Buffalo Bill Der letzte große Kundschafter – 4. Kapitel
Buffalo Bill
Der letzte große Kundschafter
Ein Lebensbild des Obersten William F. Cody, erzählt von seiner Schwester Helen Cody Wetmore
Meidingers Jugendschriften Verlag, Berlin 1902
Viertes Kapitel
Die Verfolgung dauert fort
Die Besorgnis unserer Mutter war nur zu sehr begründet. Wenige Tage nach der Heimkehr des Vaters kam ein Mann namens Sharpe, der das Amt eines Friedensrichters in schmachvoller Weise herabwürdigte, in angetrunkenem Zustand auf unsere Besitzung geritten und teilte meiner Mutter mit, dass er den Auftrag habe, das Haus nach ihrem Mann, dem verfluchten Sklavenfeind, zu durchsuchen. Hierauf verlangte der betrunkene Schurke zu essen. Während die Mutter ihm mit anscheinender Gastfreundlichkeit das Abendessen bereitete, vertrieb sich Sharpe die Zeit mit Wetzen seines Dolches an der Schuhsohle.
»Mit diesem hier«, sagte er zu dem ihn beobachtenden Will, »soll nämlich deinem Vater nachher das Herz aus dem Leib geschnitten werden.«
Wills stumme Antwort bestand darin, dass er seine Flinte von der Wand nahm und sich an der zum Zimmer seines Vaters führenden Treppe aufstellte. So leicht sollte es Sharpe denn doch nicht werden, diese Stufen hinaufzusteigen.
Allein wie die Mutter richtig vermutete, hatte der Richter keine Kenntnis von der Rückkehr des Vaters, sonst wäre er nicht allein gekommen. Nachdem er dem Essen und Trinken tüchtig zugesprochen hatte, schlief er ein, fiel vom Stuhl herunter und verließ, seinen angeblichen Auftrag vergessend, taumelnd das Haus. Soweit aber reichte seine Betrunkenheit doch nicht, dass ihm der Blick für ein gutes Pferd abgegangen wäre, denn er fand plötzlich großes Gefallen an Prinz, dem Lieblingspony der Familie. Mit einem höhnischen Grinsen sagte er zu Will: »Ein hübsches Pferdchen das, mein Junge. Weißt du was, das nehme ich mir mit.« Dabei schickte er sich an, den Sattel von seinem eigenen Pferd zu nehmen, um ihn auf Prinz’ Rücken zu legen.
»Infamer Schurke!«, murmelte Will, kochend vor Wut. »Mit dir will ich schon noch einmal Abrechnung halten.«
Der Richter war ein großer, dicker Kerl, der mit seinen den Boden fast berührenden Füßen eine solch drollige Figur auf Prinz’ Rücken machte, dass Will nicht umhinkonnte, laut aufzulachen, zumal er bereits einen Plan zur Rettung seines Ponys gefasst hatte.
Ein scharfer Pfiff rief Türk heran, der seine Aufgabe sofort begriff und Sharpe fünf recht wenig erbauliche Minuten bereitete. Er versuchte, ihn in das herunterbaumelnde Bein zu beißen, sprang dann, laut bellend, aus dem Bereich der Peitsche, um im nächsten Augenblick dasselbe Spiel mit dem anderen Bein vorzunehmen. Höchlichst belustigt beobachtete Will, der in angemessener Entfernung gefolgt war, diese Szene. Als sich Sharpe aber einmal besonders anstrengte, Türk zu treffen, ließ Will einen für Prinz verständlichen Pfiff vernehmen, den das Tier sofort damit beantwortete, dass es seinen Reiter in den Staub warf. Im nächsten Augenblick stand Türk zähnefletschend über ihm.
»Schaff mir deinen Hund vom Leib, du Lümmel«, schrie der Richter, »dann sollst du auch dein kleines Schaf wieder haben, das ja doch nichts taugt.«
»Es gilt!«, rief Will, nun wieder gut gelaunt. Diensteifrig half er seinem besiegten Feind auf dessen eigenes Ross, indem er ihm versicherte, dass er Türk nicht zu fürchten brauche, solange er sein Wort halte. Sharpe ritt davon, doch waren wir durchaus nicht für immer von ihm befreit.
Eines Abends, etwa vierzehn Tage später, hatten wir uns alle um den in einem Lehnstuhl sitzenden Vater geschart. Unsere schöne Mutter hielt den kleinen Charlie auf dem Schoß, während Martha und Julia nähten, und Will, an der Mutter Stuhl gelehnt, ihr zärtlich das Haar aus der Stirn strich und Türks neuesten klugen Streich erzählte. Plötzlich unterbrach er seine Geschichte und rief: »Ich höre Reiter auf der Straße. Rüsten wir uns für alle Fälle!«
Mit der unserer Mutter eigenen Geistesgegenwart traf sie sofort ihre Vorbereitungen zur Verteidigung. Martha und Julia wurden angewiesen, dem Vater ins Bett zu helfen und sich dann selbst mit schweren Stiefeln in das nicht eingerichtete vordere Zimmer im oberen Stockwerk zu verfügen. Will musste den Knecht und die Dienstmagd Jane, die fast ebenso groß und stark wie ein Mann war, herbeirufen, worauf die drei bewaffnet und mit besonderen Aufträgen betraut wurden. Alle waren zum Kampf bereit, die Mutter aber hoffte durch Kriegslist zu siegen. Mittlerweile hatten die Reiter das Gittertor erreicht. Ihr Führer war der gefürchtete Sharpe. Er ritt dicht heran und schlug mit dem Peitschenknopf ans Tor. Die Mutter öffnete das obere Fenster.
»Wer ist da, und was wünschen Sie?«
»Ihren Mann, den verfluchten Sklavenfeind. Tot oder lebendig, wir müssen ihn haben!«
»Gut, Mr. Sharpe«, lautete die ruhige Antwort, »ich will Oberst Lane und seine Leute fragen, ob sie Ihnen zu Dienst sein wollen.«
Der Knecht, der den mexikanischen Krieg mitgemacht hatte, gab ein lautes Kommandowort ab, worauf sich im oberen Stockwerk das Getrampel schwerer Stiefel vernehmen ließ, dann rief der vermeintliche Oberst Lane zum Fenster heraus den Reitern zu: »Ein Schritt weiter, und meine Leute werden auf Euch losfeuern.«
Sharpe, ein elender Feigling, war schon beim ersten Laut einer männlichen Stimme zurückgewichen, und nach einer kurzen Verhandlung mit seinen ihm ebenbürtigen Gefährten zog er mit ihnen wieder ab. Eine Frau hatte ihn überlistet.
Gewissermaßen als Ersatz für seinen missglückten Streifzug entführte er Prinz. Wills Kummer darüber aber sollte nicht lange dauern, denn schon am Nachmittag kam das kluge Tier, das sich vom Halfterband losgemacht hatte, zurückgejagt.
Diese Erfahrungen hatten nun aber doch zur Folge, dass sich der Vater um unserer und seiner eigenen Sicherheit willen entschloss, sein Heim von Neuem zu verlassen. Sobald es seine Kräfte halbwegs wieder gestatteten, begab er sich zu den dreißig Meilen westlich von Leavenworth gelegenen Grasshopper Wasserfällen. Dort errichtete er eine Sägemühle und hoffte nun endlich vor der Verfolgung seiner Feinde gesichert zu sein. Von Zeit zu Zeit besuchte er uns, richtete seine Ritte aber so ein, dass er erst bei hereinbrechender Dunkelheit unsere Besitzung erreichte und sich vor Sonnenaufgang wieder auf den Rückweg machte.
Eines Tages, als wir einem solch nächtlichen Besuch entgegensahen, erschien plötzlich gegen elf Uhr vormittags unser alter Freund Hathaway.
»Es ist nicht angenehm, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, allein der für heute beabsichtigte Besuch Ihres Mannes muss bekannt geworden sein, denn es ist eine neue Verschwörung gegen sein Leben im Gange. Einige seiner Feinde haben sich in der Nähe des Big Stranger Creek mit der Absicht gelagert, Ihren Mann beim Vorüberreiten niederzuschießen.«
Eine lange, ängstliche, aber ergebnislose Beratung folgte.
Dies alles wurde von Will, der an einem Fieberanfall zu Bett lag, mitangehört. Er allein, so dachte er, konnte den Vater retten. Rasch kleidete er sich an und erschien mit fieberglühendem Gesicht vor seiner Mutter. Ihr ein Taschentuch hinhaltend, sagte er: »Binde es mir fest um den Kopf, Mutter, dann tut er weniger weh. Ich reite zu den Grasshopper Fällen zum Vater.« Dabei vermochte er kaum zu stehen, ein Gewitter war im Anzug, und dreißig Meilen lagen zwischen ihm und seinem Vater. Trotzdem vermochte man ihn nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Julia und Martha sattelten Prinz und halfen dem vom Fieber geschüttelten Eilboten in den Sattel.
Die frische Luft und Erregung belebten Will, sodass er hoffte, das Unternehmen durchführen zu können. Noch war es nicht zwölf Uhr, und der Vater würde sicherlich nicht vor dem späten Nachmittag fortreiten. Prinz schien etwas von der Wichtigkeit des Rittes zu ahnen, denn in raschem, gleichmäßigem Tempo flog er davon.
Der Big Stranger Creek durchkreuzt auf halbem Weg den zu den Wasserfällen führenden Pfad, und da sich die Sonne hinter Wolken versteckt hatte, so hoffte Will unerkannt am Hinterhalt vorüberzukommen. Nachdem er jedoch das Flüsschen erreicht hatte, entdeckte er mehrere hinter Buschwerk gelagerte Männer, von denen ihm einer in nachlässigem Ton zurief: »Was hältst du von der Sklaverei?«
»Habe mich noch niemals drum bekümmert, meine Herren«, lautete die Antwort.
»Das ist der junge Cody!«, schrie eine andere Stimme, und der Ruf »Halt!« ertönte gerade in dem Augenblick, als Will glücklich am Lager vorbeigaloppiert war.
Wills Erwiderung bestand darin, dass er Prinz die Sporen gab und, von einem förmlichen Kugelregen verfolgt, davonsauste.
Eine wütende Jagd begann, bergauf und bergab, durch Wälder und Wiesen, über Brücken und Bäche, bei der Will seine Krankheit vergaß und nur von dem einen Gedanken erfüllt war, die Wasserfälle noch rechtzeitig zu erreichen.
Da brach das schon lange drohende Unwetter los und verwandelte den harten Weg in ein schlammiges Flussbett. Die Verfolgung wurde aufgegeben, und im gleichen Maße wie die Nervenanspannung bei Will nachließ, fühlte er auch Fieber und Schwäche zurückkehren. Er war bis auf die Haut durchnässt, kaum vermochte er sich noch im Sattel zu halten, doch fest biss er die Zähne aufeinander, entschlossen, sein heldenmütiges Vorhaben durchzuführen.
Da endlich schimmerte ein ersehntes Licht durch den Regen – er hatte sein Ziel erreicht, rechtzeitig erreicht, denn der Vater war eben im Begriff, sich aufs Pferd zu schwingen.
Die Anstrengung des tollen Rittes aber war zu groß für Wills Kräfte gewesen. Erschöpft brach er zusammen. Einige Tage später begab sich der Vater mit ihm nach Topeka, dem Hauptsitz der Freibodenpartei. Der Mutter sandte er beruhigende Nachrichten über sein und Wills Ergehen und teilte ihr mit, dass er nach Topeka gegangen sei, da er sein Leben bei den Grasshopper Fällen nicht mehr für sicher halte.
Der Parteikrieg in Kansas hatte nun seinen Höhepunkt erreicht. Es sollte über die Einführung der Sklaverei abgestimmt werden, und Hunderte von Männern wurden von den benachbarten Sklavenstaaten herbeigelockt, um ihre Wahlstimme abzugeben. Nachdem die Wahl dann zu Gunsten der Sklavenpartei ausgefallen war, errichtete diese einen gesetzgebenden Körper, dessen erste Sitzung in Le Compton stattfand. Die Wahl aber war von der Freibodenpartei wegen betrügerischer Umtriebe als rechtsungültig erklärt worden, und bei einer im Winter 1855 auf 1856 tagenden Versammlung wurde eine die Sklaverei ausschließende Urkunde verfasst und eine Gegenregierung eingesetzt. Der Vater war Mitglied dieser ersten Körperschaft der Freibodenmänner.
So stand auch nun wieder der Krieg auf der Tagesordnung, bis endlich ein militärischer Statthalter ernannt wurde, der, mit allen Machtbefugnissen ausgestattet, Ruhe und Ordnung im Staate Kansas schaffen sollte.
Neue Ansiedler, besonders solche aus nördlichen Freibodenstaaten, waren zum Teil auf Veranlassung unseres Vaters, der sich im folgenden Frühjahr zu diesem Zweck nach Ohio begeben hatte, in Kansas eingetroffen. Unter anderen auch der Richter Delahay, der sich mit seiner Familie in Leavenworth niederließ und in Kansas die erste gegen die Sklaverei gerichtete Zeitung herausgab. Wohl war durch die Ernennung des militärischen Statthalters eine relative Ruhe hergestellt, trotzdem aber kamen noch Hunderte von Gewalttätigkeiten vor. Eine der ersten wurde an dem Richter und seiner Zeitung verübt. Man brach in sein Büro ein, raubte Lettern und Handpresse und warf sie in den Missouri. Der Richter jedoch ließ sich dadurch nicht abschrecken, sondern kaufte eine neue Presse, und die Zeitung erschien nach wie vor.
Immerhin aber herrschte nun doch wenigstens eine gewisse Ordnung in unserem Landstrich. Der Vater nahm seine Arbeit bei der Sägemühle wieder auf, und wir alle hofften auf eine baldige, andauernde Wiedervereinigung. Doch es sollte nicht sein. Der Messerstich hatte Vaters Lunge beschädigt. Bei gehöriger Sorgfalt und Pflege hätte die Wunde wohl wieder ausheilen können, aber die Leiden und fortgesetzten Aufregungen der letzten Jahre ließen keine wirkliche Genesung aufkommen. Im Jahre 1857 kehrte er zwar wieder nach Hause zurück, doch nur um sein letztes Krankenlager aufzusuchen.
Alles wurde getan, was getan werden konnte, um sein Leben zu retten, aber nichts half. Nach kurzer Krankheit verschied er als einer der ersten Märtyrer für die Sache der Freiheit im Staat Kansas.
Im Land seiner Wahl fand er auch seine letzte Ruhestätte. Hoch oben auf dem die schöne Stadt Leavenworth beherrschenden Hügel Pilot Knob ruhen nun seine Gebeine. Sein Tod aber wurde selbst von seinen Feinden beklagt, die ihre Hochachtung einem Mann nicht zu versagen vermochten, der stets redlich, gerecht und großmütig gegen Freund und Feind gewesen war.