Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Band 27 – Die Wahrsagerin von Jorjakara – Teil 5

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 27
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Die Wahrsagerin von Jorjakara

Teil 5

Wir taten bis gegen zehn Uhr abends so, als ob wir gar nicht an eine Abreise dächten. Dann aber bezahlte Harst unseren chinesischen Wirt, wir spannten sehr schnell unseren Pony ein und fuhren denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.

Das Wägelchen war zweiräderig. Wir saßen nebeneinander auf dem Sitzbrett. Ich kutschierte. Es ging zumeist bergab auf der tadellosen Bergstraße. Nur selten begegneten wir einem Wagen, einem Büffelkarren oder ein paar Eingeborenen. Nach einer Viertelstunde passierten wir einen Kampong. Harsts Augen waren überall. Ich merkte, wie argwöhnisch er war. Dass er irgendwie und irgendwo einen Überfall befürchtete, räumte er ohne Weiteres ein.

Der Kampong lag hinter uns. Wir kamen nun durch einen Hohlweg.

»Galopp fahren! Hau auf den Gaul ein, dass er seine Faulheit verliert!«, rief Harst leise. Er hatte nun seinen Mehrlader in der Hand.

Wir rasten davon. Der Pony ging fast durch.

Dann – wie vom Blitz getroffen, überschlug er sich plötzlich, das Wägelchen flog über das Pferd hinweg, und wir sausten im Bogen mitten auf die Straße.

Ich fiel so unglücklich, dass ich mit dem Kopf aufschlug, verlor sofort die Besinnung. Mein letzter Gedanke war: Die Schufte haben ein Seil über den Weg gespannt gehabt …!

Als ich wieder zu mir kam, als ich die Lider mühselig öffnete, bohrten sich mir sofort, rasende Schmerzen erzeugend, grelle Lichtstrahlen in die Augen ein. Trotzdem behielt ich die Augen offen. Jemand reichte mir einen Becher. Ich trank. Es war ein süßer, schwerer Wein. Ich konnte nun auch unterscheiden, was um mich her vorging, wo ich mich befand.

Ich saß in einem tiefen altertümlichen Armsessel; rechts neben mir Harst in einem geschnitzten Lehnstuhl uns gegenüber aber – Mistress Maria Bellingson in einem kostbaren Elfenbeinsessel. Und ihr zu Füßen lagen die drei schwarzen Panther.

Es war dasselbe Turmgemach, in dem sie uns vorher empfangen hatte. Nun aber brannte an der Decke eine große, blassgrüne Lampe und vor den drei Fenstern befanden sich hölzerne Laden.

Der Wein belebte mich schnell. Meine Gedanken klärten sich immer mehr.

»Ich nehme an, Sie sind jetzt wieder völlig bei Besinnung, Master Schraut«, sagte da die Greisin mit klarer, ruhiger Stimme. »Ihrem Freund Harst ist es besser ergangen. Er fiel nicht so unglücklich!«

Was sollte ich antworten? Ich machte nur eine etwas verlegene Verbeugung. Wir waren also in ihrer Gewalt …! Harsts Sorge war nur zu berechtigt gewesen!

»Wir können dann also das besprechen, was es hier zu besprechen gibt«, fuhr die seltsame Frau fort. »Master Harst, wissen Sie, weshalb ich Sie beide gefangen nehmen ließ?« Ihr Englisch war tadellos, Ihr Benehmen uns gegenüber durchaus höflich und zwanglos.

»Gewiss weiß ich das, Mistress Bellingson«, erwiderte Harst gelassen. »Sie haben aus Ihrer Ehe mit dem Brahmanen einen Sohn gehabt, dessen Bild in einem Ihrer Gemächer hier hängt. Das Unglück wollte es, dass ich damals auf Lord Wolpoores Jacht INDIA das Versteck entdeckte, wo er sich verborgen hatte, um die Jacht in die Luft zu sprengen. Er fand dann den Tod. Und für dieses Ende Ihres Kindes machen Sie jetzt mich verantwortlich.«

Ich sah, wie sich in den Zügen der Greisin größtes Staunen ausdrückte.

»Woher … woher …«

Harst unterbrach sie kurz. »Vergessen Sie nicht, Mistress, dass Sie es mit einem Detektiv zu tun haben. Mir genügten Kleinigkeiten, die ich erfuhr, um auf den Gedanken zu kommen, jener Inder, der vor etwa drei Wochen im Indischen Ozean mit abgehauenem Arm ertrank, müsse Ihnen nahe – sehr nahegestanden haben. Sie tragen seit kurzem Trauer; das Bild in Ihrem Salon ist mit Flor bespannt. Und – Ihre Genossen, Thug waren es, die mich im Garten des Union–Klubs zur Strafe …«

Maria Bellingson war jäh aufgesprungen. Ihr Gesicht war verzerrt; ihre Augen ruhten in maßlosem Hass auf Haralds unbewegtem Antlitz.

»Ja – Sie sollten sterben!«, zischte sie förmlich. »Sie werden auch sterben! Denn Sie haben mir das Einzige genommen, woran noch mein Herz hing: meinen Sohn! Das Andenken an einen Mann, den ich über alles geliebt habe, obwohl er das Oberhaupt der Thug war. Ich wusste es! Was galt dies meiner Liebe? Mich hat Javisindra auf den Händen getragen! Mit ihm verlebte ich vier Jahre eines seligen Glücks! Dann … wurde er gehenkt … auf Befehl Lord Wolpoores, des damaligen Vizekönigs von Indien! Und … und jetzt … jetzt haben Sie sich meiner heiligen Rache hindernd in den Weg gestellt, haben Lord Edward Wolpoore und die seinen gerettet und … mein Kind geopfert!«

Sie sank wie ermattet in den Sessel zurück, bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Ich weiß noch mehr«, sagte Harst ebenso ruhig wie bisher. »Dort an der Wand die vier eingerahmten Seidentücher sind geweihte Tücher der Thug, mit denen vier Träger des Namens Wolpoore erdrosselt wurden. Ich las heute Vormittag die goldene Schrift, die auf jedem der Pappstücke die gleiche ist: Einer weniger! Vergiss die Rache nicht!

So lautet die Unterschrift ins Englische übertragen. Mistress Bellingson, Sie drohen mir jetzt mit dem Tod. Sie sind ungerecht. In Ihrer blinden Rachgier übersehen Sie, dass es meine Pflicht war, Lord Edward Wolpoore, der nichts dafür kann, dass sein Großvater in rechtmäßiger Ausübung seines Amtes eine Mördersekte vernichtete, vor den Nachstellungen einer wahnwitzigen Mörderbande zu schützen, deren geistige Leiterin Sie sind. Ihre Drohungen fürchte ich nicht. Ihr Haus hier ist jetzt von der Polizei umstellt. Ich brauche nur …«

Ein schrilles Hohnlachen schnitt ihm das Wort ab.

»Polizei? Umstellt? Master Harst, versuchen Sie nicht bei mir Ihre Tricks!«, rief die Greisin laut. »Ich verachte die Polizei! Mein Haus hier ist wie ein Fuchsbau, hat unzählige Gänge, die irgendwo weit draußen münden. Ich habe mich gesichert gegen jede – jede Gefahr! Doch genug hiermit! Es ist jetzt hab 12 nachts. Bis 1 Uhr morgens gebe ich Ihnen noch Frist. Dort liegt Papier und Feder. Sie und Ihr Freund werden noch letztwillige Verfügungen zu treffen haben. Dies sei Ihnen gestattet. Aber – schreiben Sie nichts davon, wo Sie sich befinden und weshalb Sie die Sonne nie mehr sehen werden!«

Sie erhob sich. »Ich lasse meine Panther hier bei Ihnen zurück. Wagen Sie nicht, etwa zu entfliehen. Sobald Sie sich der verborgenen Tür oder den Fenstern nähern, springen die Tiere zu.«

Sie trat an die linke Seitenwand heran, schlug einen Vorhang zurück. Dahinter war eine kleine eiserne Tür sichtbar. Sie drehte sich nochmals um, zeigte auf zwei seidene Tücher, die auf einer Truhe lagen. »So werden Sie beide sterben!«, sagte sie wieder mit einer von Hass halb erstickten Stimme. »Meine Getreuen streiten sich darum, wer das heilige Amt der Würger an Ihnen ausüben darf!«

Die eiserne Tür schnappte hinter ihr ins Schloss.

Wir waren allein mit den drei Bestien, die nach Katzenart lautlos herumstrichen.

Ich wandte den Kopf nach Harst hin. Auch er drehte sich mir zu, meinte leise:

»Ja, mein Alter, was nun? Hast du Lust, dich hier erdrosseln zu lassen? Ich nicht! Mistress Bellingson hat eins nicht beachtet: dass sie es mit uns zu tun hat, mit uns, die doch schon ganz andere Dinge erlebt haben als diese Gemeinschaft mit drei schwarzen Panthern! Sieh mal, dort auf dem Tischchen neben dem Schreibzeug liegt ein Brieföffner in Dolchform und wenn man sich jene Tischdecke dort um den linken Arm wickelt, dann …«

Ich hatte meine Taschen befühlt.

»Ja – ausgeplündert!«, konstatierte Harst. »Unsere Mehrlader sind weg! Mithin müssen wir …«

Er horchte plötzlich auf, deutete dann mit dem Kopf nach dem von uns am weitesten entfernten Fenster.

»Still, vielleicht sind es die beiden Kerle von gestern!«, flüsterte er. »Die angeblich auf Liebespfaden Wandelnden, wie ich dir weismachte. In Wahrheit: Auf Diebespfaden Wandelnde, denn ich stellte fest, dass sie das eine Fenstergitter an mehreren Stellen fast ganz durchgesägt hatten …«

Er stand auf, trat an die Lampe heran, schraubte sie niedriger, bis sie nur noch ganz schwach leuchtete.

»Setzen wir uns an den Tisch«, meinte er, ganz unbekümmert um die drei Panther, die sich nun vor dem Vorhang gelagert hatten, der die eiserne Tür verdeckte.

Wir saßen und lauschten. Bald wurde das feine Knirschen, das Harst gehört hatte, etwas lauter. Dann arbeitete ein Drillbohrer im Holz der Fensterladen, die von innen vorgelegt waren.

Wieder verstrichen gut fünf Minuten. Dann von jenem Fenster her ein ganz, ganz leises Knarren und Quietschen.

Die drei Bestien wurden plötzlich unruhig, fauchten, liefen hin und her.

Die Lampe war jetzt fast erloschen. Der hässliche Geruch eines schwelenden Petroleumdochtes durchzog das Gemach.

Wieder ein Geräusch vom Fenster her.

Einer der Panther fauchte lauter. Um uns kümmerten sie sich nicht, Ihre Aufmerksamkeit galt lediglich dem einen Fenster, in dessen Laden die Gauner von draußen fraglos ein Loch bohrten.

Abermals andere Geräusche. Nun fiel irgendetwas klatschend auf den Teppich, etwas, das durch den Fensterladen geworfen sein musste.

Wir hörten die Panther knurren. Zu sehen war nichts. Dann – ohne Zweifel kaute und verschlang der eine etwas.

Harst packte meinen Arm. »Du – Gift! Vergiftete Fleischbrocken!«, sagte er.

Wieder klatschte etwas herab – nochmals – nochmals.

Die Panther waren jetzt still, kauten schmatzten, schnurrten behaglich.

Abermals endlose Minuten. Die Bestien liefen wieder hin und her, stießen gegen die Sessel, winselten, rollten jetzt offenbar in Krämpfen auf dem Teppich!

Stiller und stiller wurden sie. Bis schließlich in dem Gemach eine fast unheimliche Ruhe herrschte.

»Tot!«, meinte Harst nicht allzu leise. »Jetzt, mein Alter, ist der Weg für uns frei! Los denn, hin zu dem letzten Fenster, wir …«

Da – von nebenan ein halb erstickter Schrei.

Harst schnellte hoch.

»Sie sind der Frau an der Kehle!«, flüsterte er hastig. »Vorwärts, den Burschen soll …«

Er war schon nach der Eisentür geeilt. Ich blieb dicht hinter ihm, trat auf einen Tierkadaver, stieß gegen einen Stuhl.

Die Tür hatte einen altertümlichen Drücker. Harst stieß sie auf, sprang in das erleuchtete Nebengemach.

Auf einem Diwan lag die Greisin, wehrte sich verzweifelt gegen einen braunen Burschen, der ihr die Kehle zudrückte. Ein zweiter Einbrecher stand daneben, ein Messer stoßbereit in der Hand.

Harst hatte schon einen schweren Ebenholzschemel gepackt. Noch ein Satz. Die Kerle brüllten auf vor Schreck. Der Schemel sauste herab – einmal – nochmals.

Ächzend waren die beiden umgesunken.

Harst half Mistress Bellingson auf. Sie war noch bei Bewusstsein.

Hier waren die Fensterladen nicht geschlossen. Ein Fenster stand weit offen. Es war der Salon. Über einem zierlichen Damenschreibtisch hing das verhüllte Bild.

Harst teilte unserer Feindin mit, was sich nebenan ereignet hatte. Sie ging an das offene Fenster, fühlte mit der Hand hinaus.

»Das Gitter fehlt«, sagte sie leise. Dann schaute sie uns lange wortlos an.

»Warten Sie hier«, meinte sie dann kurz. »Ich schenke Ihnen das Leben. Wir sind quitt, Master Harst – für diese Nacht!«

Sie verschwand durch die Eisentür.

Auf dem Schreibtisch lag der Inhalt unserer Taschen. Wir steckten alles wieder zu uns, behielten nur die Mehrlader entsichert in der Hand, warteten – warteten, nachdem wir die beiden Kerle gefesselt hatten.

Kein Laut im Haus. Nur aus dem Park drang das Rauschen der Bäume zu uns herauf.

Wir warteten; eine halbe Stunde – noch eine halbe Stunde; wir hatten uns gesetzt; horchten – warteten.

Eine neue halbe Stunde war um.

»Entflohen!«, sagte Harst da. »Ich dachte es mir …«

Wir gingen in das Nebengemach. Unsere Taschenlampen zeigten uns die toten Panther.

Die vier eingerahmten Tücher an der Wand waren verschwunden.

»Es stimmt: entflohen!«, sagte Harst wieder.

Da – die Eisentür fiel knallend ins Schloss. Wir sprangen zu, rüttelten daran: verschlossen!

»Zum Fenster hinaus!«, rief Harst.

Wir öffneten den Laden, in den die Verbrecher ein Loch gesägt hatten. Auch hier fehlte das Gitter. Wir sprangen auf das flache Dach hinab, fanden wieder die Bambusleiter, kletterten in die Krone der Eiche hinüber.

Es war genau 2 Uhr morgens, als wir mit Doktor ten Brinken und fünf Polizeibeamten auf demselben Weg wieder in den Turm eindrangen.

Die beiden Einbrecher lagen noch im Salon, aber erdrosselt mit bunten Seidentüchern. Das verhüllte Bild war verschwunden. Das ganze Haus war leer. Schließlich entdeckte Harst im Keller einen unterirdischen Gang, der etwa 300 Meter westwärts in einer Schlucht endete.

So endete auch dieses unser Abenteuer mit der Wahrsagerin von Jorjakara. Ich will nur noch hinzufügen, dass die beiden Einbrecher Europäer waren, vermutlich dieselben, die es schon vor drei Jahren auf die Juwelen der seltsamen Frau abgesehen hatten.

Wir sollten Mistress Maria Bellingson nochmals begegnen. Hatte sie doch auch gesagt: »Wir sind quitt – für diese Nacht!« Wo wir ihr begegneten, wird der Leser im nächsten Band finden, in der nächsten Erzählung, in

Der Tempel der Khali