Nick Carter – Band 14 – Ein beraubter Dieb – Kapitel 6
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein beraubter Dieb
Ein Detektivroman
Gewagtes Spiel
Die Geduld des Meisterdetektivs wurde indessen auf eine harte Probe gestellt. Wohl eine Stunde verstrich, und die vier Männer kamen immer noch nicht zum Vorschein. Da bekam es Nick Carter schließlich mit der Ungeduld zu tun. Entschlossen trat er in den nächsten Hausgang, setzte eine Perücke auf, steckte einen falschen Schnurrbart vor, tauschte den Hut um und trat dann in der zuversichtlichen Erwartung, von dem vierblättrigen Kleeblatt nicht erkannt werden zu können, selbst in den Saloon ein.
In diesem befanden sich Gäste in ziemlicher Anzahl, doch unter ihnen konnte der Detektiv weder die gesuchten Männer noch seinen Vetter erspähen. Alsbald gewahrte er aber, dass eine kaum mannshohe Holzwand in der entgegengesetzten Raumecke eine Art Nische schuf, in welcher sich allem Anschein nach Tische und Stühle befanden. Die Zugangstür stand offen, und als der Detektiv sich unauffällig durch die Menschenmenge gedrängt hatte, belehrte ihn ein Blick, dass die von ihm Gesuchten sich bei vollen Gläsern um den in der Nische aufgestellten Tisch befanden. Sie schienen in nichts weniger als rosenfarbener Stimmung zu sein, Bart Meyers und dessen Gefährte sich vielmehr in schroffem Gegensatz zu Seaman und Anwalt Elwell zu befinden. Seaman selbst war augenscheinlich bemüht, eine Verständigung anzubahnen, denn er sprach eifrig auf die beiden Kumpane ein, während Elwell sich abwartend verhielt.
Ein weiterer Blick hatte dem Detektiv auch Chicks Anwesenheit verraten; dieser saß neben der Holzwand und war anscheinend völlig in die Durchsicht einer Zeitung, die er dicht vor das Gesicht hielt, vertieft.
Natürlich lag Nick viel daran, die Unterredung der vier Personen zu belauschen. Sein Blick fiel auf einen riesigen Eisschrank, welcher sich an der Rückwand vom Eingang der Toilette bis zu der Nischentür entlangzog. Er reichte fast bis zur Decke, doch immerhin war zwischen dieser und seinem oberen Ende Platz genug, um einem Lauscher als Schlupfwinkel zu dienen. Die Schwierigkeit lag nur darin, unbemerkt auf den Schrank zu kommen.
Gelassen begab sich der Detektiv nach der völlig menschenleeren Toilette. An diese stieß ein Waschraum, deren eine Längswand identisch mit der Rückwand des Schankzimmers war. Über der marmornen Waschvorrichtung war ein niedriges Luftfenster unmittelbar unter der Decke angebracht. Sofort kletterte Nick Carter auf den Waschständer und versuchte das Fenster zu öffnen. Das war ein schmutziges Geschäft, denn eine Staubwolke flog dem Detektiv entgegen. Doch das verschlug diesem wenig, zumal er bereits festgestellt zu haben glaubte, dass das Fenster auf der anderen Seite sich gerade über dem außergewöhnlich breiten Eisschrank befinden musste.
Nick Carter besaß turnerische Gewandtheit wie sonst kaum einer, und so hatte er sich schon im Augenblick darauf mit kräftigem Klimmzug zur Höhe des Fensters hochgebracht. Nach Verlauf einer weiteren Minute lag er richtig auf dem allerdings wenig appetitlich anmutendem Eisschrank und konnte von diesem Versteck aus nicht nur auf die vier Männer in der Nische herunterschauen, sondern deren Gespräch auch bequem mithören.
Eben sprach Bart Meyers in Tönen höchster Entrüstung.
»Was für einen Zweck hat es eigentlich, das alles immer wieder durchzukauen? Sie sind von Anfang an unaufrichtig zu mir gewesen! Sie logen mich an, die Patentgeschichte habe überhaupt wenig Wert und gar keinen solchen für den bisherigen Besitzer, sondern nur für Sie, und Sie wollten sich überhaupt nur auf solch krumme Weise in den Besitz des Kastens setzen, um Zeit zu sparen!«
»Das ist auch wahr«, ereiferte sich Elwell, »wir hätten die Papiere auch auf gesetzlichem Wege herausbekommen, doch das hätte mindestens ein Jahr gedauert!«
»Schwindel!«, unterbrach ihn Meyers grob. »Geben Sie sich keine Mühe, Sie lügen mich nicht wieder an. Glauben Sie vielleicht, ich bin so dumm wie ein gewisser Anwalt oder wie der dicke Mr. Seaman hier? Mich lotsten Sie erst herbei, als Sie einsehen mussten, dass es auf geradem Wege nicht ging!«
»Mein Lieber, da täuschen Sie sich gründlich«, wendete Elwell lächelnd ein.
»Nein, Mister, Sie haben sich in mir getäuscht, und das noch viel gründlicher!«, erklärte Meyers hohnlachend. »Ich weiß alles, haben Sie nur keine Angst! Hinter den Papieren ist Nick Carter mit Pauken und Trompeten her, und wenn der seine Rasselbande loslässt, dann liegt Geld in der Musik. Ich sagte nicht zu viel, wenn ich behaupte, der Mann, dem wir die Papiere mausten, den fünfzigfachen Preis von dem zahlen würde, was Sie mir anzubieten frech genug gewesen sind!«
»Mensch, Sie rasen einfach!«, erklärte Seaman.
»Mein fetter Bursche, hätten Sie nur so viel Verstand in Ihrem Schmerbauch wie ich im kleinen Finger!«, fertigte Meyers ihn ab. »Nein, nein, mein Lieber, seit heute früh bin ich scharfgemacht, und für einen lumpigen Tausender geht der Kasten mit den Papieren nicht ab.«
»Sie sind unverschämt«, erklärte Seaman mit gespreizter Würde. »Tausend Dollar von uns und die achtfache Summe für die Wertsachen, welche Sie obendrein haben mitgehen lassen, ist für die Arbeit einer Stunde mehr als hinreichend bezahlt!«
»Ich lasse mir nicht die Arbeit, sondern die damit verbundene Gefahr bezahlen, wie ja auch die Ärzte und Anwälte einem vorschwindeln, wenn sie sich sündhaft teures Geld zahlen lassen, sie hätten dafür so lange studieren – will wohl sagen trinken und lumpen müssen!«
»Well, Sie müssen es ja wissen«, bemerkte Elwell trocken.
»Das tue ich, und ich weiß, dass Nick Carter auf der Fährte ist«, brauste Meyers auf. »Haben Sie denn eine Ahnung, was das für unsereinen bedeutet?«
»Well, er dürfte herausbekommen, wer die Gentlemen von verwichener Nacht waren, welche das Herron’sche Haus heimsuchten«, meinte Seaman unter sorglosem Auflachen.
»Nein, ich will Ihnen sagen, was es heißt«, sagte Meyers und schlug wütend auf den Tisch. »Dieser Spürhund beißt uns alle in die Waden, und dann feiern wir fröhliches Wiedersehen in Sing-Sing – das heißt es!«
»Meyers, nehmen Sie Vernunft an«, versuchte Elwell zu begütigen. »Die von Ihnen verlangte Summe können wir einfach nicht bezahlen. Möglich, dass Sie sie von der anderen Seite bekommen. Doch lassen Sie uns im Stich, so haben wir auch keinen Grund, Sie fernerhin zu schonen. Es dürfte Ihnen schlecht bekommen, erfährt Nick Carter, wer das Silberzeug und die Juwelen gestohlen hat.«
»So«, ließ sich Meyers unter gedehntem Pfeifen vernehmen. »Sie wollen mich ans Messer liefern? Lassen Sie sich was sagen, es gibt scharfe Messer und gute Revolver – und die Leichenbestatter wollen auch leben, besonders, wenn es einen Sarg für so einen Schmerbauch zu machen gilt, denn der kostet doppelt!«
»Soll das eine Drohung sein?«, warf Elwell scharf ein.
»Nehmen Sie es, wie Sie wollen – ich lasse mich von Ihnen nicht einseifen!«
Damit sprang der Strolch vom Stuhl auf und erklärte mit geschäftsmäßiger Kürze: »Was brauchen wir uns herumzustreiten, ich kriege 50.000 Dollar für den Kasten – oder Sie haben das Nachsehen. Ich gebe Ihnen bis morgen um dieselbe Stunde Zeit zum Nachdenken, und kommen Sie nicht, dann werde ich zusehen, mit dem bewussten Mann ein Übereinkommen zu treffen. Nur keine Bange, Herrschaften, ich weiß schon, wie ich es anfangen muss!«
»So seien Sie doch vernünftig«, versuchte Seaman ihn zurückzuhalten. »Ich will nur rasch mal mit Mr. Elwell sprechen.«
Ein etwa fünf Minuten andauerndes Stillschweigen trat ein, das Meyers dazu benutzte, um seinen Innenmenschen gehörig anzufeuchten, dann begann Seaman wieder: »Pard, wir wollen Ihnen ein neues Anerbieten machen. Die von Ihnen verlangte Summe können wir nicht aufbringen, das ist ganz ausgeschlossen. Wollen Sie uns den Kasten mit seinem sämtlichen Inhalt noch diesen Nachmittag ausliefern, so zahle ich Ihnen 5000 Dollar in bar aus und gebe Ihnen mein schriftliches Versprechen, Ihnen weitere 50.000 Dollar auszuzahlen, sobald die Erfindung an die Gesellschaft, welche erste käuflich erwerben will, verkauft sein wird.«
Als keine Antwort erfolgte, sondern Meyers in verstocktem Schweigen verharrte, setzte Seaman mit seiner fetten, wie geölt klingenden Stimme noch eindringlicher hinzu: »Meyers, bedenken Sie wohl, zahle ich Ihnen diese 5000 Dollar, so gebe ich den letzten Cent her, den ich augenblicklich besitze. Ich kann mit der Gesellschaft nicht abschließen, solange ich die Dokumente nicht vorzulegen vermag. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Wollen Sie mein Anerbieten nicht annehmen, so kaufen Sie sich meinetwegen einen Strick und hängen sich damit auf. Dann sind wir miteinander fertig, und Sie bekommen von mir nicht einen roten Cent!«
Von Neuem folgte längeres Stillschweigen, nur ununterbrochen durch unverständliches Flüstern; wie dem Detektiv schien, berieten die beiden Verbrecher über den ihnen gemachten Vorschlag.
»Werden die 5000 Dollar noch heute gezahlt?«, ließ sich Meyers schließlich vernehmen.
»In demselben Augenblick, da Sie uns den Kasten nebst Inhalt aushändigen. Ich trage die Summe bei mir, und das Geschäft kann sofort abgeschlossen werden.«
»Meinetwegen! Wenn Sie zahlen, sollen Sie den Zimmet kriegen!«, entschied Meyers.
Allgemeines Stühlerücken folgte, und der Detektiv hörte Seaman wieder fragen, wohin denn die Reise gehen solle.
»Das werden Sie erfahren, sobald Sie dort sind!«, erklärte Meyers trocken.
Schnell zog sich Nick Carter von seinem Lauscherposten zurück, und in der Minute darauf stand er wieder in dem kleinen Waschraum, nahm die dort liegende Kleiderbürste zur Hand und säuberte notdürftig seine arg mitgenommene Kleidung.
Noch vor den vier Gaunern hatte der Detektiv unbemerkt den Saloon verlassen, denn jene hatten noch einen letzten Trunk an der Bar getan, um das Abkommen in üblicher Weise zu begießen.
Als die Männer den Saloon verließen, gingen sie die 3rd Avenue in nördlicher Richtung hinauf, und ihnen dicht auf dem Fuße folgte Chick.
Er tauschte ein Zeichen mit dem Meister aus, und auf Nicks Wink kam er über die Straße herüber, während der Detektiv selbst den Fahrdamm kreuzte und den vier Männern auf der von ihnen benutzten Trottoirseite folgte.
Etwa ein halbes Dutzend Seitenstraßen wurden passiert; dann schließlich bog man in eine solche ein, die zum East River zu führte. Wieder wurden zwei oder drei Blocks zurückgelegt, und dann hielten die Männer am Ende des Blocks inne, wo sich ein dreistöckiges Backsteingebäude erhob, das nicht den ganzen Bauplatz bedeckte, auf welchem es errichtet worden war; vielmehr erstreckte sich zwischen dem Haus und dem Nachbargebäude ein vielleicht zehn Fuß breiter Hofraum, welcher von der Straße durch einen hohen Bretterzaun abgesperrt wurde.
In diesem Zaun befand sich eine Tür. Meyers öffnete sie, ließ die drei anderen an sich vorüber eintreten und schloss sich ihnen als Letzter an.
Nick Carter hatte sich auf der anderen Straßenseite aufgestellt und wahrgenommen, dass vom Hofraum aus eine überdachte Treppe an der Außenmauer des Hauses nach oben führte. Im unteren Stockwerk des Hauses befand sich ein Saloon, und der Zugang zu den höheren Etagen wurde durch diese Treppe vermittelt.
Als Chick sich seinem Vetter näherte, zeigte ihm dieser Haus und Hoftreppe und sagte: »Dort hinauf sind sie gegangen!«
»Wollen wir dem Fuchs in die Höhle folgen?«, erkundigte sich Chick augenzwinkernd.
»Selbstverständlich!«, erklärte Nick Carter scharf. »Doch ich wollte, Patsy wäre hier!«
»Weißt du was, Nick, wir sollten zuerst schauen, wer sich sonst noch im Haus befindet.«
»Begib dich in den Saloon und versuche herauszubekommen, ob auch vom Hausinneren aus eine Treppe hochführt. Inzwischen will ich mir einmal die Außenseite ansehen.«
Damit machten sich die beiden auch schon an die Ausführung ihres Vorhabens.