit einem verborgenen Zugang …« Er wollte noch mehr hinzufügen. Die empörte Konkurrenz riss ihn jedoch selten einmütig mit Gewalt von uns fort. Jedenfalls gab es so etwas wie eine Balgerei, der Harst dann dadurch ein Ende machte, dass er den von den anderen beinahe verprügelten Fremdenführer heranwinkte und die übrige Gesellschaft grob anfuhr.

Ich war etwas erstaunt über dieses Interesse Harsts für den aufdringlichen Kerl, der einen recht guten Eindruck machte in seinem weißen Leinenanzug und dem zartgelben Kopftuch. Es war ein sehr dunkelhäutiger Inder mit jenem schmalen, feinen Gesichtsschnitt, der vielen Indern etwas würdig-vornehmes verleiht. Das Benehmen dieses vielleicht vierzigjährigen Menschen änderte sich nun sofort, als er uns als Verdienst sicher hatte. Er wurde überaus höflich und bescheiden, forderte einen sehr mäßigen Preis und wurde nur auffallend still und zurückhaltend, als er hörte, dass auch Molgedeys sich uns beiden anschließen wollten.

»Die Besichtigung des unterirdischen Tempels ist zu unbequem für eine Memsahib (eigentlich weiblicher Herr, also Frau)«, meinte er. »Wir können den Tempel auch zuletzt besuchen. Ich halte das für am praktischsten. Dann können die Damen draußen warten.«

Seine Ausdrucksweise war recht gewandt. Er sprach das Englische tadellos.

Frau Molgedey wollte jedoch nichts davon wissen, dass sie und Dasy gerade das Interessanteste nicht mitmachen sollten.

Plötzlich flüsterte Harst mir unauffällig zu: »Rede den Damen ab!« Das klang so energisch, dass ich sofort ahnte: Hier war irgendetwas nicht in Ordnung! Die Person des Fremdenführers gewann für mich nun eine besondere Bedeutung.

Wir begannen den Rundgang durch die kilometerweite Ruinenstätte. Meine Versuche, Frau Molgedey und Dasy zum Verzicht auf einen Abstieg in den Tempel zu veranlassen, waren jedoch erfolglos.

Harst, der Inder und Molgedey schritten voraus. Frau Molgedey war in ihrer Lebhaftigkeit bald vorn bei den Herren, bald bei Dasy und mir. Das junge Mädchen blieb meist stumm. Sie war keine angenehme Begleiterin. Dann, als wir ein Stück zurück waren, sagte sie plötzlich: »Herr Schraut, Sie kennen Ihren Freund doch sehr genau. Ich habe gehört, er soll sehr viel menschliche Empfinden, also ein gütiges Herz besitzen. Ich … ich weiß nun nicht recht, ob ich ihm …«

Sie schluchzte leise auf, schwieg und trocknete heimlich ein paar Tränen. Da kam auch schon wieder ihre Mutter auf uns zu. Wir hatten dann keine Gelegenheit mehr, dieses Gespräch fortzusetzen. Frau Molgedey erzählte mir triumphierend, der Fremdenführer sei nun doch einverstanden, dass die Damen den Tempel ebenfalls besuchten.

Wir waren nun inmitten einer förmlichen Wildnis von Trümmern, Riesendisteln und vereinzelten Bäumen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Zweifellos wurde dieser Teil der toten Stadt nie besucht.

Der Führer verschwand nun hinter einem Vorhang von Schlingpflanzen, die den Zugang zu einem Gewirr riesiger Steinquadern – einem ehemaligen Tempelgebäude – verbargen. Wir warteten auf seine Rückkehr wohl fünf Minuten. Während dieser Zeit fand Harst Gelegenheit, mir zuzuraunen: »Bleibe dicht hinter mir. Die Molgedeys müssen als Letzte mit hinabsteigen. Sobald der braune Halunke uns den Geheimgang gezeigt hat, packen wir zu.«

Kein Wunder, dass ich nach diesen Worten in jene nervöse Erregung geriet, die nur schwer zu unterdrücken ist, wenn man weiß, dass sich etwas ereignen wird, aber weder mit den Einzelheiten dieses Ereignisses noch den Ursachen vertraut ist. Ich zergrübelte mir den Kopf, was dies alles wohl zu bedeuten haben könnte. Zufällig traf mein Blick da Dasy Molgedey. Ich sah, dass sie Harst mit seltsam traurigen Augen und offenbar ganz weltentrückt anstarrte.

Nein – ich wurde aus alledem nicht klug. Garratt Molgedeys Inka-Krone, die dem Obersten gestohlenen 1800 Pfund und schließlich noch unser Freund Edward Wolpoore vollführten in meinem Hirn ein wahres Karussell. Schließlich gelang es mir aber doch die eine Vermutung mir am besten zu begründen, dass es sich hier lediglich um den Diebstahl der 1800 Pfund handeln könnte. Die verschleierte Dame war von Oberst Dardogne stets vor dem Kutab Minar bemerkt worden. Und dort hatte uns der Fremdenführer in einer Art und Weise für sich mit Beschlag belegt, die deutlich genug bewiesen hatte, dass der gewandte Inder es gerade auf uns abgesehen hatte.

Da erschien er auch bereits wieder hinter dem Rankenvorhang, in jeder Hand ein paar Harzfackeln, winkte uns, hielt die Schlingpflanzen zur Seite, damit wir bequem den engen Torbogen passieren könnten, und geleitete uns dann weiter durch einen engen Hof in eine zur Hälfte von Steintrümmern angefüllte Halle, deren Fliesenboden in der Mitte eingestürzt war, sodass man über die Trümmer in ein großes, leeres Kellergewölbe hinabklettern konnte. Der Inder hatte vorher zwei Fackeln angezündet: Eine trug er selbst, die andere hatte er Harst gegeben.

Auch hier in diesem Gewölbe bestand der Boden aus Steinplatten von verschiedener Farbe, die mosaikartig zu bunten Kreisen und Vierecken zusammengefügt waren.

Ohne jede sichtbare Ursache klappte eins dieser Vierecke dann langsam wie eine Falltür herunter und gab so einen Schacht frei, in dem eine sehr steile, gemauerte Treppe abwärtsführte.

Der Inder hielt eine dritte Fackel an seine bereits brennende, reichte sie Molgedey und sagte: »Bitte, Sahib, gehe du mit den Memsahibs nur voran.«

Molgedey zögerte. Der gähnende Schacht, in dessen Tiefen das Dunkel lauerte, schreckte ihn offenbar ab. Ich blickte auf Harst. Unsere Augen begegneten sich. Er kniff die seinen blitzschnell zu, ließ sie dann nach dem Inder hinübergleiten.

Ich verstand. Ich hielt mich bereit. Harst ließ plötzlich die Fackel wie aus Ungeschick fallen. Sie flog mitten auf die Steintreppe der Inder beugte sich vor, um zu sehen, ob sie noch weiter rollte.

Da war ihm Harst schon von hinten an den Hals gesprungen, riss ihn zu Boden. Auch ich packte zu, unbekümmert um die Schreckensrufe der Damen. Mit unseren Taschentüchern fesselten wir den Inder, steckten ihm auch einen Knebel zwischen die Zähne. Er hatte das Bewusstsein nicht verloren, schaute Harst und mich nun nur durchdringend an, als wir ihn aufrichteten und auf die Füße stellten.

Harst schob ihm den linken Ärmel hoch. Ich beugte mich herab. Was ich sah, genügte, mir manches klarzumachen: Auf der Innenseite des Ellbogengelenks hatte der Inder eine Tätowierung in Form eines hockenden dreiköpfigen Götzen!

Es war das Zeichen der Thugs, jener Mördersekte, die zu Ehren der Göttin Kali mit geweihter Schlinge Menschen erdrosseln, denen ein Leben nichts gilt, die einst vor fünfzig Jahren alle Landstraßen Indiens unsicher machten, bis dann Lord Wolpoore, der damalige Vizekönig mit aller Energie gegen sie vorging.

Molgedey hatte sich nun gefasst.

»Herr Harst, um Himmels willen, was … was bedeutet diese … diese Brutalität gegenüber einem harmlosen Menschen?«, fragte er ängstlich.

Harst winkte dem kleinen Herrn nur kurz zu, fragte nun den Inder: »Wo befindet sich Lord Edward Wolpoore? Rette dein Leben, indem du die Wahrheit sagst. Ihr habt in der verflossenen Nacht einen Menschen, einen der Detektive des Lords, bei dem Attentat auf das Auto getötet, einen zweiten schwer verletzt. Antworte mir, und ich gebe dich frei!«

Der Inder schwieg. Abermals ruhten seine Augen nur ernst, fast mit warnendem Ausdruck auf Harsts Gesicht. Harst wiederholte seine vorigen Worte mit mehr Nachdruck. Es half nichts. Der Inder starrte nun mit steinerner Miene zu Boden.

Molgedey hatte halb und halb begriffen, um was es sich hier handelte. Er kannte unsere ersten Abenteuer mit den Thugs.

»Herr Harst, wenn ich Ihnen behilflich sein kann«, meinte er diensteifrig. »Mir fehlt es nicht an persönlichem Mut.«

»Gut denn, Herr Molgedey!«, erwiderte Harst. »Wir werden diesen Inder jetzt aus den Ruinen dieses Tempels hinausschaffen und irgendwo in der Nähe verbergen. Dort bewachen Sie ihn bitte bis zu unserer Rückkehr. Ich hoffe in zwei bis drei Stunden wieder bei Ihnen zu sein.«

Molgedey war einverstanden. Wir nahmen dem Inder die Fußfesseln ab und zwangen ihn, mit uns zu gehen. Außerhalb des Torbogen mit dem Schlingpflanzenvorhang fanden wir in den Resten eines Wohnhauses einen schattigen, kühlen Winkel. Auch Dasy Molgedey betonte nun, sie würde gleichfalls gut auf den Mann achtgeben und zog dann aus der Tasche einen winzigen Damenrevolver hervor, zum maßlosen Erstaunen ihres Vaters, der sofort fragte: »Dasy – wie kommst du zu dieser Waffe?«

Wir warteten des jungen Mädchens Antwort nicht ab, sondern eilten wieder in das Kellergewölbe zurück, wo wir alles unverändert fanden. Die Falltür war noch offen; die Fackel mitten auf der Treppe des Schachtes war dem Erlöschen nahe.

Harst hatte nun seine Taschenlampe eingeschaltet. Er zeigte auf den Mosaikboden, auf einen bestimmten Stein.

»Diesen drückte der Inder vorhin mit dem Fuß herab«, sagte er leise. »Da öffnete sich die Falltür. Sehen wir zu, ob ein zweiter Druck sie wieder schließt.«

Harsts Vermutung stimmte. Das Viereck hob sich langsam, bis es sich so genau in die übrigen Fliesen einpasste, dass man nicht so leicht erkannt hätte, wo sich hier ein beweglicher Teil des Fußbodens befand. Ein neuer Druck ließ das Viereck wieder nach unten gleiten. Der Zugang zu dem Schacht war frei. Wir stiegen, Harst voran, die Treppe hinab. Aber nur wenige Stufen. Harst hatte an der linken Wand sehr bald einen verrosteten eisernen Handgriff entdeckt. Als er daran zog, schloss die Falltür sich.

Die Treppe endete vor der übermannshohen Öffnung eines unterirdischen Ganges, der aus dem Fels ausgehauen war. Wie so häufig in Indien, gab es also auch hier dicht unter der fruchtbaren Erde starke Felsschichten, von denen man auf der Erdoberfläche nichts wahrnahm. Der Gang verlief schnurgerade und mündete in eine natürliche Grotte, die zu einem Tempelinneren hergerichtet war.

Wir hatten uns mit äußerster Vorsicht vorwärtsbewegt, hatten so und so oft inzwischen Halt gemacht, unsere Lampen ausgeschaltet und gelauscht. Um uns her jedoch nichts als die lautloseste Stille, in der man desto deutlicher das leise Pochen des eigenen Herzens zu hören glaubte.

Nun traf der Lichtkegel von Harsts Lampe in diesem Grottentempel einen altarähnlichen Aufbau. Darauf hockte ein buntbemaltes, scheußliches Götzenbild mit drei Köpfen und ungeheuren Brüsten, an denen Schlangen zu saugen schienen.

»Kali, die Blutige«, flüsterte Harst. »Kali oder Bhowani, die von den Thugs verehrt wird! Ich ahnte, dass der Inder uns in einen Tempel der Kali hinabführen würde. Schauen wir uns hier weiter um.«

Aber es gab nichts mehr zu sehen – nichts. Die Grotte hatte scheinbar keinen zweiten Ausgang. Aber ihr Boden bestand aus denselben Fliesen wie der des Kellergewölbes. So war es denn begreiflich, dass Harst niederkniete und das Mosaikmuster sehr sorgfältig prüfte, bis er dann auf eine der Steinplatten drückte, die auch wirklich nachgab, worauf eins der Mosaikvierecke vor dem Altar genauso wie im Kellergewölbe sich nach unten öffnete.