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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 5 – 1. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 5
Die Menschenfalle im alten Haus
1. Kapitel

Die Menschenfalle im alten Haus

»Helfen Sie mir, Mr. Sherlock Holmes, ich weiß mir keinen Rat mehr. Meine ganze Hoffnung, das Rätsel zu lösen, sind Sie.«

Mit diesen Worten stürzte ein stattlicher junger Mann in das eigenartig eingerichtete Junggesellenzimmer des berühmten Detektivs, welcher eben tief über einige Retorten und Gläser gebeugt, mit Aufmerksamkeit eine weißlich-graue, schäumende Flüssigkeit beobachtete.

»Einen Augenblick, mein Herr«, entgegnete Sherlock Holmes mit seiner gewöhnlichen Ruhe, während seine Blicke über die Gestalt seines Besuchers schweiften. »Sie sind sehr erregt, nehmen Sie Platz und zünden Sie sich eine Zigarette an, damit Sie wieder etwas beruhigt werden. Nicht wahr, Sie kommen von Southend, haben die Hochbahn, dann ein Cab benutzt. Den letzten Teil des Weges sind Sie zu Fuß gelaufen, unterwegs genossen Sie in einer Bar hastig ein Frühstück.«

Der junge Mann, der atemlos in einen Sessel gesunken war, starrte auf den berühmten Privatdetektiv, als wäre derselbe ein Wundermann. Sherlock Holmes aber hatte sich wieder über seine Gläser und Retorten gebeugt, um die schäumende Flüssigkeit nochmals aufmerksam zu prüfen.

»Mein Gott, woher wissen Sie denn das alles?«, rief der Besucher, aufs Höchste überrascht. »Sind Sie denn mit mir zusammen gefahren? Oder können Sie Gedanken lesen?«

»Keines von beiden«, antwortete Sherlock Holmes mit Seelenruhe, »das Ticket der Hochbahn sieht ja aus Ihrer Billetttasche hervor, auch tragen Sie an Ihren Beinkleidern noch deutlich die Spuren jener abscheulichen Decken, mit denen jetzt die Kutscher der öffentlichen Mietwagen ihre Fuhrwerke ausstatten. Diese Fasern widerstehen selbst dem verzweifelten Bürsten, und dass Sie in einer Bar ein ganz flüchtiges Frühstück genossen, sehe ich an Ihrem Schnurrbart:  Sie haben sich keine Zeit gelassen, den Rest des Bierschaums und des genossenen Brötchens abzuwischen.«

»Stimmt, stimmt«, rief der junge Mann, »aber woher wissen Sie, dass ich von Southend komme?«

»Dort wird momentan alles kanalisiert«, erwiderte Sherlock Holmes gelassen. ,»Die Straßen befinden sich in ziemlich aufgeweichtem Zustand, und der rötlich gelbe Lehm, der noch an Ihrer Stiefelsohle klebt, ist in Southend zu finden. Doch genug. Womit kann ich dienen? Als Sie vorhin hereinstürzten, schien es ja fast, als ob Ihnen ein Mörder auf den Fersen sei. Also, erzählen Sie mir, mein Herr, was ist geschehen?«

Der junge Mann griff in die Tasche und zog vorsichtig ein Päckchen hervor. Es sah aus wie ein schwarzer Umschlag von Wachstuch, und auf demselben waren mit roter Farbe einige absonderliche Zeichen gemalt.

»Der Polizeiinspektor Philipps sagte mir, dass Sie längere Zeit in Indien gewesen wären«, begann er, tief Atem holend, »deshalb wies er mich hierher, da er meinte, Sie wären imstande, die Bedeutung dieser geheimen Zeichen zu enträtseln. Mein Name ist Henry Donelson und ich bin der Sohn des …«

»Major vom 11. Lancier-Regiment zu Bombay«, unterbrach ihn Sherlock Holmes auf der Stelle. »Ganz recht. Er ist vor kurzer Zeit gestorben.«

Der junge Mann schaute den Sprechenden voller Überraschung sprachlos an. Sherlock Holmes schien das gar nicht zu bemerken, er nahm den dargereichten Wachstuchumschlag entgegen und öffnete denselben. Er enthielt ein kleines, weißes Stäbchen mit verschiedenen parallel eingeschnittenen Kerben, ein winziges Täfelchen von einer schieferartigen Masse, mit eingekritzelten weißen Zeichen und einen roh aus einem Stückchen Bronze geformten winzigen Totenkopf.

»Das habe ich heute Morgen erhalten«, sprach der junge Mann, »zugleich mit diesem Brief hier.«

»O, o, die Sache ist sehr ernst«, meinte Sherlock Holmes, indem er die Stirn in Falten zog, »ernster, als ich dachte. Geben Sie mir doch den Brief mal her.«

»Ich habe ihn bei der Polizei gelassen«, erwiderte Henry Donelson, »aber hier ist die Abschrift, welche nur wenige Worte enthält. Da, hier steht es. Der Diamant gehört nicht Ihnen, sondern unserer Vereinigung. Sie müssen denselben unter allen Umständen zurückgeben, wenn Ihre Weigerung nicht schlimme Folgen haben soll.«

Unter diesem Zettel standen wieder einige sonderbare Zeichen.

»Ich würde mich ja wegen dieses Briefes, welcher mir gleichzeitig mit dem Wachstuchpäckchen übergeben wurde, gar nicht beunruhigen«, fuhr der junge Mann schweratmend fort, »jedoch sagte mir ein alter Herr vom britischen Museum, der in unserem Haus wohnt, und welchem ich das Päckchen zeigte, dass dieses eine gefährliche Drohung enthalte. Er ist aber nicht genug in die Mysterien geheimer Verbindungen eingeweiht, um die Sache richtig deuten zu können. Deshalb riet er mir im ernstesten Ton, auf der Stelle zur Polizei zu gehen, da möglicherweise mein Leben in Gefahr sei. Und als ich seinem Rat erschreckt nachkam, sagte mir Polizeiinspektor Philipps, dass er die Ansicht des alten Herrn teile und die größte Eile notwendig wäre, um eine Katastrophe zu vermeiden. Er selbst konnte nicht im Geringsten helfen und wies mich an Sie. Als ich nun auf dem Weg hierher die Hochbahn verließ und mir durch das Gedränge der Aussteigenden einen Weg bahnte, hörte ich dicht an meinem Ohr

eine fremdartig klingende Stimme, welche mir zuraunte: ›Denken Sie an den Diamant! Befolgen Sie die Mahnung nicht, so ist Ihr Lebensfaden abgeschnitten.‹ Natürlich wandte ich mich sofort um, sah aber keinen Menschen neben mir, von dem ich vermuten konnte, dass er diese Worte gesprochen hätte. Es schienen alles Arbeiter und Kaufleute zu sein, und niemand schien mich genau zu beachten. Da packte mich ein Grauen, zumal bereits etwas eingetreten ist, was ich mir noch immer nicht erklären kann, und auch da vermute ich etwas Unheimliches, obwohl die Polizei mit einem einfachen Diebstahl rechnet.«

»Halt!«, unterbrach ihn Sherlock Holmes, »Sie brauchen mir nichts weiter zu erzählen. Was Sie meinen, ist mir bekannt, da ich den betreffenden Fall in der Zeitung las. Ja, ich muss gestehen, dass ich schon drauf und dran war, mich auf eigene Faust mit dieser mysteriösen Sache zu beschäftigen. Ihr Vater hat – so kombiniere ich – von seinem Aufenthalt in Indien außer einigem Bargeld nichts mitgebracht als zwei ungewöhnlich wertvolle Diamanten, die er durch irgendeinen Zufall für eine geringe Summe erworben hat. Diese beiden Diamanten, welche ehedem die Krone eines indischen Fürsten schmückten und natürlich ein großes Vermögen repräsentierten, hat der Major Ihnen und Ihrer Schwester hinterlassen. Sie waren bereits im Begriff, um einen Hausstand zu gründen und sorglos leben zu können, einen der Diamanten zu verkaufen. Da Sie aber über seinen Wert widersprechende Urteile hörten, so folgten Sie dem Anerbieten Ihres Vetters, Archibald Donelson, der Ihnen sagte, er wüsste jemand, der den Diamanten auf seinen wirklichen Wert hin zu taxieren verstände. Sie vertrauten den wertvollen Stein ohne Weiteres dem Vetter an, und Mr. Archibald Donelson ging mit dem Diamant in der Tasche fort, ohne sich bisher wieder bei Ihnen sehen zu lassen. Nach längerem Zögern und mit schwerem Herzen haben Sie den Vorfall der Polizei mitgeteilt und diese hat einen Steckbrief nach allen Richtungen der Windrose, ja, sogar nach der Neuen Welt, gesandt, in der Überzeugung, dass Mr. Donelson mit dem Diamanten das Weite gesucht hatte, um den Erlös für sich selbst zu verwenden.«

»Ja, ja, so ist es«, erwiderte Henry Donelson, »das stand ja zu meinem größten Leidwesen in allen Tageszeitungen. Jeder sagt mir, Archibald wäre ein Spitzbube, ein Betrüger. Das kann ich aber nicht glauben. Nein, wenn ich ihn so vor mir sehe, mit seinem treuherzigen Gesicht, dann ist es mir immer, als müsste ich mir zurufen: Archibald hat nicht schmachvoll an dir gehandelt.«

»Sehen Sie«, erwiderte Sherlock Holmes, nun sichtlich interessiert, »es ist mir lieb, dass ich diese Ansicht aus Ihrem eigenen Munde höre. Ich hatte nämlich, weil mich die Sache hier«, er deutete auf die Gläser und

Retorten – »gerade beschäftigte, keine Zeit, mich über die Eigenschaften und die näheren Verhältnisse Ihres Vetters zu orientieren. Sie halten ihn also für einen Ehrenmann, Mr. Donelson?«

»Ja, wahrhaftig«, entgegnete der Besucher, »sonst hätte ich ihm sicherlich den kostbaren Stein nicht anvertraut. Archibald ging bei mir ein und aus und es bestand zwischen uns das herzlichste Verhältnis, welches man sich nur denken kann. Auch meine Schwester Elise schätzte ihn sehr hoch. Er hat auch alles, was er besaß, bei seiner Entfernung zurückgelassen. Freilich meinen meine Bekannten hohnlachend, das käme hierbei nicht in Betracht, wo es sich um ein so bedeutendes Vermögen handelt, wie es der Diamant repräsentiert, und sie nennen Archibald, wenn sie seiner gedenken, einen elenden Dieb.«

»Mein lieber Herr Donelson«, erwiderte Sherlock Holmes, »Menschen sind manchmal unberechenbar, und ich muss Ihnen gestehen, dass ich beim Lesen der Zeitungsnotizen selbst befürchtete, Mr. Archibald Donelson hätte sich durch den Teufel der Habsucht verführen lassen. Seitdem ich aber diese Dinge hier«, er deutete auf den Inhalt des Wachstuchpäckchens, »gesehen habe, bin ich anderer Meinung geworden. Und ich sage jetzt aus voller Überzeugung, dass Ihr Vetter Archibald Donelson den Stein in der Absicht mitnahm, denselben schätzen zu lassen, und dass er daran durch einen besonderen Umstand verhindert wurde.«

»Durch welchen?«, fragte Henry Donelson in atemloser Spannung.

»Durch seinen Tod«, erwiderte Sherlock Holmes mit kalter Ruhe. »Und ich füge noch hinzu, dass dieser Tod kein zufälliger war, sondern durch Gewalt herbeigeführt wurde. Mit einem Wort: Ihr Vetter Archibald Donelson ist ermordet worden!«

Der junge Mann wurde leichenblass, als der berühmte Detektiv diese schrecklichen Worte sprach.

»Ja, ermordet«, fuhr Sherlock Holmes fort, »und zwar einzig und allein um des Diamanten willen. Es scheint, dass Ihr Herr Vater in Indien diese Diamanten unter Umständen erwarb, welche noch der Aufklärung bedürfen. Genug, es sind Personen vorhanden, und aller Wahrscheinlichkeit nach in London wohnhaft, welche ebenfalls auf den Besitz dieser Steine Anspruch erheben. Diese Leute streben auch nach dem Besitz des zweiten Steines, den Ihre Schwester erhielt. Hier, diese Zuschrift – denn so muss ich den Inhalt des Päckchens bezeichnen – erkläre ich folgendermaßen: Auf dem Stäbchen befinden sich sieben Kerben, und jede Kerbe bedeutet einen Tag. Man lässt Ihnen also sieben Tage Zeit als eine Art Galgenfrist. Die Zeichen auf dem Täfelchen muss ich noch näher untersuchen, deshalb bitte ich, mir dasselbe hierzulassen.«

»Und das Totenköpfchen aus Bronze?«, fragte Donelson, während ihm förmlich der Atem stockte.

»Bedeutet, dass Sie das Schicksal Ihres Vetters teilen werden, falls Sie den Stein nicht herausgeben«, erwiderte Sherlock Holmes. »Jene Unbekannten schrecken vor keinem Gewaltmittel zurück, um sich in den Besitz der beiden Steine zu setzen.«

»Und Sie glauben wirklich, dass Archibald ermordet worden ist?«, fragte Donelson.

»Ganz gewiss«, entgegnete der Detektiv. »Daran zweifle ich keinen Augenblick mehr, nachdem ich diese geheimnisvollen Zeichen hier gesehen habe. Es gibt in Indien sehr viele geheime Verbindungen, und jedenfalls ist Ihr Vater Mitglied einer solchen gewesen. Doch das tut jetzt nichts zur Sache. Genug, der eine Diamant befindet sich höchstwahrscheinlich in den Händen von Schurken, und diese begehren jetzt auch noch den zweiten Stein, welcher Ihrer Schwester gehört. Die Elenden vermuten wahrscheinlich, dass die junge Dame das Kleinod hergeben würde, wenn sie hört, dass ihr Bruder um des Steines willen in Lebensgefahr schwebt. Oder sollten Sie mit Ihrer Schwester nicht auf besonders gutem Fuß stehen?«

»Im Gegenteil«, erwiderte Donelson lebhaft, »Elise liebt mich zärtlich, zumal sie nach Archibalds Verschwinden außer mir fast gar keinen Verwandten mehr besitzt. Sie ist zwar kränklich und nicht imstande, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, dennoch bin ich fest überzeugt, dass sie mit tausend Freuden das kostbare Juwel hergeben würde, um mein Leben zu retten.«

»Selbstverständlich darf das auf keinen Fall geschehen«, sprach Sherlock Holmes. »Die Sache regt mich im höchsten Grade an, und ich bin entschlossen, Mr. Donelson, Ihr und Ihrer Schwester Interesse nach besten Kräften wahrzunehmen. Sprechen Sie jetzt nichts von Belohnung oder Entschädigung«, schnitt der Detektiv Donelson das Wort ab, als dieser ihn unterbrechen wollte. »Sie wissen vielleicht nicht, dass ich die Fälle, die mich interessieren, meist aus Liebhaberei und nicht im Hinblick auf persönlichen Gewinn verfolge. Also lassen wir das jetzt ganz aus dem Spiel. Sie stehen von jetzt an unter meiner Bewachung, welche sich später auch auf Ihre Schwester ausdehnen wird, sobald ich es für nötig halte. Vorläufig aber sind Sie der allein Gefährdete.«

»Der Gedanke, jeden Augenblick von dem Stahl eines Mörders getroffen werden zu können, ist ja entsetzlich«, rief Donelson, indem er aufsprang und, die Hände an den Kopf pressend, im Zimmer auf und ab ging. »Da möchte ich fast wünschen, mein Vater wäre bettelarm aus Indien heimgekehrt. Ich bin jung und kräftig, ich kann mich ernähren und auch meine Schwester, wenn es zum Äußersten kommt. Hätten wir die Steine doch nie gesehen!«

»Letzteres würde die Sache auch nicht um vieles ändern«, erwiderte Sherlock Holmes. »Nach meiner Überzeugung ist es nicht allein der Besitz der kostbaren Steine, welcher Ihr Leben gefährdet, sondern Ihr verstorbener Vater besaß Papiere – Notizen – durch deren Bekanntwerden gewisse Personen stark kompromittiert würden. Man fürchtet nun, dass Sie, Mr. Donelson, gelegentlich diese Schriftstücke finden und sie dem Richter oder der Öffentlichkeit übergeben werden. Darum ist Ihr Tod beschlossene Sache.«

»Was Sie da eben über das Vorhandensein geheimer Notizen sagten, Mr. Sherlock Holmes, trifft in der Tat zu. Zwischen den hinterlassenen sehr zahlreichen Dokumenten meines Vaters befindet sich nämlich ein eisernes Kästchen, welches ich nebst allen anderen Papieren in den Geldschrank eingeschlossen habe. Die Papiere in dem eisernen Kästchen sind für mich teilweise unverständlich. Sie enthalten eine Menge völlig sinnlos zusammengestellter englischer Worte. Zum Glück habe ich diese Papiere instinktiv aufbewahrt und stelle sie Ihnen jederzeit zwecks Einsicht zur Verfügung.«

»Es ist gut, dass Sie dieselben aufbewahrten«, gab Sherlock Holmes zur Antwort, »ich werde diese Dokumente einer genauen Prüfung unterziehen. Nun möchte ich Sie aber noch darauf aufmerksam machen, dass Sie ohne allen Zweifel von Ihren Feinden beobachtet werden. Der Unbekannte, welcher Ihnen auf der Station der Hochbahn die drohenden Worte zuflüsterte, ist Ihnen gefolgt und hat gesehen, dass Sie zu mir gingen. Man kennt mich in London nur zu genau, besonders bei den Leuten, die, wie man zu sagen pflegt, ein böses Gewissen haben. Dieser Beobachter stellt genau fest, dass Sie sich schon längere Zeit bei mir aufhalten. Er schließt sicherlich daraus, dass Sie mir über alles Vorgefallene ausführlichen Bericht erstatten und sich unter meinen Schutz stellen. Damit aber habe ich mich gleichfalls der Rache jener Unheimlichen ausgesetzt. Daher sage ich Ihnen, Mr. Donelson, dass, nachdem ich Ihren Fall übernahm, die Verbrecher zunächst danach trachten werden, mich, Sherlock Holmes, aus dem Weg zu räumen, weil sie meinen Spürsinn und meine nie erlahmende Energie zu fürchten haben. In dem uns bevorstehenden Kampfe gilt es also auch mein Leben, und wir müssen doppelt auf der Hut sein, da wir es mit Leuten zu tun haben, die wahrscheinlich längere Zeit in Indien lebten, zum Teil vielleicht selbst Inder sind. Und das sind sehr gefährliche Menschen, die mit allerlei Geheimmitteln vertraut sind, die sich unserem Auge völlig entziehen. Doch hier heißt es vor allen Dingen, den Kopf oben behalten. Warten Sie

noch einen Augenblick, ich komme bald zurück, und dann werde ich Sie zu Ihrer Wohnung begleiten.«

Der Detektiv hatte die letzten Worte mit solch fürchterlichem Ernst gesprochen, dass es Donelson förmlich eiskalt ums Herz wurde.

Nun entsann sich der junge Donelson mancher Sonderbarkeit seines verstorbenen Vaters, den er erst nach dessen Rückkehr kennengelernt hatte. Die beiden Kinder des Majors, Elise und Henry, waren nämlich nach dem Tod ihrer Mutter in England erzogen worden und sahen den Vater erst wieder, als dieser aus der fernen Garnison zurückkehrte.

Da war der Major allen Bekannten ganz verändert erschienen. Mit leidenschaftlichen Zärtlichkeitsausbrüchen gegen seine Kinder hatten wieder Stunden abgewechselt, in denen er finster und wortkarg im Haus umherschlich.

Mehrmals hatte Henry Donelson des Nachts Licht in dem Zimmer seines Vaters gesehen und diesen laut mit sich selbst sprechen hören. Meist geschah das in einer fremden Sprache, vermutlich in einem indischen Dialekt, denn der Sohn hatte kein Wort verstehen können.

Spielte Henry aber darauf an, so geriet der Major förmlich in Wut. Mehrmals schien es aber auch, als wolle er irgendein streng gehütetes Geheimnis seinen Kindern offenbaren, stets hatte er sich jedoch im entscheidenden Augenblick anders besonnen und sich dann zuweilen für Stunden, ja sogar für Tage, in seinen Gemächern eingeschlossen.

Gerade kurz vor seinem Tod waren diese Einfälle am heftigsten gewesen; besonders hatte der Major darauf gehalten, dass nachts alle Fenster ängstlich verschlossen blieben. Er hatte selbst die Läden des kleinen, villenartigen Hauses revidiert, in dem er damals mit seinen Kindern wohnte. Morgens, wenn der Postbote kam, eilte er ihm in nervöser Hast entgegen; traf dann ein Brief aus Indien ein, so war der Offizier totenbleich geworden und hatte sich sofort mit dem Schreiben eingeschlossen. Diese Briefe hatte er jedenfalls verbrannt, da Henry in der Hinterlassenschaft seines Vaters kein einziges dieser Schreiben entdeckte.

So allein wie der Major in der letzten Zeit seines Lebens gestanden hatte, so war er auch gestorben. Man fand ihn eines Morgens entseelt in seinem Bett vor. Die Ärzte hatten nachsorgfältiger Untersuchung einen Schlagfluss festgestellt, und niemand zweifelte daran, dass ein Schlagfluss dem Leben des täglich mehr erregt gewordenen Mannes ein plötzliches Ende gemacht hatte.

Alle diese Erinnerungen durchkreuzten das Hirn des jungen Mannes und er schrak förmlich empor, als die Tür wieder aufging, und Sherlock Holmes hereintrat.

Die hagere Gestalt des berühmten Detektivs erschien Donelson etwas verändert, aber wahrscheinlich war der lange Havelock daran schuld, den Sherlock Holmes trug. Auch fiel es Henry Donelson auf, dass er ganz besonders dicke Wildlederhandschuhe trug. Der breitkrempige Hut war tief in die Stirn gedrückt und beschattete das bartlose Gesicht mit den unerschütterliche Energie verratenden Zügen.

»Lassen Sie uns jetzt gehen«, sagte der Detektiv zu seinem Besucher. »Wundern Sie sich nicht, dass ich einen Mantel trage. Ich bin nämlich ein wenig erkältet.« Hier lächelte Sherlock Holmes eigentümlich. »Ich fröstle ein wenig, aber das hat nichts zu sagen. Ich will jetzt vor allen Dingen erst einmal die hinterlassenen Schriften Ihres Vaters prüfen, um einen Fingerzeig und Anhalt zu gewinnen. Es ist uns eine Frist von sieben Tagen gewährt – das heißt eigentlich Ihnen – und in diesen sieben Tagen kann und muss viel geschehen. Aber auch ich bin nur ein Mensch, und ich bin sterblich.«

»Der Himmel verhüte, dass Sie um meinetwillen Ihr Leben einbüßen müssten«, erwiderte Henry Donelson. »Bin ich doch ein Mensch, der Ihnen ganz fremd ist und völlig fern steht …«

»Sie erlauben«, unterbrach Sherlock Holmes, »es handelt sich hier um den Fall selbst. Der interessiert mich. Wenn ich einen Fall übernehme, dann trage ich auch alle Konsequenzen, obwohl ich nicht verhehlen kann, dass ich jetzt wahrscheinlich einem der gefährlichsten Abenteuer meines ziemlich abwechslungsreichen Lebens entgegengehe.