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Der Detektiv – Band 27 – Die Uhrkette des Bill Hamilton – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 27
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Uhrkette des Bill Hamilton

Teil 4

Die Laterne hatte der Maskierte auf dem Koffer zurückgelassen. Nur flüchtig hatte er, bevor er ging, unsere Fesseln besichtigt. Nichts war ihm an denen Harsts aufgefallen.

Nun hatten wir Licht, nun konnten wir uns sehen, nun konnten wir beobachten, wie die beiden Schlangen sich unermüdlich anstrengten, aus der Schlinge, die sie festhielt, herauszukommen. Aber diese Schlingen waren so fest zugezogen, dass selbst der glatte Leib der Reptile sich nicht herauswinden konnte.

Die Pendel schwangen hin und her. Und Harst lächelte und nickte mir aufmunternd zu. Ich bemerkte, wie seine rechte Hand den Haken oben umspannte. Er drehte ihn – drehte, bis seine Hand samt dem Haken sich hob. Gleich darauf hatte er auch die Linke frei. Er nahm das Tuch, das er bisher über dem Kopf gehabt hatte und das nun auf den Dielen lag, und ließ die Schlange hineinbeißen, reizte sie absichtlich, dass sie immer wieder nach dem Tuchschnappte.

Ich erkannte sofort, was er beabsichtigte: Das Reptil sollte beim Beißen den Inhalt seiner Giftdrüsen in den Stoff entleeren! Es ist dies ein bekannter Trick indischer Schlangenbeschwörer, die vor der Vorstellung ihre Schlangen auf diese Weise so gut wie unschädlich machen.

Harst packte nun plötzlich zu, indem er gleichzeitig dem kleinen Reptil das Tuch hinhielt, bekam die Schlange auch dicht hinter dem Kopf in die Hand, hielt sie fest, richtete sich vollends auf und fasste nun mit der Linken in die Tasche.

Merkwürdig genug: Man hatte uns die Taschen nicht ausgeleert! Wir besaßen noch alles, was wir zu uns gesteckt hatten, nachdem unsere Maskerade als chinesische Kulis fertig gewesen war.

Harst nahm sein Taschenmesser, öffnete mit den Zähnen die kleine Klinge, schob sie dem Reptil zwischen die Kiefer, öffnete gewaltsam das Maul und zog mit einem Ruck die Klinge nach vorn.

Bekanntlich sind die beiden Giftzähne der Schlangen beweglich und können (sie befinden sich stets im Oberkiefer) zumeist nach innen umgelegt werden. Nur wenn das Tier gereizt ist und beißen will, schnellen die Zähne nach vorn und stehen dann sichelartig nach hinten, nach dem Schlund zu gerichtet.

Harst schob nun die Klinge abermals zwischen die Kiefer, öffnete das Maul und schaute aus nächster Nähe nach, ob er die Giftzähne umgebrochen hätte. Er wiederholte dann das ruckartige Herausziehen der Klinge, deutete nun auf den Kopf der Schlange und nickte mir zu.

Er gab das Reptil frei. Ich war überzeugt: Er hatte nun die winzigen Giftzähne wirklich entfernt.

Nun kam mein Pendel an die Reihe. Es dauerte nur kurze Zeit, dann brauchte ich es nicht mehr zu fürchten. Harst hatte die vier weißen, haarscharfen Zähnchen aufgelesen, zeigte sie mir in der flachen Hand und warf sie dann in eine Ecke der Kammer. Er legte sich darauf wieder auf seinen Strohsack, brachte seine Fesselung in Ordnung, streckte sich bequem aus und atmete sehr bald tief und ruhig. Er schlief. Und auch ich schlummerte ein. Mochte das Reptil nun auch mein Gesicht erreichen! Es war ungefährlich.

Ich will das Folgende nur kurz streifen. Unser Wächter fütterte uns am Nachmittag mit Brot und gab uns auch zu trinken, nachdem wir durch Kopfnicken versprochen hatten, nicht um Hilfe zu rufen. Der Mann sprach dabei nur das Nötigste. Gegen elf Uhr abends – wir hörten unten im Haus deutlich eine Uhr schlagen – prüfte er unsere Fesseln, hing die Schlangenpendel etwas höher und verließ uns wieder. Ich glaubte, Harst würde nun sofort uns freimachen. Aber er rührte sich nicht. Der Mann hatte die Laterne mitgenommen. Wir lagen also wieder im Dunkeln.

Kurz nach halb zwölf erschien unser Wächter plötzlich abermals. Harst stellte sich schlafend. Der Mann besichtigte unsere Fesseln und ging. Er mochte wohl gedacht haben, dass, wenn wir überhaupt an Flucht dachten, wir nun versucht haben würden, unsere Fesseln zu lockern.

Wieder waren wir allein; wieder verstrich eine halbe Stunde. Dann begann Harsts Strohsack zu rascheln; dann war ich frei.

Der Lichtkegel meiner Taschenlaterne leuchtete Harst, als dieser nun das mit Pappe übernagelte und mit einem dicken Vorhang verdeckte Kammerfenster zu öffnen versuchte. Es gelang nicht. Wir hätten eine der Scheiben eindrücken müssen. Und das durften wir nicht tun. Es hätte sich auch kaum geräuschlos bewerkstelligen lassen.

Wir trugen als chinesische Kulis nun nur Bastsandalen auf den nackten, schmutzigen Füßen. Die Dielen der Kammer knarrten nicht. Wir konnten uns also lautlos und ungehindert bewegen.

»Wir müssen hinaus!«, flüsterte Harst. Er begann die Holzwände zu untersuchen. Dann: »Leuchte mal das Dach ab!«

Ich tat es. Wir hätten viel Zeit gespart, wenn wir gleich an eine Dachluke gedacht hätten. Harst kletterte auf meine Schultern. Das Dach fiel wie in einer Mansarde schräg ab. Er reichte bequem bis zu der Luke hinauf. Der Lukendeckel war nur von innen festgehakt.

Nachdem Harst sich glücklich oben befand, stellte ich den Koffer unter die Luke, stieg hinauf und wurde dann von Harst emporgezogen. Als ich den Koffer zurechtgerückt hatte, war mir ein Messingschildchen auf dem Deckel aufgefallen, mit dem eingravierten Namen: Jane Backerley.

Also die Gesellschafterin der beiden Töchter Melproves oder deren Mutter, dachte ich.

Vom Dach hinabzugelangen, war weiter nicht schwer. Wir kletterten an einer Regenrinne hinunter, schlichen nun zunächst einmal um das Haus, fanden nur noch im Erdgeschoss zwei Fenster erleuchtet und im Wirtschaftsanbau ein einzelnes, hinter dem wir einen älteren Javaner schreibend an einem Tisch bemerkten.

»Sicher der Hausmeister«, flüsterte Harst.

Wir kauerten dicht unter dem Fenster, wollten nun vorn auf die Veranda und durch die beiden anderen erleuchteten Fenster in das betreffende Zimmer hineinlugen, das, wie Harst mir erklärt hatte, nach van Diemens Gebäudeskizze die Bibliothek Melproves war.

Der Himmel war klar. Der Mond stand so, dass der Giebel des Hauptgebäude uns im Schatten ließ. Links von uns begann der Park mit einer weiten Rasenfläche. Mitten darin erhob sich ein Marmorspringbrunnen.

Wir wollten also gerade wieder nach vorn schleichen, als Harst mir zuraunte: »Achtung!«

Ich hörte nun schnelle Schritte von rechts von der Hintertür des Bungalows her. Auch dort war tiefer Schatten, sodass ich zunächst nur etwas Langes, Hellschimmerndes erkannte.

Harst presste meinen Arm.

Dicht an uns vorbei schritt eine weiße Gestalt, ein Mensch, der sich völlig in weiße Tücher eingewickelt hatte. Nicht genug damit: Dieser Geist hatte als Kopf einen echten Totenschädel! Als er aus dem Schatten in das Mondlicht trat, leuchtete der Schädel wie poliert.

Die Gestalt strebte dem Springbrunnen zu, verschwand hinter einer Gebüschgruppe.

Harst lachte leise in sich hinein.

»Begreifst du, mein Alter?«, flüsterte er. »Dieses Gespenst spricht für Melproves Schuldlosigkeit – trotz der Bemerkung unseres Wächters!«

Nun – ich begriff nichts! Ich schwieg.

»Die Javaner sind ungeheuer abergläubisch«, meinte Harst. »Gib acht, der Geist wird sehr bald zurückkehren. Er macht nur die übliche Schreckpromenade.«

Da ging mir ein Licht auf.

»Also deshalb konnten die Verbrecher sich so sicher fühlen«, erklärte ich leise. »Die Diener trauen sich nachts nicht ins Freie, weil …«

Das Gespenst erschien wieder, Harst zog mich schnell hinter einen Stapel Kisten, der ein paar Schritte weiter an der Wand des Wirtschaftsanbaus lehnte. Zum Glück hatte Harst daran gedacht, dass der Geist bei dem alten Javaner vielleicht sich melden würde. Es geschah auch. Der Mensch mit dem Totenschädel pochte an das Fenster. Wir hörten einen leisen Schrei. Dann eilte der weiß Vermummte der Hintertür zu.

»Unser Wärter!«, sagte Harst mit besonderer Betonung. »Wenn er jetzt unsere Zelle betritt, wird mein schöner Plan zu Wasser. Sehen wir zu, dass wir dieser Gefahr begegnen. Schnell aufs Dach, hinein in die Kammer!«

Wir lagen dann kaum eine Minute wieder auf unseren Strohsäcken, als unser Wächter tatsächlich die Tür öffnete und uns mit der Laterne anleuchtete. Er fand jedoch nichts Verdächtiges und schloss die Tür wieder.

Nach zehn Minuten standen wir auf der Veranda vor den Fenstern des Bibliothekzimmers. Die Vorhänge waren dicht zugezogen. Wir sahen jedoch darauf den Schatten Melproves immer wieder auftauchen und verschwinden. Er wanderte rastlos auf und ab, die Hände auf dem Rücken, so recht wie einer, den schwere Sorgen ruhelos machen.

Harst pochte an die Scheibe – ganz vorsichtig. Dann wurde dieser Vorhang zurückgeschlagen. Harst hatte den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Melprove musste uns sofort erkannt haben, denn er ließ den Vorhang zurückfallen, schaltete das Licht aus und öffnete dann erst das Fenster. Wir stiegen ins Zimmer, blieben im Dunkeln am Fenster stehen.

»Wo kommen Sie her?«, flüsterte Melprove keuchend.

»Mein Gott, wie freue ich mich, dass ich Sie beide lebend vor mir habe! Ich bin jetzt völlig von Sinnen vor Angst und all den Gedanken.«

»Wir haben nicht viel Zeit,« erwiderte Harst schnell. »Hören Sie genau zu, Melprove. Doch erst noch eine Frage: Weiß jemand, was gestern Nacht geschehen ist? Haben Sie etwa Schliepner oder van Diemen ins Vertrauen gezogen?«

»Oh – ich wollte es! Aber wie durfte ich es wagen! Man hat mich nur vom Bett wieder losgebunden, nachdem ich geschworen hatte, zu schweigen und zu gehorchen! Man hat mir diesen Schwur erpresst und gleichzeitig gedroht, ich würde Ihr beider Schicksal teilen, falls ich irgendwie an Verrat dächte. Ich hielt Sie für tot – tatsächlich! Oder doch jedenfalls für verloren. Als ich aus dem Klub heimkehrte, als ich kaum in meinem Schlafzimmer war, wurde ich zu Boden geschlagen …«

»Mit einem Sandsack, wie ich, als ich den Fensterriegel öffnen wollte«, warf Harst ein.