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Das Gespensterbuch – Siebente Geschichte – Teil 1

Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913

Die Spinne
Von Hanns Heinz Ewers

1. Teil

Als der Student der Medizin Richard Bracquemont sich entschloss, das Zimmer Nr. 7 des kleinen Hotels Stevens, Rue Alfred Stevens 6, zu beziehen, hatten sich in diesem Raum an drei aufeinanderfolgenden Freitagen drei Personen am Fensterkreuz erhängt.

Der Erste war ein Schweizer Handlungsreisender. Man fand seine Leiche erst am Samstagabend. Der Arzt stellte fest, dass der Tod zwischen fünf und sechs Uhr Freitag nachmittags eingetreten sein müsse. Die Leiche hing an einem starken Haken, der in das Fensterkreuz eingeschlagen war und zum Aufhängen von Kleidungsstücken diente. Das Fenster war geschlossen, der Bote hatte als Strick die Gardinenschnur benutzt. Da das Fenster sehr niedrig war, lagen die Beine fast bis zu den Knien auf dem Boden. Der Selbstmörder musste also eine starke Energie in der Ausführung seiner Absicht betätigt haben. Es wurde weiter festgestellt, dass er verheiratet und Vater von vier Kindern war, sich in durchaus gesicherter und auskömmlicher Lebensstellung befand und von heiterem, fast stets vergnügtem Charakter war. Irgendetwas Schriftliches, das auf den Selbstmord Bezug hatte, fand man nicht vor, ebenso wenig ein Testament. Auch hatte er keinem seiner Bekannten gegenüber jemals eine dahingehende Äußerung getan.

Nicht viel anders lag der zweite Fall. Der Artist Karl Krause, als Fahrradverwandlungskünstler in dem ganz nahe gelegenen Cirque Médrano engagiert, bezog das Zimmer Nr. 7 zwei Tage später. Als er am nächsten Freitag nicht zur Vorstellung erschien, schickte der Direktor den Theaterdiener in das Hotel. Dieser fand den Künstler in dem nicht verschlossenen Zimmer am Zensierkreuz erhängt vor, und zwar unter den durchaus gleichen Umständen. Dieser Selbstmord schien nicht weniger rätselhaft; der beliebte Artist bezog recht hohe Gagen und pflegte, ein 25-jähriger junger Mann, sein Leben in vollen Zügen zu genießen. Auch hier nichts Schriftliches, keinerlei verfängliche Äußerungen. Die einzige Hinterbliebene war eine alte Mutter, der ihr Sohn pünktlich an jedem Ersten zweihundert Mark für ihren Lehensunterhalt zu schicken pflegte.

Für Frau Dubonnet, die Besitzerin des billigen kleinen Hotels, dessen Kundschaft sich fast nur aus den Mitgliedern der nahegelegenen Montmartrevarietés zusammenzusetzen pflegte, war dieser zweite seltsame Todesfall in demselben Zimmer von sehr unangenehmen Folgen. Schon waren einige ihrer Gäste ausgezogen, andere regelmäßige Klienten nicht wiedergekommen. Sie wandte sich an den ihr persönlich befreundeten Kommissar des neunten Bezirkes, der ihr zusagte, alles für sie zu tun, was in seinen Kräften liege. So betrieb er denn nicht nur die Nachforschungen nach irgendwelchen Gründen für die Selbstmorde der beiden Hotelgäste mit besonderem Eifer, er stellte ihr auch einen Beamten zur Verfügung, der das geheimnisvolle Zimmer bezog.

Es war dies der Schutzmann Charles-Maria Chaumié, der sich freiwillig hierzu erboten hatte. Ein alter Marsouin, Marineinfanterist mit elfjähriger Dienstzeit, hatte dieser Sergeant in Tonkin und Annam so manche Nacht einsam auf Kosten gelegen, so manchen unangemeldeten Besuch katzenschleichender gelber Flusspiraten mit einem erfrischenden Schuss aus der Lebel-Büchse begrüßt, dass er wohl geeignet erschien, den Gespenstern, von denen sich die Rue Alfred Stevens erzählte, zu begegnen. Er bezog also bereits am Sonntagabend das Zimmer und legte sich befriedigt schlafen, nachdem er den Speisen und Getränken der würdigen Frau Dubonnet reichlich zugesprochen hatte.

Jeden Morgen und Abend machte Chaumié dem Polizeirevier einen kurzen Besuch, um Bericht zu erstatten. Diese beschränkten sich in den ersten Tagen darauf, dass er erklärte, auch nicht das Allergeringste bemerkt zu haben. Dagegen sagte er am Mittwochabend, er glaube, eine Spur gefunden zu haben. Gedrängt, mehr zu sagen, bat er, einstweilen schweigen zu dürfen; er habe keine Ahnung, ob das, was er glaube entdeckt zu haben, wirklich mit dem Tod der beiden Leute in irgendeinem Zusammenhang stehe. Und er fürchte sehr, sich zu blamieren und dann ausgelacht zu werden. Am Donnerstag war sein Auftreten ein wenig unsicherer, auch ernster; doch hatte er wieder nichts zu berichten. Am Freitagmorgen war er ziemlich aufgeregt. Er meinte, halb lachend, halb ernst, dass dieses Fenster jedenfalls eine seltsame Anziehungskraft habe. Jedoch blieb er dabei, dass das mit dem Selbstmord in gar keiner Beziehung stehe und dass man ihn nur auslachen würde, wenn er mehr sage. An dem Abend dieses Tages kam er nicht mehr ins Polizeirevier. Man fand ihn an dem Haken des Fensterkreuzes aufgehängt.

Auch hier waren die Indizien bis auf die kleinste Einzelheit dieselben wie in den anderen Fällen. Die Beine baumelten auf den Fußboden, als Strick war die Gardinenschnur benutzt. Das Fenster war zu, die Tür nicht verschlossen. Der Tod war in der sechsten Nachmittagsstunde eingetreten. Der Mund des Toten war weit offen und die Zunge hing heraus.

Dieser dritte Tod im Zimmer Nr. 7 hatte zur Folge, dass noch am selben Tag sämtliche Gäste aus dem Hotel Stevens auszogen, mit Ausnahme eines deutschen Gymnasialprofessors auf Nr. 16, der aber die Gelegenheit benutzte, den Mietpreis um ein Drittel zu kürzen. Es war ein geringer Trost für Frau Dubonnet, als am anderen Tag Mary Garden, der Star der Opéra-Comique in ihrem Renault vorfuhr und ihr die rote Gardinenschnur um zweihundert Franken abhandelte. Einmal weil das Glück brachte und dann – weil es in die Zeitungen kam.

Wenn diese Geschichte im Sommer passiert wäre, so im Juli oder August, so würde Frau Dubonnet wohl das Dreifache für ihre Schnur erzielt haben. Die Blätter hätten dann gewiss wochenlang ihre Spalten mit diesem Stoff gefüllt. So aber, mitten in der Saison, Wahlen, Marokko, Persien, Bankkrach in New York, nicht weniger als drei politische Affären – wirklich, man wusste kaum, wo man den Platz hernehmen sollte. Die Folge war, dass die Affäre der Rue Alfred Stevens eigentlich weniger besprochen wurde, wie sie es wohl verdiente und weiter, dass die Berichte, knapp und kurz, meist sachlich den Polizeibericht wiedergaben und sich von Übertreibungen ziemlich freihielten.

Diese Berichte waren das Einzige, was der Student der Medizin Richard Bracquemont von der Angelegenheit wusste. Eine weitere kleine Tatsache kannte er nicht. Sie schien so unwesentlich, dass weder der Kommissar noch irgendein anderer der Augenzeugen sie den Reportern gegenüber erwähnt hatten. Erst später, nach dem Abenteuer des Mediziners, erinnerte man sich wieder daran. Als nämlich die Polizisten die Leiche des Sergeanten Charles-Maria Chaumié von dem Fensterkreuz abnahmen, kroch aus dem offenen Mund des Toten eine große schwarze Spinne heraus. Der Hausknecht schnipste sie mit dem Finger fort. Dabei rief er: »Pfui Teufel, wieder so ein Biest!«

Im Verlaufe der weiteren Untersuchung – der, die auf Bracquemont Bezug hatte – sagte er dann aus, dass er, als man die Leiche des Schweizer Handlungsreisenden abgenommen habe, auf seiner Schulter eine ganz ähnliche Spinne habe laufen sehen. Aber hiervon wusste Richard Bracquemont nichts.

Er bezog das Zimmer erst zwei Wochen nach dem letzten Selbstmord, an einem Sonntag. Was er dort erlebte, hat er täglich gewissenhaft in einem Tagebuch vermerkt.

Fortsetzung folgt …