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Deutsche Märchen und Sagen 186

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

249. Von einem verborgenen Schatz zu Ypern

Im Jahre 1488 kam ein Maurer, Namens Leo van Thielt, gebürtig von Audenaerde, nach Ypern, um dort Arbeit zu suchen. Da er aber keinen Meister dort finden konnte, so war er gezwungen, sein Stückchen Brot von Tür zu Tür sich erbetteln zu müssen. So kam er denn unter anderen auch an ein Haus, in dem eine geizige alte Jungfer ohne Magd wohnte, und bat diese Jungfer um ein Almosen. Sie fragte ihn, wer und woher er wäre und welch ein Handwerk er betreibe. Er sagte ihr, er wäre ein Maurer von Audenaerde und müsse betteln, weil er kein Brot habe.

Als die Jungfer hörte, dass er ein Maurer wäre, ließ sie ihn erfreut her­einkommen und sprach: »Wollet Ihr etwas für mich mauern und in Eurem Leben keinem Menschen etwas da­von sagen, dann will ich Euch gut bezahlen.«

Dessen war der Maurer sehr zufrieden und sagte, er wäre bereit, al­les zu tun, was sie nur wolle. Da befahl sie ihm in die Mauer des Herdes ein Loch zu brechen, so groß, dass man ein Kistchen Geld hineinsetzen könnte. Das tat er, half ihr auch die Kiste mit Geld hineinsetzen und mauerte dann das Loch wieder so fein zu, dass kein Mensch etwas daran sehen konnte.

Die Jungfer be­dankte sich sehr, gab ihm ein Drei-Gulden-Stück und sprach: »Wenn Ihr fürder noch nach Ypern kommet, sprecht stets bei mir zu und Ihr sollt jedes Mal etwas haben.«

Leo van Thielt dankte ihr und ging seines Weges.

Im folgenden Jahr, gegen die Mitte Dezember, hatte Leo abermals keine Arbeit und kam wieder nach Ypern, um sich bei der Jungfer ein Almosen zu holen. Wie lange er aber auch vor dem Haus stand und wie kräftig er auch anklopfte, man öffnete ihm nicht. Da fragte er einen der Nachbarn, ob die Jungfer ausgezogen wäre. Doch man antwortete ihm, sie sei schon seit acht Monaten tot, das Haus wäre nachdem schon mehrere Male wieder vermietet gewesen, aber alle Mietsleute hätten es wieder verlassen müssen, indem es so arg darin spuke und jede Nacht Geister darin umgingen.

Der Maurer gedachte alsbald der Geldkiste und sprach in sich selbst: »Siehe da, das ist die Jungfer, die wiederkehrt, weil sie das Geld verborgen hat.«

Er fragte, wer der Eigentümer des Hauses wäre. Man wies ihn zu demselben.

»Wollt Ihr mir das Haus da wohl vermieten?«, fragte er.

Der Eigentümer war herzlich froh und sprach sogleich: »Gewiss gern, nur müsst Ihr wis­sen, dass es allda spukt. Ich will Euch acht Tage lang selbst umsonst da wohnen lassen, auch Euch Tische, Stühle, Bett und alles, dessen Ihr bedürft, hineinschaffen, und wollt Ihr es nach den acht Tagen, dann sollt Ihr es noch sehr billig dazu haben.«

Leo sprach: »Ich ver­lange nichts mehr.« Und am selben Tag noch wurde alles nötige Hausgerät in das Haus gebracht und Leo zog ein. Als der Abend nahte, wurde er aber doch un­ruhig und je später es wurde, umso weniger konnte er schlafen, denn er dachte immer an die Kunst des Gei­stes.

So dauerte es bis halb eins und er hatte noch nichts weder gehört noch gesehen; dann aber hörte er plötzlich in der Oberkammer einen gewaltigen Schlag, sodass das ganze Haus zitterte und bebte, wie von einem Erdbeben. Dann sah er, wie es durch das Schlüsselloch hell und heller auf der Treppe wurde, und gleich darauf trappelten mehrere Personen dieselbe herunter und im sel­ben Augenblick öffnete sich seine Tür. Er tat, als ob er schliefe, hielt aber ein Auge immer halb offen und sah, wie vier Gerippe in die Kammer kamen, die auf ihren Schultern eine Totenbahre trugen und in ih­ren Händen Fackeln hielten. Auf der Bahre aber lag eine Frau. Sie näherten sich seinem Bett, vor wel­chem sie einige Zeit stehen blieben.

Wie es Leo dabei zumute war und wie kalter Angstschweiß ihm stromweise dabei von der Stirn rann, das kann man sich denken. Danach gingen sie weiter bis in die Mitte des Zim­mers und warfen dort die Totenbahre mit solcher Gewalt nieder, dass der Boden zitterte. Zugleich sprang das Weibsbild, in welchem Leo die alte Jungfer erkannte, von der Bahre, die vier Gerippe stellten einen Tisch in die Mitte der Kammer mit einem Stuhl daneben, auf dem die Jungfer sich niederließ, und gingen dann auf den Herd zu, wo sie die Mauer einschlugen, die Geld­kiste nahmen und sie mit einem gräulichen Schlag auf den Tisch setzen. Nun nahm die Jungfer einen Schlüssel, öffnete die Kiste und nahm einige Säcke her­aus, welche die Gerippe aufmachten und das darin be­findliche Geld laut zählten, aber in einer Sprache, welche Leo vorher nie gehört hatte, denn es war kein Flämisch, kein Französisch, kein Spanisch, kein Latein, kurzum, es war nicht verständlich, was sie sagten.

Nachdem sie nun das Geld gezählt hatten, warfen sie es schnell wie­der in die Säcke, die Säcke in die Kiste und die Kiste in die Mauer, welche sie wieder so schön zumauerten, dass man nichts daran sehen konnte. Dann setzten sie auch den Tisch wieder weg, die Jungfer stand vom Stuhl auf, legte sich auf die Totenbahre und wurde also wieder aus der Kammer getragen, wonach Leo wie­der denselben schrecklichen Schlag hörte, wie um halb eins.

Natürlich konnte er nicht schlafen, blieb also wa­chend liegen bis zum folgenden Morgen. Da war gleich seine erste Arbeit, die Mauer am Herd aufzubrechen und die Geldkiste herauszuschleifen. Er öffnete sie und zählte nun auch einmal in seiner Sprache, wieviel darin war, und er fand nicht weniger als neuntausend Pfund Groote.

Hocherfreut eilte er zum Eigentümer des Hauses.

»Nun, wie ist es Euch die Nacht ergangen?«, fragte der ihn als­bald.

Er antwortete: »Nicht zum Allerbesten; ich habe viel Angst ausgestanden, hoffe aber, das wird sich mit der Zeit legen, denn man gewöhnt sich leicht an al­les und auch wohl an Spukerei. Darum, wenn Ihr mir das Haus überlassen wollet, natürlich zu billigem Preis, dann nehme ich es, und ich kann es Euch selbst gleich bezahlen, denn ich habe einen Freund, der mir das Geld dazu vorschießen wird.«

Der Eigentümer war seelenvergnügt, einen Käufer für das verrufene Haus zu ha­ben, und Leo war zufrieden, so bald über den Kauf ei­nig geworden zu sein und nur zweihundert Pfund Groote für das schöne Haus bezahlen zu müssen. Am selben Tag noch entrichtete er die Summe und war also ein reicher Mann. Von den Geistern hat er seitdem nie mehr etwas gesehen.