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Das alte Haus

Das alte Haus
Eine Novelle von L. Du Bois

Meine Frau und ich, wir saßen in unserem Wohnzimmer. Es war noch nicht viel über neun Uhr abends, allein in der damaligen Zeit pflegte man früh zu Bett zu gehen. Wir hatten das Nachtessen daher längst genossen, die Kinder befanden sich im Bett, und alles im Haus war still. Müde von des Tages Arbeit, lehnte ich mich halb schlummernd in meinen Armstuhl zurück, als meine Frau, ihre weibliche Handarbeit niederlegend, mich mit folgenden Worten erweckte: »Hast du über unseren beabsichtigten Umzug auf das Land nachgedacht, Alfred, und schon etwas zu diesem Zweck getan?«

Ich hatte, um die Wahrheit zu gestehen, zwar schon viel darüber nachgedacht, aber noch nichts getan. Von meinem Hausarzt war mir allerdings gesagt worden, dass unser kleiner Philipp in der engen, dunstigen Wohnung von London nie zu einem gesunden Knaben aufwachsen werde. Ich war um mein Kind gewiss so besorgt, wie ein Vater es nur immer sein konnte; allein ich wusste auch aus Erfahrung nur zu gut, wie unzureichend die Mittel eines armen Zeichenlehrers zu solchen Zwecken sind. All dieses sagte ich nun meiner Frau, welche die mich drückenden schweren Sorgen redlich teilte. Die Mutterliebe verdrängte jedoch bei ihr jede andere Rücksicht, und ihr ins Gesicht blickend sah ich, dass ihr Herz, obwohl sie wenig darüber sprach, nicht eher ruhen werde, als bis unser Bübchen die ihm so nötige frische Landluft einatmen konnte. Täglich erinnerte mich ihr kummervolles Gesicht an diesen Gegenstand, aber Wochen und Monate verstrichen, ohne dass eine passende Gelegenheit sich zeigte, als sie mir eines Tages bei meiner Heimkunft voller Freude strahlend entgegenkam und wir einen Brief mit den Worten in die Hand legte: »Lies dieses Schreiben, Alfred, und sage mir deine Meinung.«

Das Schreiben war von der Hand einer Tante meiner Frau und lautete folgendermaßen:

Kaum drei Meilen von hier liegt ein großes Haus, Broklehurst House, oder das alte Haus genannt, welches seit mehreren Jahren nicht bewohnt worden ist und jetzt gegen einen sehr billigen Zins vermietet werden soll. Ich kann zwar nicht gerade dazu raten, es zu nehmen, da es alt, öde und unbehaglich zu sein scheint, allein wenn ihr durch diese Beschreibung nicht abgeschreckt werdet und nähere Erkundigung einziehen wollt, so wendet euch an den Agenten, dessen Adresse ich beifüge.

Kaum hatte ich den Brief zu Ende gelesen, als meine Frau sehr eifrig rief: »Ach, die Tante weiß ja nicht, wie nötig wir ein Haus auf dem Land brauchen. Bedenke nur, Alfred, es ist geräumig und billig. In der Nähe einer Landstraße muss es doch liegen, und kann auch nicht weit von London sein, da Leckford, wo die Tante wohnt, nur drei Meilen von hier entfernt ist. Ein schönes Haus brauchen wir nicht und können uns dort gewiss recht bequem einrichten, wenn du glaubst, dass es passend ist.«

Das war mehr als ich sagen konnte. Um jedoch meine arme Frau, die mich bittend anblickte, zu beruhigen, versprach ich ihr, bei dem Agenten Erkundigung einzuziehen. Ich begab mich deshalb zu seinem Büro, traf ihn an und las sogleich in seinen Zügen, wie froh er war, dass sich jemand zu dem Haus meldete. Es war, wie er mir sagte, das Eigentum eines Mr. Abbot gewesen, der dort gewohnt hatte und gestorben war. Sein Neffe jedoch, welcher das Grundstück erbte, wollte lieber einen geringen Mietzins daraus beziehen, als es selbst bewohnen. Der Agent versicherte, dass das Haus noch in gutem Stand und nur eine geringe Auslage erforderlich sei, um es bequem einzurichten, und riet mir endlich, es selbst in Augenschein zu nehmen. Ich war nicht abgeneigt, es zu tun, fand aber insofern eine Schwierigkeit, als ich nicht wohl einen ganzen Tag von meinen Geschäften in London abwesend sein konnte. Der Agent machte mir deshalb den Vorschlag, am Nachmittag mit der regelmäßigen Landkutsche dahin zu fahren und am folgenden Morgen zurückzukommen, und bemerkte dabei, dass zwei alte Dienstboten des verstorbenen Besitzers mit ihrem Sohn im Hause wohnten, welche sich schon seit vielen Jahren dort befänden.

»Wenn Sie dieselbe Behandlung erfahren sollten, welche mir zuteilgeworden ist«, fügte er hinzu, »so kann ich Ihnen keinen sehr herzlichen Empfang versprechen. Augenscheinlich fürchteten sie, ihren Sitz im Haus zu verlieren, und sahen mich deshalb so finster an, dass ich meinen Aufenthalt möglichst abkürzte. Wenn Sie sich aber vor mürrischen Blicken nicht fürchten, so werden Sie jedenfalls dort ein Bett finden und können auch ein gutes Abendessen bekommen, da das Dorf nicht weit entfernt ist.«

Es schien mir der weiseste Plan zu sein, mich selbst dahin zu begeben, da ich auf diese Weise zugleich die Reise, die später von dort aus täglich nach London zu machen hatte, kennenlernte und das Haus im Morgen- und Abendlicht sehen konnte. Der Unruhe meiner Frau gedenkend, beschloss ich deshalb, keine Zeit zu verlieren, und ließ mir sogleich von dem Agenten einen Brief an den alten Hausverwalter geben. Mit diesem Schreiben in der Tasche eilte ich am folgenden Nachmittag zu der Landkutsche, fuhr ab und kam gegen sechs Uhr vor der Schenke des Dorfes Broklehurst an. In der Nähe derselben sah ich mehrere müßig stehende junge Leute, und war schon im Begriff, bei ihnen den Weg zum Landhaus zu erfragen, als mir plötzlich einfiel, dass es geratener sein würde, einen derselben als Führer zu dingen. Der kurze Märznachmittag neigte sich, und leicht war es, dass ich meinen Weg und dadurch viel Zeit verlor, wenn ich allein ging; wogegen ein Führer mich nicht nur gegen diese Gefahr schützte, sondern mir vielleicht manches über das Haus und seine Nachbarschaft mitteilen konnte. Ich wählte mir also einen munteren Burschen aus, welcher sich auch sogleich bereitfinden ließ, und ich folgte ihm über die Felder, während seine Zunge in fortwährender Bewegung war. Über das Haus, welches ich besuchen wollte, konnte er nicht viel sagen. Er wusste nur, dass der alte Pearce mit seiner Frau, zwei sonderbare und mürrische Menschen, wie er sie nannte, seit langer Zeit darin wohnten; dass der Sohn derselben bei den Farmern der Umgegend arbeitete, und dass die Alten selten oder nie das Haus verließen und überhaupt mit niemand verkehrten. Dagegen kannte er die Namen und die Geschichte der Umgebung und der Farmer genau, wusste wie viel Land sie bewirtschafteten und in welchem Ruf sie standen, und erzählte mir während unseres Marsches alles umständlich.

Als wir aus einer dichten Fichtenpflanzung hervortraten und am Rand einer wüsten, mit Heidekraut und Ginster bewachsenen Ebene standen, sagte er: »Sehen Sie jenes rötliche Haus dort, welches dicht vor einer Sandgrube steht?«

Ich blickte nach der bezeichneten Richtung und gewahrte in der zunehmenden Dämmerung ein langes niedriges Gebäude.

»Glauben Sie mir«, fügte er in leiserem Ton und sich dichter an meine Seite drängend hinzu, »kein Bursche in unserem Dorf würde sich getrauen, bei Nacht oder bei Abend in die Nähe desselben zu gehen, denn vor kaum zwei Jahren ist dort ein Mord verübt worden.«

»Ein Mord?«, rief ich erstaunt.

»Ja, ein recht grausamer Mord. Ein alter Herr wohnte dort allein mit einem jungen Frauenzimmer, welches ihm die Hauswirtschaft führt. Anna Forest war ein hübsches Mädchen und hatte manches freundliche Wort mit mir gewechselt, wenn sie in den Laden meiner Mutter kam. Sie schien immer sehr besorgt für ihren alten Herrn zu sein und hatte auch wohl Grund dazu, denn er war immer sehr gut ihr gegenüber, wie sie selbst versicherte, und überhaupt der beste Mann, der jemals lebte. Allein er hatte viel Geld gespart, und das muss sie verlockt haben; denn als eines Morgens mehrere Feldarbeiter an der vorderen Tür vorübergingen, fanden sie dieselbe offen, das Haus leer, und im Garten den blutigen Leichnam des alten Herrn. Er war gewohnt gewesen, abends seine Pfeife im Garten zu rauchen, und das Mädchen hatte zur Ausführung der Tat diese Gelegenheit benutzt, wo er keine Waffe zu seiner Verteidigung ergreifen konnte. Ein alter eiserner Kasten, in welchem er sein Geld aufbewahrt hatte und dessen Versteck außer ihr niemand kannte, lag aufgebrochen und umgestürzt im Hausflur, und auf dem Fußboden ihres Zimmers waren viele Kleider und viele andere Sachen zerstreut, während in einer ihrer Schubladen ein langes Messer gefunden wurde, das sie dort versteckt hatte. Sie selbst aber konnte nirgends entdeckt werden und ist seitdem nie wieder gesehen worden.«

Mit Schaudern hörte ich die grässliche Geschichte an, die in der Dunkelheit der Nacht und der Nähe des öden Gebäudes umso grauenvoller klang. Schweigend eilten wir über die Ebene, einen steilen und dunklen Pfad hinab und über mehrere Wiesen, bis der junge Mensch, als wir aus dem Freien in den Schatten eines Gehölzes traten, mit seinem früheren heiteren Ton sagte: »Dort können Sie das alte Haus durch die Bäume schimmern sehen!«

Ich vermochte nichts als dunkle Umrisse zu erkennen, während mein Begleiter eine Gartenpforte öffnete, einen wild verwachsenen Pfad hinauf deutete und dann gute Nacht sagend ohne Weiteres seinen Rückweg antrat. Die alte Tür knarrte widerlich, und ich befand mich allein, um im Dunkeln meinen Weg zu suchen. Durch Gesträuche mich windend und über Steine und Wurzeln stolpernd, erreichte ich endlich einen freien, mit Moos und Unkraut überwachsenen Platz und stand vor dem alten Gebäude selbst. Die Wände waren, wie ich sogar in dem trüben Abendlichte sehen konnte, vom Wetter geschwärzt, und vom Dach erhoben sich drei spitze Giebel, welche in der Mitte des Gebäudes von einer noch höheren domartigen Kuppe überragt wurden. Der aufgehende Mond warf einen schwachen Schimmer auf die vergitterten Fenster und die seltsamen, in Stein gehauenen Verzierungen der Haustür und verlieh der einsamen Wohnung etwas Grauenhaftes. Ich zog die Glocke, deren Klang einige Augenblicke lang die Stille unterbrach, aber bald verhallte. Längere Zeit wartend, schellte ich endlich von Neuem, worauf sich in der Entfernung Stimmen und Fußtritte hören ließen, die allmählich näherkamen. Ein Schlüssel wurde in das rostige Schloss gesteckt und die Tür von einem alten Mann geöffnet, dessen dicke, untersetzte Figur den Weg völlig versperrte, als wollte er ein übereiltes Eindringen verhindern. Hinter ihm stand eine von Alter gebückte Frau, welche eine Laterne hielt. Beide starrten mich erstaunt an, während ich dem Mann den Zweck meines Kommens mitteilte. Die Stirn finster runzelnd las er, in der Türe stehen bleibend, langsam und wie es schien mit vieler Mühe den Brief des Agenten.

»Sonderbar!«, murmelte er. »Ich dächte, wir hätten vorher Nachricht erhalten können; wir brauchen hier überhaupt keine Fremden.«

Über diese Unverschämtheit empört, stieg mir das Blut in den Kopf; aber ich mäßigte mich, sein Alter und das ihm eigentümliche mürrische Wesen berücksichtigend, und sagte nur, dass ich ihm keine große Mühe bereiten werde, da ich nichts bedürfe, als ein Stückchen Käse mit Brot und ein Bett. Er blickte mich zweifelhaft an und schien sehr geneigt zu sein, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen; aber plötzlich ging eine Veränderung mit ihm vor, und ohne ein Wort zu sagen, nahm er seiner Frau die Laterne ab, gab mir ein Zeichen zu folgen, und schritt voran durch einen leeren und hohen Vorsaal und zwei Gänge entlang zu einer Küche, in der ein Feuer brannte. Die Laterne auf einen Tisch stellend sagte er: »Sie sehen, hier ist die Küche. Wenn Sie zu stolz sind, hier zu sitzen, so gibt es auch andere Zimmer im Haus, aber ohne Feuer und Licht.«

Meine Antwort nicht abwartend, drehte er mir nach dieser Erklärung den Rücken zu. Ich wandte mich an die Frau, welche uns gefolgt war und nun am Feuer stand, und richtete einige gleichgültige Fragen an sie; allein sie antwortete mir nur ganz kurz und blickte ängstlich auf ihren Gatten. Der Versuche müde, diese Leute freundlicher zu stimmen, sagte ich endlich kurz und entschieden, dass ich das Haus sogleich in Augenschein nehmen wolle, da meine Zeit sehr beschränkt sei.

»Zu dieser Tageszeit ist da sehr wenig zu sehen«, brummte der alte Pearce mürrisch vom Fenster aus, an dem er stand.

»Ich kann wenigstens die Zimmer ansehen und mich überzeugen, wie groß sie sind«, antwortete ich und machte eine Bewegung, um zu gehen.

Einen Augenblick schien es, als wären beide entschlossen, mich allein gehen zu lassen; dann aber trat Pearce vor, verlangte barsch die Schlüssel von seiner Frau und ergriff ein Licht. Während meine unwilligen Führer voranschritten, passierten wir lange Gänge und erstiegen viele Treppen. Von Zeit zu Zeit wurde Halt gemacht und die Frau öffnete die Türen von leeren Gemächern ohne Fensterläden, in denen dicker Staub lag und deren Öde und Düsterheit der schwache Schimmer der Laterne noch deutlicher hervortreten ließ. Kein Wort wurde von beiden gesprochen, ausgenommen, wenn ich sie um etwas fragte, bis wir ein großes Gemach erreichten, welches einst ein Prunkzimmer gewesen sein musste, wie sich an den vergoldeten Verzierungen und zwei großen Wandspiegeln erkennen ließ. Während ich eintrat und mich umschaute, zog der alte Mann seine Frau aus der Tür zurück, flüsterte ihr einige Worte zu und schickte sie hinab, worauf er zurückkam und mir zu erzählen begann, dass vor dreißig Jahren, zu Mr. Abbots Zeit, oft glänzende Bälle in diesem Zimmer stattgefunden hätten, und dass ein Porträt der Dame in glänzendem Ballstaat noch in dem dahinter gelegenen Zimmer hänge. Dann führte er mich dahin und zeigte mir die verblichenen Züge derselben. Als ich mich von dem Gemälde abwandte, kam die Frau wieder zu uns und nahm ihre Schlüssel, worauf der Mann mürrisch weiter voranging, bis wir den Fuß einer schmalen ungewundenen Treppe erreichten. Meine Führer waren bereits mehrere Stufen hinaufgestiegen, als ich eine Tür auf meiner rechten Seite berührte und die Bemerkung machte, dass diese noch nicht geöffnet worden sei.

»Nein«, erwiderte der Mann, sich umwendend und zu mir herunterblickend, »es ist nur eine Polterkammer, deren Schlüssel schon seit langer Zeit verloren gegangen ist. Wenn Sie die Kammer sehen wollen, müssen Sie erst einen neuen Schlüssel machen lassen.«

Dann ging er weiter.

Es war ein großes, unregelmäßiges Gebäude, in dem man oft ganz plötzlich auf Wandschränke, vorspringende Ecken, Wendeltreppen und so gewundene Gänge stieß, dass man sich wundern musste, wohin sie führen konnten; allein es hatte etwas Eigentümliches, das mir nicht missfiel. Als wir endlich in die Küche zurückkamen, saß dort ein Mann am Feuer, der sich die Stiefel auszog und den Rücken der Tür zugewendet hatte. Er drehte sich bei meinem Eintreten um, und seine Gestalt mit dem grobzügigen Gesicht, dem des alten Pearce ähnlich, ließ mich den Sohn erkennen. Meinen Gruß erwiderte er nur mit einem starren Blick, und dann seinen Vater am Ärmel zupfend, fragte er leise und mürrisch, wer ich sei. Ich konnte die Antwort nicht hören, aber sein darauffolgendes Brummen war verständlich genug.

Die Frau begann nun das Abendessen zu bereiten, und bald wurde mir ein aus Eiern, Speck und Bier bestehendes Nachtessen vorgesetzt. Während ich es genoss, entfernte sich der Alte mit der Frau. Der Sohn blieb eine Zeit lang sitzen und beobachtete mich schweigend, worauf er ihnen folgte und ich zum ersten Mal seit dem Eintritt in das Haus allein war. Bald darauf kamen Vater und Sohn zurück, aber eine Veränderung war mit ihnen vorgegangen. Ihr mürrisches Wesen war verschwunden, und sie schienen sehr neugierig zu sein, welche Absichten ich mit dem Haus habe. Augenscheinlich fürchteten sie, dass ich es nehmen möchte, wodurch sie ihrer Wohnung beraubt werden würden, und suchten deshalb jedes von mir geäußerte Bedenken zu bestärken. Nach ihrer Schilderung war das Haus im Sommer unerträglich heiß, im Winter sehr kalt, und überhaupt in hohem Grad verfallen.

»Und dennoch scheint Ihr hier gern zu wohnen?«, bemerkte ich gegen den Sohn, worauf er wir eine Antwort gab, die mich fast rührte.

»Ich bin hier geboren und aufgewachsen«, sagte er, »und das macht einen Unterschied.«

Als die Frau endlich wieder in das Zimmer kam, sah ich, dass sie bitterlich geweint hatte, und mit einer in der Tat reuigen Regung wegen meines Eindringens nahm ich das Licht aus ihrer zitternden Hand und folgte ihr die Treppe hinauf. Sie hatten eins der alten Gastzimmer für mich erwählt, welches von der Küche weit entfernt und am Ende einer breiten Galerie lag. Vor der Türe blieb sie stehen, um zu sagen, sie hoffe, es werde nichts zu meiner Bequemlichkeit fehlen, und dass ein Schellenzug im Zimmer sei, für den Fall, dass ich noch etwas bedürfen sollte. Dann aber eilte sie, ohne meine Antwort zu erwarten, die Treppe hinab.

Das Gemach war groß und hoch und musste ehemals sehr glänzend möbliert gewesen sein, denn auf den Sitzen am Fenster lagen noch Kissen von verschossenen blauer Seide, und Vorhänge von demselben Stoffe bedeckten die Nischen. Alles übrige Mobiliar war jedoch hier, wie in den andern Zimmern, verschwunden. An dem einen Ende des Gemaches stand eine kurz vorher aufgeschlagene Bettstelle, und neben derselben ein Waschtisch, mit einem Spiegel und zwei gebrechlichen Stühlen. Das waren alle mir gebotenen Bequemlichkeiten, die allerdings sehr dürftig aussahen; allein ich konnte nicht mehr erwarten und machte auch keine größeren Ansprüche. Lange Zeit blieb ich sitzen und vermerkte in meinem Taschenbuch alles, was ich gesehen hatte, bis die Uhr endlich zwölf schlug und ich mich anschickte, zu Bett zu gehen. Ehe dies jedoch geschah, trat ich an die Tür, um sie zu verschießen, fand aber zu meinem Erstaunen, dass dies unmöglich war, da sich weder ein Riegel an derselben noch ein Schüssel im Schloss befand. Im ersten Augenblick erschrak ich, allein dann fiel mir ein, dass die alte Frau sämtliche Zimmerschlüssel an einem großen Bund bei sich getragen und wahrscheinlich vergessen hatte, diesen davon abzunehmen und einzustecken. Sollte ich deshalb schellen? Unschlüssig zauderte ich. Allein es war schon spät, die Leute mussten längst in ihren Betten liegen, und ich empfand keine Lust, den finsteren Blicken derselben an diesem Abend noch einmal zu begegnen. Was konnte es auch schaden? Ohne Gepäck, mit wenig Geld in der Tasche und in einer fast abgetragenen Kleidung hatte ich nichts zu verlieren, während Kraft und Gewandtheit mir zur Seite standen und keinen Angriff fürchten ließen. Unbesorgt blies ich deshalb das Licht aus und legte mich nieder. Ich befand mich nicht in völliger Dunkelheit, denn der Mond schien in das Zimmer und wurde nur von Zeit zu Zeit durch vorüberziehende Wolken verdunkelt. Lange Zeit blickte ich durch die Fenster in den bleichen Schimmer, beobachtete die fliehenden Nebel, die am Himmelsgewölbe blitzenden Sterne, und dachte, wie Gatten und Väter zu tun pflegen, an Frau und Kinder daheim, an die kleinen Füße, die bald in den Gemächern dieses Hauses umhertanzen sollten, sah mich und meine Frau in dem großen und öden Prunkzimmer beisammen sitzen, und berechnete, in wie weit unser dürftiges Mobiliar in London ausreichen würde, es wohnlich zu machen. Allmählich gingen jedoch diese Berechnungen in träumerische Fantasien über, die endlich auch schwanden, und ich sank in einen festen Schlummer.

Wie lange ich geschlafen hatte, ob nur einige Minuten oder mehrere Stunden, weiß ich nicht; aber ganz plötzlich erwachte ich, und zwar mit einem unwillkürlichen Schauder und Beben. Alles war ruhig. Eine Wolke verfinsterte den Mond und im Zimmer schien Totenstille zu herrschen. Aber nur einen Augenblick, denn während ich lauschend den Atem anhielt, schlug ein schwacher Ton an mein Ohr, ein Rauschen, so leise, dass ich es kaum zu hören vermochte, aber dennoch deutlich und aus einer entfernten Ecke des Zimmers kommend. Ich war ein Mann von starken Nerven und hatte in meiner Jugend zu Lande und zur See manche Gefahr bestanden, allein nie den Mut und die Geistesgegenwart verloren. Sie verließen mich auch nun nicht. Die Männer von unten mochten mich zu berauben beabsichtigen, oder vielleicht aus Wut über mein Eindringen noch schlimmere Pläne hegen; aber wenn das Fehlen jenes Schlüssels kein Zufall war und wenn sie sich wirklich im Zimmer befanden, so stand mein Entschluss fest, dass die Arbeit ihnen schwerer werden sollte, als sie erwartet hatten. Obwohl ohne eigentliche Waffen, besaß ich doch einen mit Blei gefüllten Stock, der mich auf allen meinen Wanderungen begleitete und nun an meinem Bett stand. Langsam und vorsichtig streckte ich die Hand danach aus. Dann verhielt ich mich ruhig und wartete. Eine Zeit lang war alles still, worauf das Rauschen von Neuem begann und die dunklen Umrisse einer Gestalt in der Nähe der Tür sichtbar wurden. Allmählich kam sie näher, stand aber zuweilen still, wie um auf meine Atemzüge zu horchen, und erreichte endlich den Fuß des Bettes, als ich aufsprang. Mein Stock war erhoben und bereit zu fallen, aber plötzlich fiel wieder ein Mondstrahl in das Zimmer, und meine Hand sank nieder, denn ein Frauenzimmer stand vor mir. Es war jedoch nicht die alte Frau, welches mir das Zimmer angewiesen hatte, sondern ein viel jüngeres Wesen in schwarzer Kleidung, mit bleichem, hagerem Gesicht und wilden, verstörten Blicken. Was für ein Wesen war es? Ein Geist? Oder eine entsprungene Wahnsinnige? Mühsam sammelte ich Atem und fragte: »Wer, in des Himmels Namen, ist da?«

»O still, still!«, erwiderte eine schwache und so klagende Stimme, wie die eines weinenden Kindes: »Sprechen Sie nicht so laut, damit jene es nicht hören!«

»Jene? Wer sind denn Jene? Und wer sind Sie?«

»Ich will es Ihnen sagen, ich bin deshalb gekommen«, flüsterte sie und ergriff meinen Arm mit konvulsivischer Kraft. »Ich bin eine Unglückliche, welche diese Bösewichte seit achtzehn Monaten hier in diesem Haus, fern von aller menschlichen Hilfe, gefangen halten. Sie sind das erste lebende Wesen, das hierhergekommen ist, und ich nahm mir deshalb vor, wenn es auch mein Tod sein sollte, Ihre Hilfe und Ihren Schutz anzurufen. O lieber Herr, haben Sie Mitleid mit mir!«

Während sie diese Worte in flehendem Ton, aber stotternd und unterbrochen lallte, als ob ihr der Atem mangelte, fühlte ich überzeugend, dass es nicht die Sprache einer Irrsinnigen oder Betrügerin sei.

»Mein armes Kind«, erwiderte ich in ebenso beruhigendem Ton, »gern will ich Ihnen helfen, wenn ich kann, aber sie müssen mir sagen, auf welche Weise. Wie lautet Ihr Name und weshalb sind Sie hier?«

Sie haben mich hierhergebracht, weil ich es sah, als sie es taten, ich allein. Sie wagten nicht, mich dort zurückzulassen, und als der Mord verübt war, schleppten Sie mich hierher und sperrten mich in das schreckliche Zimmer oben ein. Ich heiße Anna Forest.«

Die Erzählung des Burschen, welcher mir als Führer gedient hatte, die Weigerung des alten Pearce, mich das Haus sehen zu lassen, die verschlossene Polterkammer und diese wenigen Worte warfen ein so klares Licht auf das ganze Sachverhältnis, dass ich vor Schreck stumm war und selbst kaum zu denken vermochte. Endlich mich sammelnd, fragte ich, auf welche Weise sie ihrem Gefängnis entkommen sei.

»Es lagen dort mehrere alte, verrostete Schlüssel«, sagte sie, »ich fand sie eines Tages in einer mit Schutt gefüllten Kiste und versuchte sämtliche. Einer derselben passte zu dem Schloss der Tür, aber ich wagte ihn nicht zu benutzen, weil die Leute sich fortwährend unten bewegten, und ich verbarg ihn deshalb. Die Männer würden mich schon längst umgebracht haben, wenn die Frau es nicht verhindert hätte. Sie ist besser als die anderen beiden. Diesen Abend war sie bei mir, weinte und sprach davon, dass Sie gekommen seien, und dass ihr Mann darüber so aufgebracht sei, ohne zu ahnen, dass ich auf jedes Wort lauschte; denn sie halten mich nun schon für halb wahnsinnig. Ich merkte mir alles und fasste die Hoffnung, bei Ihnen Hilfe zu finden. Als ich deshalb vermuten konnte, dass alle zu Bett gegangen seien, zog ich meinen Schlüssel hervor, öffnete die Tür und horchte dann an jedem Zimmer, bis ich Sie durch das Geräusch Ihrer Atemzüge fand.«

Nach dem letzten Wort hielt sie inne, blickte mich forschend und flehend an und fügte hinzu: »Ich fand Sie, und nun, o Herr, werden Sie mich nicht verlassen!«

»Nein, ich will Sie nicht verlassen«, war meine Antwort; aber als ich nachzudenken begann, zeigte sich mir das Gefahrvolle unserer Lage. Allein in diesem Haus, und mehr als eine Meile von jeder menschlichen Hilfe entfernt, war es eine schwierige Aufgabe, sie und mich gegen Männer zu schützen, welche notwendig zur Verzweiflung getrieben werden mussten, wenn sie erfuhren, dass ich ihr Geheimnis kannte. Überdies durfte ich, als ein Mann mit Frau und Kindern, mein Leben nicht verwegen auf das Spiel setzen, sondern musste mit Vorsicht verfahren. Erst dann, wenn es zum Äußersten kam, war es mir erlaubt, zu versuchen, was ein einzelner starker Arm gegen zwei Bösewichte auszurichten vermochte. Ich sprach deshalb beruhigend zu dem Mädchen, hielt ihre Hand, während sie neben mir stand, und bemühte mich, ihre Angst durch das Versprechen, dass ich sie retten wollte, zu mildern, aber bemerkte, dass es in diesem Augenblick unmöglich sei.

»Warten Sie nur bis zum Morgen«, sagte ich. »Jetzt aber gehen Sie in Ihr Gefängnis zurück und vertrauen Sie mir.«

»Der Schlüssel steckt im Schloss, ich konnte ihn nicht wieder herausziehen«, erwiderte sie schaudernd. »Wenn sie ihn finden, werden sie mich ermorden, wie sie mir oft gedroht haben.«

»Folgen Sie meinem Rat!«, flüsterte ich. »Bisher haben uns die Leute noch nicht gehört. Gehen Sie zurück und versuchen Sie, wenden Sie alle Kräfte an, den Schlüssel herauszuziehen und schließen Sie sich wieder ein. Dann können jene nichts erraten, und Sie haben nichts zu befürchten. Ich werde wach bleiben und Acht geben. Sollten Sie meiner bedürfen, so rufen Sie nur, und ich werde kommen. Ist es nicht der Fall, so verhalten Sie sich ruhig und warten Sie den Morgen ab, der Ihnen Rettung und Freiheit bringen wird. Aber jetzt gehen Sie, damit man uns nicht beieinander findet.»

Sie schien mich zu verstehen und schlich demütig der Tür zu, aber plötzlich stehen bleibend, wandte sie sich um und sagte: »Oh, Sie werden mich nicht hintergehen, nicht wahr?«

Der Blick und Ton, mit dem sie diese flehenden Worte sprach, war so unaussprechlich traurig, dass mir das Herz weh tat, sie gehen lassen zu müssen.

»Nein, ich weiß, Sie werden es nicht tun!«, fügte sie in zuversichtlicherem Ton hinzu.

Leise öffnete sie hierauf die Tür und trat in die Galerie hinaus, wo ich, ihr nachblickend, die schwarze Gestalt geräuschlos verschwinden sah. Mit angehaltenem Atem hörte ich aber kein Laut, keine Bewegung ließ sich im Haus vernehmen. Die alten Leute schliefen am Fuße der Hintertreppe, nahe bei der Küche, und der Sohn in einer an den Vorsaal stoßenden Kammer, und keiner von ihnen ahnte, dass die Gefangene, welche sie so viele Monate lang in sorgsamer Verwahrung gehalten hatten, in dieser Nacht ihrem Gefängnis entschlüpft war. Hätte ein Zufall die Schläfer geweckt und sie Verdacht schöpfen lassen, so würde ein blutiger Kampf auf Tod und Leben gefolgt sein; allein alles blieb ruhig. Der Mond goss sein Licht in das Zimmer, während ich die Tür zumachte und leise an das Fenster trat, wo ich mich niederlegte, um nachzudenken. An was zu denken? An das grässliche Verbrechen, das heimliche Gefängnis, und an die Schritte, die ich zu tun hatte, sobald der Morgen anbrach. All diese Dinge drängten sich in mein Gehirn und versetzten es in wilde Tätigkeit. Allmählich wurde ich jedoch ruhiger. Befreien musste ich sie, aber wie? Ich dachte an zahllose Mittel und Wege, doch verwarf ich sie alle wieder und blieb regungslos liegen, bis sich das erste Grauen der Dämmerung am östlichen Himmel zeigte. Kein Laut hatte die Totenstille des Hauses unterbrochen, und endlich war mein Plan gereift. Ruhig kleidete ich mich an, wartete noch einige Zeit und ging dann, sobald der erste rötliche Strahl durch die Bäume schimmerte, laut und geräuschvoll die Treppe hinab.

Es war meine Absicht, gehört und gesehen zu werden, aber niemand zeigte sich, und ich schritt deshalb zur Küche und blickte hinein. Der alte Pearce befand sich dort und war damit beschäftigt, Holz zu spalten. Er hörte mich nicht, bis ich dicht neben ihm stand. Dann sich, plötzlich umwendend, sagte er in seinem mürrischen Ton: »Sie stehen früh auf!«

Alles Blut kochte mir in den Adern, als ich das böse Gesicht des Mörder sah; aber meine Aufregung bekämpfend, erwiderte ich ruhig: »Ja, ich möchte vor dem Frühstück die Anlagen besuchen. Können Sie mir den Weg dahin zeigen?«

»Ich weiß nichts davon«, entgegnete er, »hier gibt es keine Anlagen.«

»Wo liegt der Garten?«, fragte ich.

Kaum waren die Worte über meine Lippen, so sah ich ein, dass sie mehr geeignet waren, Verdacht zu erregen, als zu verdrängen. Er blickte mich auch misstrauisch an und erwiderte hastig: »Es gibt ebenso wenig einen Garten hier, denn er ist völlig verwildert. Übrigens wird das Frühstück bald fertig sein.«

Die kostbaren Minuten entflohen, und dennoch wagte ich nicht, merken zu lassen, dass ich Eile hatte. Der Alte fuhr mit dem Spalten des Holz fort, und ich schwieg.

»Ach«, sagte ich endlich, »ich will einen kurzen Spaziergang im Gehölz machen und nachher Sie bitten, mit mir zu gehen.«

Kaum hatte ich ausgesprochen, als außerhalb die Tritte der alten Frau hörbar wurden, welche die Treppe hinaufstieg. Wohin ging sie? Zu der Polterkammer? Noch war alles unentdeckt; aber wenn der verrostete Schlüssel im Schloss steckend gefunden wurde, wussten sie, was geschehen war. In Verzweiflung nach einem Mittel suchend, um sie zurückzuhalten, rief ich dem Alten zu: »Halt! Ist das nicht Ihre Frau? Ich möchte sie bitten, mir etwas Gemüse und einige Eier zu holen, um sie mit in die Stadt zu nehmen; ich will sie gut bezahlen.«

Sein Gesicht wurde freundlicher, und nur an das Versprechen der guten Bezahlung denkend, beachtete er meine Aufregung nicht und rief zur Türe hinaus: «Martha, der Herr verlangt nach dir. Komm herunter!«

Nach einer Pause hörte ich sie von oben antworten: »Ich werde nicht lange bleiben!«

Angstvoll holte ich tief Atem.

»Komm sogleich!«, rief er zurück. »Der Herr wartet.«

Dieser Befehl entschied. Langsam stieg sie die Treppe wieder herab, und wenige Minuten später hatte ich die Freude, sie mit einem Korb zum Hühnerstall und in den Garten gehen zu sehen. Nun war meine Zeit gekommen, und kein Augenblick durfte mehr verloren werden. Vom alten Pearce gefolgt, schritt ich durch den Hausflur. Während er die Hoftür öffnete, fielen mir die Worte des jungen Burschen, der mich geführt hatte, in Betreff des Sohnes ein. Der Letztere hatte sich vielleicht schon auf auswärtige Arbeit begeben, und wenn dies der Fall war, wenn ich es mit dem Alten allein zu tun hatte, so beschloss ich, den Kampf ohne fremde Hilfe zu bestehen und das arme Mädchen keinen Augenblick länger in den Händen des alten Bösewichts zu lassen.

»Ich weiß nicht«, begann ich in gleichgültigem Ton, »ob Ihr Sohn zu Hause ist. Würde er mich wohl nach Leckford begleiten und meine Reisetasche tragen können?«

»Ja, er kann mit Ihnen gehen«, war die Antwort, welche mich überzeugte, dass ich den Plan aufgeben musste. Langsam den Waldpfad hinabgehend, blieb ich von Zeit zu Zeit stehen, um mit scheinbarem Interesse die Bäume und Gesträuche zu betrachten, warf aber dabei aufmerksame Blicke nach dem Haus zurück. Der Mann stand noch immer an der Tür und schaute mir nach. Endlich verschwand er, allein so lange ich von den Fenstern aus gesehen werden konnte, wagte ich nicht meinen Schritt zu beschleunigen, sondern schlenderte wie bisher langsam der äußeren Pforte zu. Ich öffnete sie und trat in das Freie hinaus. Alles war ruhig und still im frühen Morgenlicht; nur ein Kaninchen sprang hier und dort umher und die Krähen schrien in der Luft. Noch eine kurze Strecke ging ich langsam und blieb dann stehen, um zum Haus zurückzublicken. Es war nicht mehr zu sehen, und im nächsten Moment flog ich wie der Wind durch Felder und Wald und über die weite, mit Heidekraut bewachsene Ebene, wo das niedrige rote Haus in seiner Einsamkeit stand. Weiter ging es und weiter, in eine Fichtenpflanzung, über frisch gepflügte Felder gerade einem weißen Haus zu, welches auf der Spitze eines nahen Hügels lag. Es gehörte, wie mein Führer mir gesagt hatte, einem Mr. Archer, welcher Friedensrichter war. So wenig ich auch bei der Erzählung selbst auf den Namen und die Örtlichkeit geachtet hatte, so waren sie mir doch in meiner Nachtwache wieder eingefallen; und nun eilte ich zu diesem Mann, um seinen Beistand in Anspruch zu nehmen. Der Atem versagte mir bereits und meine Füße wollten nicht mehr fort, aber dennoch arbeitete ich mich weiter und erreichte endlich die Tür. In demselben Augenblick ritt ein Herr davon ab. Ich trat ihm jedoch in den Weg, und keuchte »Mr. Archer!« hervor und sank dann vom Schwindel ergriffen an die Wand des Hauses. Ich sah ihn absteigen und hörte ihn nach meinem Namen und Begehren fragen, brauchte aber mehrere Minuten, bis ich mich so weit erholte, dass ich die Bitte um eine kurze Unterredung unter vier Augen aussprechen konnte. Er sah mich erstaunt an, trat aber in das Haus und ging mir voran zu einem kleinen Arbeitszimmer. Hier teilte ich ihm in wenigen Worten alles mit. Während der Erzählung bemerkte ich jedoch, dass sein Staunen in den Ausdruck von Unglauben überging, und dass seine freundlichen, sinnenden Augen unwillkürlich mein erhitztes Gesicht und meine nachlässige Kleidung betrachteten. Er hielt mich für wahnsinnig. Alle Kraft aufbietend, um gelassener zu erscheinen und ruhiger zu sprechen, sagte ich: »Sie halten es für eine Fabel, aber ich schwöre Ihnen heilig, dass jedes Wort wahr ist, und rufe Sie an, mir als Friedensrichter Ihren Beistand zu leihen.«

Er schwieg eine Weile und erwiderte dann: »Als Friedensrichter sowie als Mensch wäre es meine Pflicht, zu helfen, wenn die Sache sich wirklich so verhält; aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass die Erzählung allerdings wie eine Fabel aussieht, und dass ich ohne stärkere Beweise Anstand nehmen muss, mit einer solchen Anklage in die Häuslichkeit eines Mannes zu dringen.«

»Hören Sie!«, sagte ich, meine Hand auf seinen Arm legend. »Ich kann Ihnen nur den Beweis geben, dass an der Wahrheit dieser Mitteilung mein eigener Ruf hängt. Wenn Sie mit mir gehen und die Angaben unwahr finden, so sind Sie nur von einem Wahnsinnigen oder einem Schelm getäuscht worden; wenn Sie sich aber nach dieser Erklärung noch weigern, so möge das Blut des Mädchens und das meine über Sie kommen, denn ich bin fest entschlossen, sogleich dahin zurückzukehren.«

»Sie sprechen in starken Ausdrücken«, sagte er nach kurzem Zögern,» aber ich bin bereit, Sie zu begleiten.«

Ich hielt ihn noch einmal auf.

»Nicht allein!«, rief ich. »Lassen Sie einige von Ihren Leuten mit uns gehen. Es geschieht keineswegs meinetwegen«, fügte ich hinzu, als ein gewisses Lächeln auf seiner Lippe spielte. »Ich bedarf nur Ihrer Hilfe. Aber ich möchte Sie selbst nicht einer Gefahr aussetzen, denn dort sind zwei starke Männer, die vielleicht verhaftet werden müssen.«

»Und wenn nicht?«, fragte er.

»Wenn nicht, so sind Sie getäuscht worden«, wiederholte ich.

»Gut, es sei so!«, antwortete er.

Eine halbe Stunde nach dieser Unterredung mit dem Friedensrichter stand ich mit ihm und zwei Dienstboten vor der Tür des alten Hauses. Alles schien so ruhig und ungestört zu sein, wie zu der Zeit, als ich es verlassen hatte. War auch im Inneren alles so friedlich? Trieben sie noch ihre häuslichen Beschäftigungen und warteten meiner Rückkehr, während die einsame Gefangene in der oberen Kammer angstvoll auf Befreiung hoffte? Ich schellte, aber niemand ließ sich anfangs sehen. Schrecken ergriff mich. Hatten sie das arme Mädchen ermordet und waren dem einsamen Haus entflohen? Doch nein. Schritte ließen sich auf dem Hausflur hören, und die Kette an der Türe fiel. Der alte Pearce öffnete die Pforte allein, dieses Mal aber weit, und schaute uns mit seinem gewohnten mürrischen Blick an. Sie haben also noch nichts gemerkt, dachte ich, und werden nun erst alles erfahren.

»Ihr Spaziergang hat lange gedauert«, sagte Pearce, und fügte, als Mr. Archer hervortrat, hinzu: »Aber was will dieser Herr?«

Ich schaute ihm gerade in das Gesicht und sagte: »Er ist gekommen, um Anna Forest von hier abzuholen.«

Bei Nennung dieses Namens erwartete ich ihn bleich werden und auf mich losspringen zu sehen, aber kein Zug seines Gesichts veränderte sich. Da sank mir der Mut und Mr. Archer sah verlegen aus.

»Ich würde nicht in Ihr Haus dringen«, sagte er, »und Sie des schrecklichen Verbrechens für verdächtig halten, dessen dieser Herr Sie anklagt, wenn seine Behauptungen nicht so bestimmt wären. Um Ihrer selbst willen müssen Sie deshalb, wenn Sie können, von diesem Verdacht reinigen.«

Ohne alle Bewegung blickte ihn Pearce an.

»Wenn ich nicht irre«, sagte er, »sind Sie Mr. Archer, der Friedensrichter. Vielleicht können Sie mich darüber aufklären, was dieser Mann meint, denn ich weiß es nicht.«

»Was ich meine«, erwiderte ich, »ist das, dass Anna Forest, deren Dienstherrn Ihr vor zwei Jahren ermordet habt, in diesem Haus heimlich gefangen gehalten wird, damit sie Euch nicht anklagen könne. Sie befindet sich in der sogenannten Polterkammer, wohin ich jetzt gehen werde.«

»Sie mögen sämtlich gehen wohin Sie wollen, obwohl ich nicht weiß, mit welchem Recht Sie eine solche Haussuchung vornehmen. Mir ist es gleichgültig, was Sie tun, aber es passt vollkommen zu Ihrem Betragen an diesem Morgen.«

Nach den letzten Worten sich umwendend, ging er in die Küche zurück. Meine Gefährten blickten sich verlegen an, und ich sah deutlich, dass die schlaue Rede des alten Bösewichts ihren Verdacht gegen mich bestärkte. Was konnte diese Kaltblütigkeit bedeuten? Mutlos stieg ich vorangehend die Treppe hinauf und suchte die Tür, vor der ich am Abend gestanden hatte. Sie war noch verschlossen, aber der Schlüssel hing an einem Nagel. Irrte ich mich in der Örtlichkeit? Nein, der schmale Gang lag gerade vor mir, und die Wendeltreppe über und unter mir. Ich nahm den Schlüssel, öffnete die Tür und trat in die öde Kammer, die nur mit Kästen und zerbrochenem Mobiliar halb angefüllt war. Hinter derselben lag noch eine zweite, aber ebenso leere; nirgends ließ sich eine Spur davon entdecken, dass hier ein menschliches Wesen gehaust hatte. Deshalb war also der Alte so kalt und ruhig! Ich suchte weiter, suchte verzweifelnd in allen Richtungen, Ecken und Winkeln, und Mr. Archer sah mir schweigend zu, aber vergebens! Sie war fort und nirgends zu entdecken. Ich ging in die anderen Zimmer, ließ kein Fleckchen undurchsucht und stöhnte laut in bitterem Unmut, sie ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Worin bestand es? Das war der Gedanke, der mir schwer auf dem Herzen lag, während wir zu der Küche zurückkehrten. Als ich im Begriff war, einzutreten, zog mich Mr. Archer beiseite.

»Sie werden sich entsinnen, was Sie gegen mich erklärt haben, als ich von Ihnen veranlasst wurde, hierher zu gehen«, sagte er. »Ich habe geduldig gewartet und Ihnen hinreichende Zeit gelassen, den Beweis zu führen; jetzt aber ist an mir die Reihe, zu reden und zu handeln. Sie müssen nunmehr bekennen, sich entweder einer grausamen Verleumdung schuldig gemacht zu haben oder …«

»Einer verrückten Idee, wollen Sie sagen, nicht wahr?«, fügte ich ergänzend hinzu. »Nein, noch nicht. Es sind auch Hofgebäude hier, welche untersucht werden müssen. Wer weiß, ob sie nicht das Mädchen gänzlich von hier fortgeschafft haben!«

»Wie hätte das bei hellem Tageslicht geschehen können? Vor einer Stunde waren Sie noch selbst hier, und kein Wagen oder Pferd ist im ganzen Gebäude vorhanden. Das scheint jedenfalls unmöglich. Übrigens ist auch der Mann hier.«

Ich erwiderte nichts, denn was konnte ich sagen? Als wir durch die Küche zur Hinterpforte gingen, saß der alte Pearce noch am Feuer erhob den Kopf und sagte, auf einen in der Nähe stehenden Korb deutend: »Meine Frau hat das Gemüse und die Eier für Sie besorgt, ehe sie auf den Markt gegangen ist. Ich frage nicht, ob Sie etwas gefunden haben, denn es war hier nichts zu finden; allein ich hoffe, dass Sie nunmehr eines Besseren überzeugt sind.«

Ich schwieg. Nur Mr. Archer blieb stehen und erwiderte einige Worte, ehe er zu meinen weiteren vergeblichen Nachforschungen folgte. Überall, in Scheuern, Speichern und Ställen suchte ich, doch vergebens. Das Geflügel auf dem Hof und der Hund in seiner Hütte waren die einzigen lebenden Wesen, welche wir antrafen. Endlich wandte ich mich deshalb an Mr. Archer und sagte: »Ich gebe es auf!«

»Und Sie nehmen Ihre Anklage zurück?«, fragte er.

»Es wäre unnütz, dabei beharren zu wollen!«, erwiderte ich mit Bitterkeit. »Aber wie kann ich meinen eigenen Sinnen misstrauen?«

»Selbst unsere eigenen Sinne können uns zuweilen täuschen«, entgegnete er ruhig.

Ich verstand recht wohl, was er meinte. Nach unserer Rückkehr in die Küche ging er zum alten Pearce und bat ihn sehr ernst und förmlich wegen der verursachten Störung um Entschuldigung, worauf er sich an mich wandte und sagte: »Ich habe keine Veranlassung, hier länger zu verweilen, sondern wünsche Ihnen einen guten Morgen und hoffe, dass Ihre peinlichen Eindrücke aus der letzten Nacht bald schwinden werden.«

Seine Worte stimmten auf sonderbare Weise mit meinen eigenen Gedanken überein. Also war es wirklich, selbst der nächtliche Besuch nichts als eine durch die Erzählung meines Führers und den Aufenthalt in dem einsamen Hause erzeugte Sinnestäuschung oder Traum gewesen? Hatte Mr. Archer recht mit seiner Vermutung, dass ich dem Irrsinn nahe sei? Von dieser entsetzlichen Idee zum ersten Mal ergriffen, blieb ich schweigend stehen, bis mein Begleiter seine Abschiedsworte beendet hatte.

»Leben Sie wohl!«, sagte ich dann. »Sie mögen doch am Ende recht und ich unrecht haben. Aber halt was ist das?«

Mir war, als ob meine Stimme in einem anderen Ton widerhallte. Ich stand am Fenster, und dicht an meiner rechten Seite befand sich ein zur Küche gehöriger Wandschrank, aus dem ich ein leises Stöhnen zu vernehmen glaubte. Wäre ich nicht so nahe daran gestanden, so hätte es meinen Ohren notwendig entgehen müssen. Mich schnell wendend, legte ich die Hand auf den Griff der Tür; allein in demselben Augenblick sprang auch der alte Pearce seinem von seinem Sitz auf und mit einem wütenden Fluche auf mich zu. Ein kurzer Kampf folgte, ein lauter Schrei, und er lag hingestreckt auf den Boden, worauf ich die verschlossene Tür des Wandschranks aufzubrechen versuchte. Sie wich bald meinen Anstrengungen, und in dem geöffneten Raum fanden wir, gebunden an Händen und Füßen und mit einem Knebel im Mund, das unglückliche Mädchen liegen, welches wir gesucht hatten. Unfähig sich zu bewegen zu schreien, obwohl die Hilfe so nahe war, hatte sie durch ihre verzweifelnden Anstrengungen nur jenen schwachen, stöhnender Laut hervorbringen können, der meinen Ohren nicht entgangen war. Wir hoben sie auf und lösten ihre Fesseln, aber sie vermochte nicht zu sprechen und schaute nur verstört und angstvoll um sich, während ihre Hand meinen Arm so fest umklammerte, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Wir führten sie aus dem Haus fort, nachdem unsere Begleiter Auftrag erhalten hatten, den alten Pearce nachzubringen, welcher zwar unter den Händen der beiden kräftigen Diener keinen Widerstand äußerte, aber desto wütendere Blicke auf mich, seinen Henker warf.

Erst nach mehreren Stunden war Anna Forest imstande, uns ihre Erlebnisse mitzuteilen. Als wir uns am Abend desselben Tages in Mr. Archers Studierzimmer befanden, erzählte sie uns, während ihre Hand in der meinen ruhte, die grässliche Geschichte.

Sie hatte die Familie Pearce schon in früherer Zeit gekannt und die Frau einmal in einer schweren Krankheit gepflegt. Eines Tages war sie von dem alten Pearce mit scheinbarer Gleichgültigkeit über den Geldkasten ihres Dienstherrn und den Ort der Aufbewahrung befragt worden und hatte ihm, nichts Böses ahnend, alles mitgeteilt, was sie wusste. An jenem Abend, an dem die blutige Tat verübt wurde, war sie im Haus bis zur Dunkelheit beschäftigt gewesen und war dann in den Garten gegangen, um ihren Herrn zum Nachtessen zu rufen. Als sie sich der Stelle näherte, an dem er gewöhnlich zu sitzen pflegte, gewahrte sie zwei Personen über einen am Boden liegenden Gegenstand gebeugt und überzeugte sich nach längerer Beobachtung, dass es ihr Herr war. Mit einem lauten Schrei vorspringend, empfing sie sogleich einen heftigen Schlag auf den Kopf, der sie betäubt zu Boden streckte. Bei ihrem Erwachen befand sie sich in dem einsamen Zimmer des alten Hauses, Broklehurst House genannt, wohin sie geschleppt worden war, um an einer Anklage verhindert zu werden. Ihr Leben war nur deshalb geschont worden, weil die alte Frau, dankbar für die frühere Pflege, geschworen hatte, alles zu verraten, sobald ihr ein Leid geschehe. Der Frau allein verdankte sie also während der langen Monate ihrer Gefangenschaft die Erhaltung ihres Daseins. Von den Begebenheiten des Morgens, als der alte Pearce allein zu ihr gekommen war, den im Schloss steckenden Schlüssel gefunden und die Entdeckung des Geheimnisses erraten hatte, wie sie von ihm gebunden, geknebelt und vor den nahenden Befreiern im Wandschrank versteckt worden war, vermochte sie auch in jener Stunde noch nicht ohne krampfhaftes Schaudern zu sprechen.

Es ist wenig mehr zu erwähnen. Der alte Pearce und sein Sohn erlitten die verdiente Strafe ihrer Verbrechen von der Hand des Nachrichters, die Frau aber erhielt ein milderes Urteil. Broklehurst House bezogen wir nicht, da es uns unmöglich war, unsere unschuldigen Kinder auf dem Schauplatz solcher Verbrechen spielen zu sehen. Wir mieteten ein anderes Haus auf dem Land. Noch viele Jahre später konnte man in unserer Familie ein bleiches, stets schwarz gekleidetes Frauenzimmer von außerordentlich stillem und sanftem Wesen finden. Sie war die treue Helferin meiner Frau in jedem Leid, und in ihren Armen lagen meine Kinder, wenn sie krank oder betrübt waren. Mir aber war sie die ergebenste, anhänglichste Dienerin; und als sich ihr endlich der Tod nahte und die Lippen der Sterbenden kein Wort mehr zu lallen vermochten, drückte ihr brechender Blick noch Dank aus.

Es war Anna Forest.