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Fort Wayne – Band 2 – Kapitel 7

F. Randolph Jones
Fort Wayne
Eine Erzählung aus Tennessee
Zweiter Band
Verlag von Christian Ernst Kollmann. Leipzig. 1854

Siebentes Kapitel

Ein frischer, sogar etwas kühler Nordostwind hatte sich mit Sonnenaufgang erhoben und trieb das feuchte, regenschwere Gewölk vor sich her, wie ein siegreicher Feldherr die zerstreuten Scharen des fliehenden Fein­des. In langen, zackigen Streifen flog die zerrissene Nebeldecke dem Gebirge zu, während der Horizont eine immer größere Fläche seines azurblau schimmern­den Gewölbes zeigte, an welchem das leuchtende Tagesgestirn strahlend emporstieg. Der ungeheure Forst, welcher die Ufer des Cumberland River wie eine mäch­tige Riesenmauer umsäumt, schillerte in prachtvollen, saftigen Farbentonen; jedes Blatt war mit blitzenden Diamanten besät, aus jedem Blumenkelch, der sich am Ufer auf schlankem Stiel wiegte, schimmerten goldene Tautropfen, und selbst das Moos, welches wie ein Samtteppich die Uferränder und Klippen be­deckte, erschien mit Perlen und Rubinen geschmückt von der freigebigen Hand des jugendlichen Tages. Hoch in den Lüften brauste es wie feierlicher Orgelklang durch die schwankenden Baumkronen, aus deren grüner Tiefe tausend gefiederte Sänger ihr jubelndes Morgenlied in die duftige Luft hinausschmetterten. Majestätisch rauschte der herrliche Fluss unter dem Blättergewölbe dahin, sanft die bis auf seine Fläche herabhängenden Lianengewinde schaukelnd, und belebt von Scharen wilden Geflügels, welches lärmend die Flut nach allen Richtungen durchfurchte. So lebensvoll, so frisch und rein war die gesamte herrliche Waldszenerie, dass es schien, als sei sie eben erst aus der schaffenden Hand des Allmäch­tigen hervorgegangen, als sei es das strahlende Licht des ersten Schöpfungsmorgens, welches auf Laub, Fels und Welle blickte. Umso fremdartiger erschien als Staffage ein langes, aber schmales Floß, welches, um eine Ecke biegend, in das großartige Land­schaftsbild eintrat. Mitten auf dem Strom trieb es langsam daher; nur das Steuerruder wurde dann und wann von dem am Hinterteil stehenden jungen Mann gehandhabt, während die vier anderen Personen, von denen zwei dem weiblichen Geschlecht angehörten, schweigsam und träumerisch sich dem Reiz der sanf­ten Bewegung hingaben. Miss Mary und Dame Beagle – denn unsere Flüchtlinge aus Fort Wayne sind es, denen wir hier in der prächtigen Wildnis begegnen – befanden sich in jenem traumartigen Gemütszustand, der aus der Abspannung des gesam­ten Nervensystems nach schweren und lange anhalten­den Erschütterungen hervorzugehen pflegt, und in welchem die uns umgebende Wirklichkeit gewissermaßen wie durch einen Schleier und mehr durch das Auge als durch den Geist vermittelt erscheint. Sie verdank­ten der Sorgfalt ihrer Begleiter einen bequemen Sitz in der Mitte des Floßes. Weder Doktor Littlewood noch Korporal Jiggins, welche die Nacht hindurch und beim Passieren der gefährlichen Stromschnellen wacker die Ruder gehandhabt hatten, ließen es an Bemühun­gen fehlen, den armen Frauen die abenteuerliche Reise so angenehm zu machen, wie es unter den obwaltenden Umständen überhaupt möglich war. Littlewood hatte die Fülle seines Unterhaltungstalentes durch die wunderbarsten Erzählungen, durch geistreiche Anekdoten und ermunternde Trostsprüche glänzend dargetan, kräftig und nach bestem Vermögen unterstützt durch den Korporal, den nur die Gefährlichkeit des Unternehmens abhielt, durch den Vortrag einiger schöner Kriegs- und Liebeslieder einen Hauptsturm auf die gedrückten Her­zen der Damen zu unternehmen. So herrschte denn seit beinahe einer Stunde auf dem Fahrzeug eine Stille, welche mit der feierlichen Ruhe der Umgebung harmonierte, denn auch Richard Morris war zu erfüllt von seinen eigenen trüben Gedanken und Sorgen um das ungewisse Schicksal seiner Gattin, als dass er sich fähig gefühlt hätte, die Rolle eines erheiternden Gesellschafters zu übernehmen. So fest er auch auf Edistas treue Liebe bauen durfte, so überzeugt er auch von ihrer Standhaftigkeit und kühnen Entschlossenheit war – Eigenschaften, die er von jeher an dem teuren Mädchen bewundert hatte – so erregte gleichwohl das Bild des Chevaliers mit seinen kalten, hochmütigen Zügen, unter denen ein Vulkan brennender Leidenschaften schlummerte, eine Beängstigung in Richards Herzen, die kaum durch die Hoffnung auf baldige Wiedervereinigung mit der Geliebten gemildert werden konnte. Unter dem Eindruck solcher Empfindungen ging die Schönheit der Natur spurlos an ihm vorüber, und während er mechanisch das Steuer handhabte, starrte er so finster in die Wellen hinab, als ob dieselben nicht sein eigenes Bild widerspiegelten, sondern das des gehassten Nebenbuhlers.

Während das Floß still und langsam strandabwärts trieb, veränderte sich allmählich der Charakter der Uferlandschaft. Der Forst zu beiden Seiten wurde weniger dicht und wich eine Strecke vom Fluss zurück; dagegen erschienen, erst in einzelnen Gruppen, dann in Form eines langgestreckten Höhenzuges, weiße, un­regelmäßig zerklüftete Kalksteinwände, nur spärlich mit Baumwuchs und Gesträuch bedeckt, zum Teil unterwaschen von der Flut und in grotesken Formen über den Strom hängend. Die höher heraufgestiegene Sonne, gegen welche das grüne Laubdach und seine frische Kühle nicht mehr schützte, begann heißen Brand niederzusenden, der nach den vorhergegangenen Anstrengungen nur um so erschlaffender auf die physische und geistige Natur unserer Irrfahrer wirkte. Mrs. Beagle vermochte nicht länger dem Andringen des Schlafes zu widerstehen; nach mehrfachen fruchtlosen Versuchen, sich wach zu halten, fiel ihr Kopf auf Marys Schultern, und bald bekundete ein tiefes, regelmäßiges Atemholen, dass sie sich im Reich der Träume und des Vergessens befand. Auch Littlewood begann zu gähnen und mit den Augen zu blinzeln und empfand es in diesem Augenblick lebhafter als je, wie lieb und teuer ihm sein hochlehniger, gepolsterter, lederüberzogener Sorgenstuhl war, der nun unbenutzt und leer neben dem feuerlosen Kamin in dem grünen Bibliothekzimmer, Chifford Street Nummer vier, Charleston, der Wiederkehr des abenteuernden Besitzers harrte. War es doch, als ob die ganze Natur sich zu einer großen Siesta bereit mache! Das Lied der Vögel verstummte allmählich, die Zweige hin­gen schlaff und regungslos von den Bäumen, die Luft flimmerte in der zunehmenden Hike, und selbst der Fluss schien träge und widerwillig in seinem breiten Bett einherzuschleichen.

Im Schoß der Wildnis, in den fernen, west­lichen Waldgebieten und Prärien bedarf es nur eines einzigen, halbvernehmlichen Lautes, eines fremdartigen Tones, der in Europa nicht ein Bienchen aus dem Kelch seiner Blume scheuchen würde, um urplötzlich die schwerste Lethargie zu vertreiben, die tiefste Ruhe und Bewegungslosigkeit in Leben, Spannung und Auf­regung zu verwandeln. So geschah es nun, als, offen­bar aus weiter Ferne, der dumpfe Knall einer Flinte in das Ohr der Reisenden schlug. Im Nu belebten sich alle müden Blicke und spähten stromabwärts, von wo der Schall gekommen war; selbst Mrs. Beagle fuhr aus ihrem Schlummer auf, zwar nicht direkt durch den Schuss, doch durch die sich ihr sympathetisch mitteilende Bewegung geweckt, von welcher die Bewohner des Floßes ergriffen wurden, als das Feuern sich in kurzen Pausen wiederholte und näher zu kommen schien.

»Ob Freund, ob Feind, das ist die Frage!«, rezitierte Doktor Littlewood mit großer Emphase. »Jedenfalls scheint es, als sollten wir nicht so unbe­merkt nach Reynoldsburg hinabschwimmen, wie wir hofften. Dieses Plänklerfeuer gefällt mir gar nicht, Korporal Jiggins!«

»Könnte es auch nicht sagen!«, entgegnete dieser kopfschüttelnd, »man hört es dem besten Gewehr an, wenn es eine Indianerfaust abdrückt. Es ist kein christlicher Klang und ich glaube, wir werden wohltun, wenn wir ein wenig ans linke Ufer hinüberhalten. Was meint Ihr, Mr. Morris?«

Statt der Antwort gab Richard dem Steuer einen kräftigen Druck, und das Floß kreuzte, durch die Ruderkünste des Doktors und des Korporals unterstützt, rasch und leicht den Strom. Nahe am Ufer bemerk­ten die Reisenden einen Punkt, wo die erwähnte Hü­gelkette, in nordwestlicher Richtung in den Fluss vor­springend, ein breites Vorgebirge bildete, dessen Fuß mit einem Gürtel dichten Buschwerks umgeben war. Innerhalb der Bucht ruhte das Wasser still und un­bewegt wie in einem Landsee; der Felsenrücken war hoch genug, um das Floß den Blicken eines strom­aufwärts kommenden Feindes zu entziehen und die Tiefe des Gebüsches bot den Reisenden selbst eine sichere und verborgene Zuflucht. Dort beschloss man zu landen und den Verlauf der Dinge abzuwarten.

Kaum hatte das Floß den Strand berührt, als ein Schuss ganz nahe und vom gegenüberliegenden Ufer her die Gesellschaft zur schleunigsten Ausschiffung bewog. Von Richard und dem Doktor unterstützt, stiegen die Frauen an Land und drangen nicht ohne Schwierigkeit in das Dickicht, während Jiggins das Fahrzeug so dicht unter die überhängenden Sträucher zog, dass es eines scharfen Auges bedurft hatte, um es in seiner Verborgenheit zu entdecken. Dann berei­tete man den Frauen aus den mitgebrachten Decken und Kleiderbündeln einen notdürftigen Sitz, der frei­lich kein anderes Verdienst als das der Sicherheit dar­bot und der speziellen Obhut Richards anvertraut wurde. Littlewood und Jiggins aber beeilten sich, die Büchsen im Arm, vorsichtig den Kamm des Vorge­birges zu ersteigen und das Terrain zu rekognoszieren.

Jiggins kletterte einige Schritte voran, aber kaum hatte er den Gipfel erreicht und den Kopf über den Felsrücken gesteckt, als er so plötzlich zurückrutschte, dass er den nachfolgenden Doktor beinahe umgerissen hätte.

»Alle Wetter! Fast hatten wir den Bären auf den Schwanz getreten!«, flüsterte er erschrocken. »Gesegnet sei der Gedanke, der uns an Land ru­dern hieß! Hätten wir das Vorgebirge passiert, wir wären von Kugeln und Pfeilen durchlöchert worden wie ein Sieb!«

»Sind sie so nah?«, fragte der Doktor.

»Keine dreißig Schritte von hier steht ein be­waffneter Haufen, weiter hin noch einer und drüben auf dem anderen Ufer eine dritte Abteilung. Der Henker weiß, was sie vorhaben; sie zielen alle nach dem Wasser, als hätten sie eine schwimmende Scheibe auf dem Strom.«

Wieder knallten einige Schüsse, gefolgt von einem gellenden Triumphgeheul, welches sich echoartig längs des Flusses fortzupflanzen schien. Die Begierde zu erfahren, was in so bedrohlicher Nähe verging, ließ unsere beiden Kundschafter selbst der Gefahr der Ent­deckung Trotz bieten. Leise und mit äußerster Vorsicht kletterten sie den Abhang hinauf, dessen Plateau sich glücklicherweise mit hohem Gras bedeckt zeigte, sodass ihre lauschend vorgebeugten Köpfe verborgen blieben.

Ein merkwürdiges und aufregendes Schauspiel bot sich ihren Blicken dar. Wie Jiggins berichtet hatte, standen am jenseitigen Abhang des Hügels und in geringer Entfernung voneinander Gruppen bewaff­neter Indianer längs des Flussufers und zum Teil selbst bis an den Gürtel im Wasser. Der Richtung ihrer wilden Blicke, der gespannten Bogen und schussfertig liegenden Flinten folgend, sahen Littlewood und Jig­gins fast in der Mitte des Flusses auf einer völlig kahlen, etwa zwanzig Fuß langen und breiten Fels­platte, die kaum einige Zoll über den Wasserspiegel hervorragte, eine menschliche Gestalt, die, in die Knie gesunken, mit dem Ausdruck der Verzweiflung bald die Hände emporhob, bald sie auf zahllose Wunden presste, aus welchen dunkle Blutströme hervorquollen. Es war gleichfalls ein Indianer, der, augenscheinlich auf der Flucht von feindlichen Stämmen entdeckt, sich vergebens durch das Schwimmen über den Fluss zu retten versucht hatte und durch eine an dem entgegen­gesetzten Ufer aufgestellte Schar abgeschnitten worden war. Mit der in dem indianischen Charakter liegen­den Grausamkeit, die den Feind erst tausend ausge­suchte Qualen erdulden lässt, ehe sie ihm den Gnaden­stoß gibt, hatten die Verfolger den unglücklichen Flüchtling zur Zielscheibe ihrer Geschosse gewählt, de­nen er umso weniger entrinnen konnte, da der Blut­verlust und die lange Todesangst ihn bereits in einen Zustand halber Agonie versetzt hatten. So oft der zischende Ton einer Flintenkugel oder das Schwirren

der Bogensehne die Luft durchschnitt, zuckte der Un­glückliche zusammen und wendete seine stieren, verzweiflungsvollen Blicke nach dem Ufer, wo sich kein rettender Engel, sondern nur die grimmen, hohn­lachenden Gestalten seiner Peiniger zeigten; endlich mochte ein Geschoss, sicherlich wider Willen des Schützen, das Herz des Opfers getroffen haben – denn mit einem konvulsivischen Sprung schnellte der zerfetzte Körper hoch empor und stürzte dann, mit dem Gesicht voran, auf die Felsplatte nieder, wo er steif und regungslos liegen blieb.

»Gott sei gelobt – er ist tot!«, flüsterte der Doktor, sein schreckensbleiches Antlitz dem Korporal zuwendend. »Fluch über diese heillosen Satanskin­der, die schlimmer als wilde Tiere gegen ihresgleichen wüten. Ich sage Euch, Korporal Jiggins, hätte dieses Schauspiel noch eine Minute länger gedauert, ich hatte meine Büchse entweder auf den armen Flücht­ling abgedrückt, um ihn von seiner Qual zu erlösen, oder mitten unter seine Peiniger – und wenn es meinen Kopf gekostet hätte!«

Jiggins sah den Sprecher mit einem beinahe ver­ächtlichen Seitenblick an. »Meint Ihr, Doktor«, sagte er, »dass ich nur zehn Sekunden gezögert hatte, eines von beiden zu tun, wenn ich nicht in der lebendigen Schießscheibe den Hiwassee, den nieder­trächtigen Schuft erkannt hatte, der den Häuptling Takannah meuchlings erschoss und uns dann das Fort

über dem Kopf anzündete? Ihm ist Recht geschehen, behaupte ich, und ich würde mir die Sünde nicht vergeben haben, wenn ich der Vorsehung in den Arm gegriffen hätte.«

»Nun ja – freilich! Das ist etwas anderes«, murmelte der Doktor einigermaßen verlegen, denn sein weiches Herz konnte sich bei dem Anblick des noch zuckenden Schlachtopfers nicht zu der Logik des ergrimmten Korporals erheben. »Indessen scheint es mir doch, dass …«

»Schaut hin und verschont mich mit dem Ge­schwätz!«, unterbrach ihn Jiggins. »Die roten Gentlemen schreiten jetzt zum zweiten Teil des Festes; erst Schießübung, dann Wettrennen um den Skalp. Seht, wie sie ins Wasser plumpen, die Toren, und sich um eine Schädelhaut abmühen, die ein so verräterisches Hirn bedeckte.«

In der Tat warfen sich mit lautem Triumph­geschrei die Indianer auf beiden Ufern in den Fluss und schwammen wetteifernd zu der Felsplatte. Der Rüstigste der braunen Schwimmer, welcher zuerst den Toten erreichte, erhob einen gellenden Siegesruf, setzte ein Knie auf die Brust des Leichnams und löste ihm mit einem einzigen gewandten Zirkelschnitt die Kopf­haut vom Schädel, die er, eine grauliche, blutende Trophäe, tanzend und singend in der Luft schwang, hoch beneidet von den zu spät kommenden Gefährten, die sich darauf beschränkt sahen, den getöteten Feind mit Messerstichen und Tomahawks zu zerfleischen und dann die unförmlich gewordene Masse in den Strom zu schleudern.

»Nun habe ich genug, Korporal, mir wird übel bei solchem Anblick!«, stöhnte der Doktor und begann vorsichtig den Abhang wieder hinabzuklettern.

»Ja, es ist kein Schauspiel für Christenleute!«, antwortete Jiggins, dem Doktor folgend. »Wir können froh sein, dass die Affäre stattgefunden hat, denn die Indianer werden nunmehr ihres Weges ziehen und wir kommen unbelästigt den Strom hinunter.«

»Wäre es nicht ratsam, den Tag über in unse­rem Versteck liegen zu bleiben?«, meinte Littlewood, »man kann nicht wissen, ob einzelne Nach­zügler …«

Der Schluss des Satzes verhallte buchstäblich und zum großen Erstaunen des Korporals im Inneren der Erde, denn plötzlich verschwand der Doktor, wie von einer unsichtbaren Macht hinabgezerrt, in einer trich­terförmigen Höhlung, aus welcher sein Schnauben, Keuchen und Pusten dumpf und schauerlich herauftönte.

»Alle Wetter! Wo steckt Ihr, Doktor?«, schrie Jiggins, indem er sich voll Besorgnis über die Ver­tiefung beugte, in welcher sein Begleiter verschwunden war. »Ich hoffe, Ihr habt kein Bein gebrochen?«

 

»Alles gut!”, ertönte die Stimme des Ge­rufenen, wie aus der Mündung eines Sprachrohrs. »O, wie prächtig! Herrlich! Wundervoll!«

»Was? prächtig – wundervoll? Wollt Ihr mich überreden, dass Ihr Euch in dem verd… Loch kom­fortabel befindet? Nun, dann brauche ich wohl keine Stricke zu holen, um Euch heraufzuholen?«

»Nicht nötig, Mr. Jiggins. Ich sehe hier einen anderen Ausgang und werde eher am Fluss sein als Ihr. Bitte, kommt mir nach – so etwas haben Eure Augen noch nicht gesehen! Ein Feenpalast, sage ich Euch!«

»Danke schön!«, brummte Jiggins, »ich befinde mich hier oben besser und gehe zu den Frauen zurück, die inzwischen Sorge genug ausgestanden haben werden.«

Damit stolperte der Korporal den Abhang vollends hinab und drang durch das Gebüsch zu dem Platz vor, wo die Damen unter Richards Schutz in ängst­licher Spannung dem Verlauf der Dinge entgegen harrten. Wirklich fand er hier bereits den Doktor vor, der aber, anstatt die hastig an ihn gerichteten Fragen über das stattgefundene Ereignis zu beantwor­ten, sich in Ausrufe des Entzückens und schwärmeri­scher Bewunderung ergoss, welche der Pracht der Fel­senhöhle galten, in die er durch seine unfreiwillige Versenkung geraten war. »Ich beschwöre Euch, Mr. Morris! Ich flehe Euch an, Ladys!«, perorierte er eben, »folgt mir in diesen Zauberpalast, der seinesglei­chen nicht auf oder vielmehr unter der Erde hat. Es ist die Königin der Höhlen, deren Entdeckung mich, den armen Doktor Littlewood, unsterblich machen wird.«

»Sollte man nicht meinen, der Doktor habe den Verstand unten in dem verwünschten Loch gelassen?«, fiel Jiggins dem Redner sehr unzeremoniös ins Wort. »Was Teufels kann es da unten zu sehen geben als Steine, Staub und Fledermäuse? Und als ob wir Zeit hätten, unsere Reise mit dergleichen Humbug zu versäumen!«

»Ihr seid ein Idiot, ein ungelehrter Thebaner, mein lieber Mr. Jiggins!«, replizierte der Doktor mit geringschätzigem Achselzucken. »Ich wende mich an diese feinfühlenden, für Naturmerkwürdigkeiten ge­wiss nicht unempfindlichen Damen und an Mr. Mor­ris, meinen achtungswerten Freund, der umso eher meinen Vorschlag zum Besuch des wundervollen Platzes unterstützen wird, wenn ich ihm versichere, dass derselbe so luftig, geräumig und überdies so vollkommen jedem menschlichen Späherblick verborgen ist, dass die Vor­sehung selbst uns diesen Ruhepunkt ausgewählt zu haben scheint.«

Die weibliche Neugierde, sagen wir in diesem Fall lieber Wissbegierde, die selbst durch die Eindrücke der jüngst verflossenen Tage nichts von ihrer Spann­kraft verloren hatte, erwies sich als wirksame Bundesgenossin des enthusiasmierten Doktors, und da Richard Morris ein längeres Verweilen der Indianer am Fluss für nicht ganz unwahrscheinlich hielt, so sah sich der prosaische Korporal überstimmt und die kleine Reise­gesellschaft schlug, mit ihren geringen Effekten beladen, unter Littlewoods Führung den Weg zur Höhle ein.

Durch dichtverwachsenes Gestrüpp dringend ge­langten sie an eine niedrige und unregelmäßig gebildete Felsenspalte, welche in der Tat so gut verborgen war, wie es die Flüchtlinge nur immer wünschen konnten. Nur gebückt vermochten sie einzutreten, und bereits be­gann Jiggins einige Sarkasmen über die gerühmte Pracht des Felsenpalastes auf den Doktor zu schleu­dern, als nach etwa zwanzig Schritten der ziemlich abschüssig hinunterführende Spalt sich plötzlich erwei­terte und in ein beinahe regelmäßig viereckiges Ge­mach mündete, welches, wenn auch nur ein spärliches Licht, doch frische Lust genug durch den Eingang er­hielt, um unter bewandten Umständen für ein höchst wünschenswertes Asyl gelten zu dürfen. Der Boden war hart und trocken; die rosa schimmernden Wände senkten sich etwa dreißig Fuß hoch von dem Gewölbe herab und erschienen glatt wie poliert, während von der Decke Knäufe und dünne Zapfen von gelblichem Tropf­steine herabhingen.

»Well! Das Zimmerchen ist hübsch genug zum Übernachten!«, sagte Jiggins, indem er sofort ans

Werk schritt, das Gepäck aufzustellen und eine Art häuslicher Einrichtung zur Bequemlichkeit der Damen zu treffen. »Indessen sehe ich nichts, was Eure Ver­zückung irgend rechtfertigen könnte, Doktor!«

»Geduld! Geduld! Ich habe nichts dagegen, dass in diesem Vorgemach das Hauptquartier aufgeschlagen werde, vorher aber bitte ich, mir einige Schritte wei­ter zu folgen und zu schauen, was ich gesehen habe. Dies ist der Weg – und er ist bequem genug, um auch von den Damen betreten zu werden.«

Damit schritt der Doktor zu der Hinterwand der Höhle, wo sich eine zweite, schmale und hohe Öffnung zeigte, durch welche sich die Gesellschaft hindurchzwängte. Der Engpass hatte nur einige Yards Lange und mündete in eine Halle, die in der Tat einen prächtigen Anblick bot. Aus einer Öffnung in der halben Höhe des Gewölbes ergoss sich eine Flut hellen Sonnenlichtes in den unterirdischen Raum, dessen Wände überall die herrlichsten Tropfstein-For­mationen zeigten. Von der wohl fünfzig Fuß hohen, tonnenartig gewölbten Decke senkten sich glänzend weiße Säulen und Pfeiler von der Dicke eines viel­hundertjährigen Eichbaums bis zu den Dimensionen eines feinen Wasserstrahles auf den Fußboden herab, oder endeten in verschiedener Höhe als scharfe, blitzende Zinken. Mit leisem, metallischem Klingen fielen in langsamen Intervallen funkelnde Wassertropfen von oben herab, und wo das Tageslicht die entgegenstehende Wand traf, schimmerte diese mit ihren Spitzen, Bögen und Knäufen wundervoll in den Farben des Regenbogens. Gerade von der erwähnten Öffnung, welche die Rutschfahrt Littlewoods sichtlich erweitert hatte, senkte sich eine gletscherglatte Felsmasse sanft ab­hängig in Form eines mächtigen Strebepfeilers herab, bis in die Mitte der Höhle vorspringend – die Straße, auf welcher freundliche Gnomen den Doktor in ihr Zauberreich sicher und bequem hinabgeführt hatten. Die Hinterwand der Höhle lag in tiefen Schatten be­graben, doch entdeckte man zwei beinahe runde Löcher, welche gleich den Mündungen eines Tunnels in das Innere der Erde zu führen und die Wanderer zu weiteren Forschungen einzuladen schienen.

Unsere Reisenden waren von der Großartigkeit des Schauspiels so überrascht, dass sie lange im tiefen Schweigen verharrten und mit bewundernden Blicken die herrliche Szenerie betrachteten. Doktor Littlewood, dessen rundes Antlitz von jenem stolzen Entzücken er­glänzte, welches Kolumbus beim ersten Erblicken der Neuen Welt empfunden haben mag, war der Erste, der seinem vollen Herzen Luft machte und den ihm gebührenden Tribut für den erschlossenen Naturgenuss in Anspruch nahm.

»Nun, Myladys und Gentlemen?«, rief er, die Arme wie Napoleon übereinanderschlagend, »was sagt Ihr jetzt, he? Habe ich gelogen, als ich versprach, Euch einen Feenpalast zu zeigen? Ich denke,

Mr. Jiggins wird sich bereitfinden lassen, seine ge­ringschätzigen Äußerungen zurückzunehmen?«

»Mit Bedingungen, Doktor! Mit Bedingungen!«, replizierte der Korporal. »Das ist allerdings ein mächtig schönes Stück und verdient besehen zu wer­den, obwohl mich gemuten will, dass der neue Saal in Marshall-Tavern zu Boston mit seinen Spiegel­wänden und Kronleuchtern und …«

»Puh! Wie kann man hier und in diesem Augenblicke von Tavernen, Spiegelwänden und dergleichen Unrat sprechen?«, sagte der Doktor, sich mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Verachtung von dem hart­köpfigen Korporal abwendend. »Was meint Ihr, Mr. Morris, sollen wir auf halbem Wege stehen blei­ben oder uns in einen dieser beiden Schächte da drü­ben begeben, die ohne Zweifel den Zugang zu noch größeren Herrlichkeiten bilden?«

»Ich bin bereit«, versetzte Morris, »wenn Mr. Jiggins sich entschließen kann, zum Schutz der Damen zurückzubleiben, denen Ihr nicht zumuten werdet, an dieser abenteuerlichen und vielleicht gefähr­lichen Expedition teilzunehmen.«

»Allerdings müssten wir erst das Wie! und Wo­hin! untersucht haben, ehe wir dem zarten Geschlecht die Früchte unserer Forschungen vor Augen legen. Und was den Korporal betrifft, so ist es mir ganz recht, wenn er sich nicht weiter bemüht, da es doch

zweifelhaft ist, ob es uns glücken wird, einen Bostoner Tanzsaal aufzufinden.«

»Do’nt take amiss! Seid nicht böse, Doktorchen!«, erwiderte Jiggins mit einem Lächeln und bot dem grollenden Entdecker die Hand, die dieser mit der Miene tiefbeleidigter Würde nur mit den Fingerspitzen berührte. »Macht meinetwegen aus Eurer Höhle das Paradies unseres lieben Herrgotts; ich werde nicht widersprechen, wenn Ihr bei Eurer Rückkehr erzählt, dass Ihr den Mittel­punkt der Erde entdeckt habt.«

Mrs. Beagle und Mary zeigten im Gegensatz zu dem rauen Krieger in Blicken und Mienen so viel Entzücken, wie Littlewood nur irgend wünschen konnte, und durchforschten die Höhle und deren ein­zelne Tropfsteingebilde nach allen Richtungen. Ihre lebhaft erregte Fantasie fand in den schimmernden, abenteuerlich geformten Stalaktiten allerhand täuschende Ähnlichkeiten mit Gegenständen der Oberwelt; da gab es Seeungeheuer mit mächtigen Flossen und geöffneten Rachen, die aus den Wänden hervorsprangen, Sphinxe, die wie die Karyatiden eines ägyptischen Pharaonen­palastes die Decke trugen, Blumen und Früchte, Bären und Schlangen, Diwans und Schaukelstühle – und mit der gefälligsten Bereitwilligkeit beglaubigten Morris und besonders der Doktor jede Entdeckung auf diesem bunten Tummelplatz der Einbildungskraft. Fast zwei Stunden waren über dem Beschauen und Deuten dieser

geheimnisvollen Chiffre einer fantastischen Natur unbemerkt verstrichen, als endlich die Kühle und Feuch­tigkeit des Ortes, welche die Frauen trotz ihrer war­men Begeisterung zu durchfrösteln begann, die wieder­holten Ermahnungen des Korporals wirksam genug unterstützten, um den Rückzug zu dem zwar ein­facheren, aber gesünderen Vorgemach wünschenswert zu machen. Zögernd verließ die Gesellschaft die wun­dervolle Höhle und versöhnte sich einigermaßen mit dem materialistischen Korporal, als sie diesen die zweck­mäßigsten Anstalten zu einer behaglichen Einrichtung des erwählten Hauptquartiers und zu einer Mahlzeit treffen sah, welcher freilich der allgemein rege gewor­dene Appetit als beste Würze dienen musste.

 

Während die Frauen, von geistiger und körper­licher Ermüdung besiegt, sich anschickten, dem Schlummergott ein Opfer zu bringen, rüsteten sich Littlewood und Morris zu der großen Entdeckungsreise in das Innere des Höhlenlabyrinths. Ein halbes Dutzend harziger Stämmchen der amerikanischen Fichte, welche sich trefflich zu Fackeln eigneten, ein mächtiges Packet Bindfaden, um den Wanderern als Ariadneknäuel zu dienen, Feuerzeug, ein wenig Brot, endlich Messer, Büchse und Pulverhorn – das waren die Gegenstände, mit denen die kühnen Eindringlinge in Plutos Reich sich beluden, begleitet von einigen halb ernst ge­meinten, halb spöttischen Ermahnungen des Korporals

voll guten Mutes und froher Erwartungen ihre Expe­dition antraten.

In der Tropfsteinhalle zündete Morris die Fackeln an und nach kurzer Beratschlagung entschloss man sich, von den beiden erwähnten Höhlenmündungen die in südwestlicher Richtung streichende einzuschlagen. Nur gebückt und an einigen Stellen mit Gewalt sich durchzwängend, passierten sie einen Gang, der abschüssig und steil hinabführte. Wohl zwei- bis dreihundert Fuß mochten sie auf diesem unbequemen Weg zurück­gelegt haben, als sich der Pass plötzlich erweiterte und bei dem schwankenden Licht der Fackeln eine ungeheure Wölbung sichtbar wurde, deren Ende sich in schwarzer Finsternis verlor. Auf dem feuchten, modrig riechenden Boden lagen mächtige Felsblöcke, wie von der spielenden Hand eines Riesen umhergestreut; die Seitenwände waren stellenweise dicht mit unterirdischen Moosen und Flechten überzogen, und von der Decke hingen seltsame, traubenförmig geballte Klumpen herab, über deren Beschaffenheit die Wanderer sich anfangs nicht zu einigen vermochten. Aber kaum hatte Littlewood, von naturwissenschaftlichem Eifer getrieben, seine Fackel den rätselhaften Gegenständen genähert, als sie zu seinem Schrecken mit einem sausenden Schwirren auseinander toben, dass beinahe beide Leuchten gelöscht worden wären. Es waren Fledermäuse, die, in diesem Vorhof der Hölle zu Tausenden versammelt, den Tag verschliefen und nun wie eine Legion böser Geister, von

dem ungewohnten und verhassten Element des Lichtes geweckt, in wirren Kreisen die Häupter der kühnen Eindringlinge umflatterten.

»Vespertilionidae Chiroptera!«, murmelte Littlewood, sich nach dem Eingang zurückziehend. »Ich denke, wir respektieren den Schlafsaal dieser Ungetüme und gehen weiter.«

Da Morris nichts Erhebliches einzuwenden hatte, wurde das eine Ende des Bindfadens an einer vorspringenden Felszacke befestigt, während Richard das über ein Holz gewickelte Knäuel behielt, und nachdem man die Brände durch Abstoßen der Kohle zu hellerer Glut entzündet hatte, wurde der Weg fortgesetzt, der zunächst durch eine zweite und dritte Höhle führte, die außer einer Menge wunderlicher Felsformationen und ihrer großen Ausdehnung nichts Bemerkenswertes boten. Schon hatte Morris den Vorschlag zur Rück­kehr auf den Lippen, als ein dumpfes Rauschen, wel­ches tief aus dem Bauch der Erde zu dringen schien, der Wissbegierde der beiden Abenteurer einen neuen Impuls gab. Der Schall glich bald dem fernen Brausen des Sturmwindes, bald der majestätischen Monotonie eines Kataraktes, bald klang es wie Orgel­ton und fernher schallendes Glockengeläute. Rasch eilten Littlewood und Morris durch ein Felsengemach, dessen halb eingestürztes Gewölbe riesengroße Blöcke, wie in der Luft schwebend, über ihren Häuptern zeigte, und traten, dem wunderbaren Getöse folgend, in einen neuen

Gang, der so eng und niedrig war, dass sie ihn zum Teil auf Händen und Knien rutschend zurücklegen mussten. Aber ein lauter Ausruf der Bewunderung entfloh ihren Lippen, als sie, sich aufrichtend, die Sze­nerie überblickten, welche sich ihnen bot.

Wie durch ein riesiges, gotisches Fenster, dessen kühner Bogenschwung in halber Mannshöhe von einer ausgezackten Balustrade unterbrochen wurde, schauten die beiden Wanderer in ein nach allen Richtungen endlos scheinendes Gewölbe, dessen geringster Teil von dem düsteren, unsicheren Fackelschein beleuchtet wurde. Einer gotischen Kathedrale des Mittelalters bis zur Täuschung ähnlich, dehnte sich vor ihnen der ungeheure Raum mit seinem Wald von Säulen und Säulchen, welche aus der dunklen Tiefe heraufstiegen bis zu den gleichfalls im Schatten verschwindenden Spitzbögen, die hier und da von kühn geschwungenen Brücken in prachtvoll durchbrochener Arbeit verbunden waren. Wunderbare Gebilde, wie von der Laune eines fantastischen Künstlers erzeugt, sprangen als Haut­reliefs oder in ganzer Figur aus den glatten Wänden hervor; bald war es die Gestalt eines Eberkopfes, bald ein riesiger Ananasbusch, bald eine freistehende Fels­klippe in Form einer Kanzel, welche das Erstaunen der Betrachtenden rege machte. Und dies alles blitzend und strahlend im blendendweißen Kristallglanz, die rote Flamme der Fackeln in tausendfachen Prismen zurückwerfend, dazu das dumpfe, immer mächtiger und

gewaltiger tönende Rauschen aus der schwarzen Tiefe herauf – war es zu verwundern, dass die beiden Menschenkinder, welche Gott begnadigt hatte, zuerst diese unnennbare Herrlichkeit zu sehen, sprachlos und in stummer Anbetung dastanden und etwas wie eine Träne im Auge fühlten?

Die Fackeln waren fast herabgebrannt, als Littlewood mit einem tiefen, aber von unbeschreiblichem Wonnegefühl erzeugten Seufzer das Schweigen unter­brach. Wie lange sie so gestanden und hinabgeschaut hatten in dies feenhafte Chaos von Pfeilern und Bögen, mit den glitzernden, aus- und einspringenden Säulenwänden – wie lange ihre Blicke an diesen stei­nernen Festons und Arabesken, herrlicher und mannigfaltiger als die der Alhambra, und an den geheim­nisvollen Wirkungen von Licht und Schatten gehan­gen, das wussten sie nicht zu sagen. Die Zeit hatte keine Macht inmitten dieses versteinerten Lebens, wel­ches nur auf den Wink eines mächtigen Zauberers zu warten schien, um die abenteuerliche Wunderwelt eines orientalischen Märchens in seinen unendlichen Räumen zu entfalten.

»Admirable! Delightful! Glorious!«, flüsterte der Doktor. »Wahrlich, es verlohnte sich, zweihun­dert Meilen in der Wildnis zu machen, halb ertränkt und halb skalpiert zu werden, um dies zu sehen! Meint Ihr nicht auch, Mr. Morris?«

»Gewiss, Doktor! wir verdienen den Dank der

Nation, der wir diese Wunder aufgeschlossen haben. Jetzt lasst uns neue Brände anzünden und dann sehen, ob wir nicht irgendeinen Weg hinunterfinden.«

»Denkt Ihr wirklich da hinabzuklettern?«, fragte der Doktor einigermaßen besorgt. »Es scheint, als ob die Grundfläche dieses Domes im Mittelpunkt der Erde liege; überdies haben wir …«

»Seht, da ist ein Weg!«, unterbrach Morris den Zögernden und deutete auf eine klaffende Fels­spalte zur Rechten, von welcher sich ein abschüssiger Gang steil nach unten senkte. »Wenn wir auch nicht bis an die Ufer dieses geheimnisvollen Flusses gelangen, so hoffe ich doch, dass wir seiner wenigstens aus der Entfernung ansichtig werden mögen.«

Kopfschüttelnd folgte Littlewood dem kühnen Mor­ris, der, nachdem neue Feuerbrände angezündet waren, rasch und behände in der dunklen und engen Kluft fortschritt. Der Weg glich in seinen Biegungen und Ecken ziemlich der Wendeltreppe eines alten Ritter­turmes und schien oft gänzlich von senkrechten Wän­den versperrt zu werden; aber immer wieder zeigte sich eine größere oder kleinere Öffnung, und je weiter sie abwärts kletterten, desto lauter und naher tönte das Rauschen des unsichtbaren Stromes. Endlich erwei­terte sich die Schlucht; eine hohe Wölbung spannte sich über den Häuptern der beiden Wanderer und um den Fuß eines massigen, einem Hünengrabs gleichen­den Monolithen biegend, sahen sie dicht vor sich einen

weißen, blitzschnell dahinschießenden Schaumstreifen, der weiter abwärts mit donnerndem Gebrüll in einem bodenlosen, nachtschwarzen Abgrund verschwand.

Eingeengt zwischen spiegelglatt polierten, etwa zehn Fuß auseinanderstehenden Steinwänden brauste der wunderbare Fluss, der oben von der sonnenbeglänzten, blumigen Erde durch unbekannte Spalten den Weg in dieses düstere Labyrinth gefunden hatte, mit einer Schnellig­keit dahin, dass das Auge verwirrt, die Sinne betäubt wurden, und fast mit Schaudern ermaßen die Wan­derer aus dem hohlen, echoartigen Getöse, welches von unten herauftönte, die ungeheure Tiefe der Schlucht, welche den Katarakt verschlang.

Lange standen der Doktor und Morris am Ufer dieses neuen Styx, bis die rasende Hast seines Dahingleitens ihnen Schwindel erregte und die Höhle sich um sie her im Kreis zu drehen schien. Wieder waren die Fackeln tief herabgebrannt und nur ein klei­ner Teil des leitenden Bindfadens befand sich noch auf der Rolle; die Rückkehr wurde also zur gebieteri­schen Notwendigkeit, und schon waren die Reisenden im Begriff, den steilen Treppenweg zurückzuklettern, als Littlewood in entgegengesetzter Richtung von dem Fluss ein einem altrömischen Triumphbogen täuschend ähnliches Felsentor entdeckte, durch dessen Öffnung ein matter Silberglanz herüberschimmerte.

»Da gibt es noch ein mächtig merkwürdiges Stück!«, sagte er und eilte hastig vorwärts.

»Bei der Seele meines Vaters! Wir sind in der heid­nischen Unterwelt, und hier werden wir Charon, den Totenschiffer, belauschen, wie er mit einer Ladung ab­geschiedener Seelen über den Acheron fährt.«

In der Tat standen sie nun am Ufer eines kreisförmigen Sees, der, etwa fünfhundert Schritt im Umfang, von senkrechten, dunklen Steinmauern einge­schlossen war und mit seiner schwarzen, regungslosen Oberfläche eine entsprechende Idee von dem düsteren Reich der Toten gab. Stumm und still lag die einsame Flut, von einem zerborstenen Deckengewölbe überspannt; nie seit Jahrtausenden hatte diese Ge­wässer ein erfrischender Lufthauch berührt und ihre bleischwere Fläche zu anmutigen Wellen gekräuselt; nur in langen Zwischenräumen fielen schwer und klat­schend einzelne Tropfen von der Decke herab und ließen unter schauriger Einförmigkeit ihres Schalles die Herzen der beiden Wanderer erstarren.

»Hier ist nicht gut sein, Morris!«, sagte der Doktor. »Mir ist, als sei ich bereits gestorben und begraben und müsse als irrender Schatten hier umher­wandeln, weil ich meinen Obolus vergessen habe. Ein wahres antidotum voluptatis, dieser Avernische See!«

»Und doch grandios in seiner furchtbaren Öde!«, erwiderte Morris. »Niemals wird der Ein­druck dieses Platzes aus meinem Gedächtnis schwinden.«

Die Rückkehr durfte nun nicht länger verzögert werden. Noch einen Blick warfen die beiden Pilger auf das düstere Nachtstück des Sees und den tosenden Wassersturz; dann kletterten sie mühselig und keuchend den Felsgang aufwärts und ruhten noch einige Mi­nuten an der Balustrade des Bogenfensters, von wo sie mit immer neuem Staunen hinabschauten auf den prachtvollen Kristalldom – das achte und größte Wunder der Welt, wie Doktor Littlewood apodiktisch behauptete. Dann durcheilten sie, kaum noch imstande, die erlöschenden Fackeln zu halten, die übrigen Höhlen und Felsengänge und gelangten glücklich zu den voll Besorgnis harrenden Damen und ihrem mili­tärischen Beschützer zurück – ebenso bereitwillig, die erforschten Wunder zu schildern, als jene begierig, die Ergebnisse der unterirdischen Expedition zu erfahren.1

Show 1 footnote

  1. Der Besuch der in ganz Amerika hochberühmten Monmouts- oder Mammouthöhle – The Monster Cave, wie sie der Yankee emphatisch nennt – ist in den letz­ten Jahrzehnten durch verschiedene Improvements, darunter ein nahe am Eingang liegendes treffliches Gasthaus (Bell’s Hotel), wesentlich erleichtert worden. Tausende pilgern jähr­lich aus allen Staaten der Union zu dieser prachtvollsten aller Höhlen, die der Verfasser kraft poetischer Lizenz von den Ufern des Green River an die nahen Gestade des Cumberland versetzen zu dürfen glaubte.