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Der Detektiv – Band 27 – Die Uhrkette des Bill Hamilton – Teil 6

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 27
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Uhrkette des Bill Hamilton

Teil 6

Harst mit seinen eisernen Nerven war tatsächlich im Nu eingeschlafen und auch ich schlief bald ein.

Vormittags fütterte die als Mann verkleidete Frau uns abermals. Der Tag verging, ohne dass sich etwas Besonderes ereignete. Harst machte sich nicht ein einziges Mal frei. Die Laterne stand nun wieder auf dem Koffer. Ich sehnte mich danach, meine Arme ein wenig bewegen zu können. Aber meine Zeichen mit dem Kopf und meine Grimassen schien Harst nicht verstehen zu wollen.

Die Nacht brach an. Um zehn Uhr trat die maskierte Frau wiederum ein; nach einer halben Stunde nochmals. Sie prüfte nun unsere Fesseln viel sorgfältiger als bisher. Als sie nun wieder gegangen war und die Laterne mitgenommen hatte, hörte ich nach einer Weile an dem Rascheln des Strohsacks, dass Harst die Haken herausschraubte. Dann nahm er mir den Knebel ab und band mich los.

»Sie hat ein Loch in die Tür gebohrt«, flüsterte er. »Deshalb wagte ich nicht, uns am Tage etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Hast du gemerkt, dass sie misstrauischer uns gegenüber geworden ist? Ich kann mir nur denken, dass Melproves Benehmen ihr aufgefallen sein wird. Er hat fraglos nach unserer Unterredung gestern neue Hoffnung geschöpft und wird nicht mehr so bedrückt sein wie bisher. Jedenfalls haben wir allen Grund, jetzt mit noch größerer Vorsicht zu Werke zu gehen. Ich bin im Laufe des Tages auch auf einen neuen Gedanken gekommen. Mein Plan für Montag sagt mir nicht mehr zu.«

»Ah – ganz wie mir!«, meinte ich lebhaft.

»Ja, der Plan kann zu leicht missglücken. Außerdem – nimm mal Folgendes an. Die Person, die uns bewacht, also die Mutter der Jane, hat hier doch Gelegenheit, alles im Haus auszukundschaften, was ihr irgend wichtig erscheint. Wir wissen ja, wie frech sie hier den Geist spielt, wie geschickt sie die warnenden Uhrkettenglieder Melprove zustellt, wie keck sie dessen Schreibmaschine benutzt und anderes. Wenn sie nun zum Beispiel mit ihren Genossen verabredet hätte, Melprove einen neuen Streich in der Art zu spielen, dass sie versucht, ihm das bereitgehaltene Geld hier schon zu stehlen? Wenn die Bande vielleicht beabsichtigt, Melproves Töchter noch weiter als Erpressungsmittel zu benutzen? Weise diese Möglichkeit nicht ohne Nachprüfung von dir, mein Alter! Wir müssen hier mit allem rechnen. Der geringste Fehler kann Melproves um die beiden Millionen bringen und uns unsterblich blamieren!«

Er schaltete plötzlich seine Lampe ein und ließ den Lichtkegel in die Ecke fallen, wo bisher der große Koffer gestanden hatte. Der Koffer war verschwunden.

»Das deutet auf Flucht – Abreise hin!«, flüsterte Harst. »Wir müssen uns um jeden Preis darüber Gewissheit verschaffen, was die Bande eigentlich vorhat. Ich kann nicht recht daran glauben, dass das Geld wirklich auf See ausgehändigt werden soll. Diese Befehle in dem Brief des Piraten können lediglich eine Falle sein. Zunächst wollen wir in dieser Nacht feststellen, in welcher Weise die Frau hier mit der anderen, der Jane, sich in Verbindung setzt. Dass dies irgendwie geschieht, ist ja sicher. Vielleicht kommt diese Jane heute nächtlicherweile sogar wieder ins Haus. Am besten ist, wir überwachen vom Dach aus das Gebäude und die Umgebung. Also hinauf mit uns.«

Eine halbe Stunde drauf gewahrten wir in einer Baumgruppe, die etwa dreihundert Meter entfernt im Nordwesten vor dem Bungalow jenseits der Straße sich erhob, ein weißes Licht, das in kürzeren und längeren Zwischenräumen auftauchte und wieder verschwand. Dann – wir lagen nun ausgestreckt auf dem Dach und hatten die Fenster der beiden Zimmer der Backerleys gerade unter uns —– sahen wir aus einem dieser Fenster ebenfalls ein Licht aufblitzen und erlöschen, wieder erscheinen und abermals verschwinden. Also Lichtsignale wurden hier ausgetauscht! Offenbar wagten die Verbrecher nicht mehr, persönlich miteinander zu verkehren.

»Vorwärts – hin zu der Baumgruppe!«, meinte Harst, der plötzlich wie ausgewechselt war. Auch mich hatte das Jagdfieber gepackt. Ich ahnte, dass es in dieser Nacht zu irgendeiner Entscheidung kommen würde. Es war dies die Nacht von Sonnabend zu Sonntag. Ich denke gern an sie zurück. Jetzt, wo ich diese Erinnerungen niederschreibe, liegt vor mir eine scheinbar wertlose Nickeluhrkette mit einem Kompass als Anhänger, mit sechs dunkelgrünen flachen Steinen, in die Arabesken in Gold eingraviert sind: Bill Hamiltons Uhrkette, das Andenken an jene Nacht!

Harst war mir stets ein paar Schritt voraus. Sehr bald hatten wir den betreffenden Baum herausgefunden. Es war ein junger Rasamala-Baum mit sehr dichter Krone. Nun konnten wir drüben auch den Bungalow Melproves und das noch immer aufleuchtende Licht sehen. Wir warteten im Schatten einiger Sträucher. Vielleicht zehn Minuten vergingen. Dann kletterte jemand von dem Baum herab. Es war ein großer, starkknochiger Mann, der vom untersten Ast etwas schwerfällig auf den Grasboden sprang. Er schaute sich nur flüchtig um und schlug dann den Weg zum Hafen ein.

Die gepflasterte Straße verlief sehr bald schnurgerade, sodass wir weit zurückbleiben mussten. Wir kamen durch die von Chinesen zumeist bewohnte Hafenvorstadt. Hier rückten wir näher auf, gingen aber einzeln mit 20 Schritt Abstand etwa. Nun passierten wir eine schmutzige, schmale Gasse, in der es noch recht lebhaft war. Es gab hier allerlei verrufene Schenken und Singspielhallen niedriger Sorte. Allerlei abgerissene Melodien drangen an unser Ohr, Gelächter, Gekreische. Betrunkene torkelten vorüber. Eine Schar amerikanischer Seeleute kam Arm in Arm daher, versperrte Harst den Weg, hetzte ihn johlend in einen Hof. Es war einer der verhassten chinesischen Kulis, den man hier aus nationaler Abneigung ein wenig verprügeln wollte.

Als wir uns dann wieder zusammengefunden hatten, war der Europäer verschwunden. Harst kochte vor Grimm. Er geriet so selten in Erregung. Dann eilte er auf einen eingeborenen Polizisten zu, kehrte sofort zu mir zurück.

»Wir haben Glück gehabt. Der Polizist kennt unseren Mann offenbar sehr gut. Er behauptet, es sei ein Kapitän Bill Hamilton, Besitzer eines Schoners, der seit Jahren hier in der Java-See durch Frachtfahrten sein Brot verdient. Ahnst du etwas, mein Alter!«, fügte er triumphierend hinzu. »Dieser Bill Hamilton und …«

Er schwieg plötzlich. Er packte meinen Arm, deutete auf eine verschleierte, große Frau in langem Seidenmantel, die soeben in eine bessere Kneipe gerade vor uns durch das Fenster hineinschaute. »Sie kam von dorther«, flüsterte er. »Also aus der Richtung von Melprove Bungalow. Diese Größe! Ich wette, sie ist es! Sie hat unsere Flucht entdeckt. Los denn, wir riskieren es!«

Was wollte er nur? Was? Mit drei Sätzen war er hinter der Frau. Ich blieb dicht hinter ihm. Er drängte sich an die Verschleierte heran und sagte auf Englisch: »Guten Abend, Mistress Backerley!«

Die Frau prallte zurück.

»Kommen Sie mit!«, befahl Harst kurz. »Gehorchen Sie! Das Spiel ist aus! Schraut, hole den Polizisten.«

Er fasste die Frau rücksichtslos am Handgelenk und zerrte sie hinüber auf die andere Straßenseite. Die Frau war noch immer vor Schreck wie gelähmt. Dann stand der eingeborene Polizist vor Harst. Und dieser schmierige Kuli sagte nun sehr kurz: »Ich bin Harald Harst, ein guter Bekannter des Inspektors Schliepner. Bringen Sie diese Frau sofort zur Wache, telefonieren Sie an Schliepner, er solle sich sofort hier einfinden, und kommen Sie mit zwei Ihrer Kollegen zurück.«

Der Schleier der Frau war so dicht, dass man von den Gesichtszügen nichts erkennen konnte. Sie schien teilnahmslos zu sein – schien! Plötzlich aber versuchte sie sich loszureißen, kreischte gleichzeitig überlaut ein warnendes Bi…

Es hatte das Wort Bill werden sollen, kein Zweifel!

Harst war ihr schon an die Kehle gesprungen. Der Schrei erstickte in einem Röcheln. Die Frau wehrte sich verzweifelt. Wir zogen sie hinter das Holztor eines Hofraums. Der Polizist jagte davon. Bereits nach fünf Minuten kam ein geschlossenes Auto. Die Frau flog hinein. Das Auto fuhr weiter.

Harst postierte die drei Polizisten nun vor der Schenke. Wir traten ein. Sofort stürzte der dicke, holländische Wirt auf uns zu. »Raus, gelbes Gesindel, raus! Hier habt Ihr nichts zu suchen!«

Harst nannte leise seinen Namen – diesen Namen, der durch die Entlarvung des Doktor Drygaarden hier so schnell bekannt geworden. Der Wirt trat zurück.

In einer Ecke war ein vollbesetzter, runder Tisch. Alles daran europäische Seeleute: Kapitäne, Steuerleute, Schiffsingenieure. Auf dem Glanzledersofa in einer Ecke saß ein wahrer Riese mit dunkelgebräuntem, faltigem, bartlosem Gesicht: Bill Hamilton!

Harst ging auf den Tisch zu, sagte sehr laut auf Englisch: »Die Herren gestatten, dass sich mich vorstelle. Ich bin der deutsche Detektiv Harald Harst. Ich habe hier mit Master Hamilton eine kleine Rechnung glatt zu machen.«

Hamilton war hochgeschnellt. Harsts Mehrlader jedoch hielt ihn in Schach. »Bill Hamilton, keine verdächtige Bewegung! Sie haben der Hitze wegen Ihre Jacke abgelegt. Ihre Uhrkette dort ist wohl der Ersatz für die, deren einzelne Glieder Sie Armand Melprove zugehen ließen?! Diese Uhrkettenglieder haben Sie verraten. Bill Hamilton, Sie sind der Pirat, der den Budda-Tempel in Bandjermasin geplündert hat, Sie sind der berüchtigte, vielgesuchte Pirat von Kap Kotaringia!«

Totenstille für Sekunden. Dann von der Tür her Schliepners Stimme: »Im Namen Ihrer Majestät, der Königin von Holland, Sie sind verhaftet, Bill Hamilton!«

Fünf, sechs eingeborene Polizisten stürzten sich auf den Riesen. Der schüttelte sie mit ein paar Fausthieben ab, brüllte: »Ich gehe freiwillig mit! Da, Inspektor, legt mir nur Handschellen an! Es war mein Pech, dass ich diese Zwei-Millionen-Sache gerade eingeleitet hatte, als einer hier auftauchte, der mehr Hirn im Schädel hat als alle holländischen Polizisten zusammengenommen!«

Ein furchtbarer Lärm erhob sich. Die Gäste deuteten diese Worte richtig – als Zugeständnis Hamiltons, dass er der Pirat von Kotaringia sei. Die ganze Wut der Seeleute gegen diesen Piraten, der ein Jahr lang der Schrecken der Java-See gewesen, kam nun zum Ausbruch. Nur mit Mühe konnte Hamilton ins Freie und in das Polizeiauto gebracht werden.

Schliepner, wir beide und acht Beamte eilten dann zum nahen Hafen, wo Hamiltons Schoner lag. In einem Verschlag im Vorschiff fanden wir Melproves Töchter, fanden in der Kajüte die sportgeübte Gesellschaftsdame, die angebliche Jane Backerley, wie sich dann herausstellte Jane Hamilton, des Piraten Tochter, während deren Mutter Hamiltons zweites Kind, die ältere Tochter Ellen war, die tatsächlich an einem bösen Gesichtsausschlag litt.

Der Schoner hatte nur Malaien als Besatzung, insgesamt zehn Mann. Die gerichtliche Untersuchung ergab, dass dies dieselben Leute waren, die schon vor zwei Jahren dem Piraten von Kotaringia gedient und mit ihm ungezählte Morde verübt hatten. Weiter aber wurde auch noch ermittelt, dass Ellen und Jane Hamilton bereits damals die Raubzüge ihres Vaters als Malaien verkleidet mitgemacht hatten und dass Harsts Annahme, Ellen hätte die bereitgehaltenen zwei Millionen Melprove stehlen sollen, richtig gewesen war.

Die Entlarvung Bill Hamiltons erregte ungeheures Aufsehen. Damals erhielt Harst seinen ersten Orden – einen holländischen. Für mich fiel als Andenken Hamiltons Uhrkette dabei ab und eine kostbare Brillantnadel, die Melprove mir schenkte.