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Der Kapitän Fracasse – Band 1 – 4. Kapitel

Théophile Gautier
Der Kapitän Fracasse
Ein Mantel-und-Degen-Roman, 1863
Band 1
Viertes Kapitel

Räuber für die Vögel

Kehren wir nun zu der Kleinen zurück, welche wir auf der Bank in einem Schlaf verlassen haben, der zu tief war, um nicht erheuchelt zu sein. Ihre Haltung erscheint uns mit Recht verdächtig, und die grimmige Begehrlichkeit, womit ihre wilden Augen sich auf das Perlenhalsband der Isabella hefteten, verlangt, dass man ihr Tun und Treiben überwache.

In der Tat schlug sie, sobald die Tür sich hinter den Schauspielern geschlossen hatte, langsam ihre braunen Augenlider auf, ließ einen forschenden Blick in allen Winkeln des Zimmers umherschweifen. Als sie sich überzeugt hatte, dass niemand mehr darin war, ließ sie sich vom Rand der Bank auf ihre Füße gleiten, stellte sich gerade, warf mit einer Bewegung, die sie sich angewöhnt hatte, das Haar zurück und lenkte ihre Schritte zur Tür, welche sie öffnete, ohne mehr Geräusch zu machen als ein Schatten. Dann schloss sie die Tür mit großer Vorsicht wieder, indem sie Sorge trug, dass die Klinke nicht plötzlich niederfiele, und entfernte sich mit langsamen Schritten bis an die Ecke einer Hecke, um welche sie bog.

Sobald sie sicher war, von dem Haus aus nicht mehr gesehen werden zu können, fing sie an, schnell zu laufen, sprang über die mit stehendem Wasser gefüllten Gräben, stieg über gefällte Tannen und flog über das Heidekraut wie ein von der Meute gehetztes Reh.

Die langen Flechten ihres Haares peitschten ihr die Wangen wie schwarze Schlangen und erschwerten ihr, über die Stirn herabfallend, zuweilen das Sehen. Dann strich sie dieselben, ohne die Schnelligkeit ihres Laufes zu vermindern, mit der flachen Hand hinter das Ohr zurück und machte eine ungeduldige Gebärde, obwohl ihre flinken Füße nicht durch die Augen geleitet zu werden brauchten, so genau kannte sie den Weg.

Die Landschaft gewährte, so weit man sie bei dem matten Schimmer des halbverschleierten Mondes erkennen konnte, einen sehr düsteren, öden Anblick.

Einige Tannen, welche die daran zur Entziehung des Harzes bewirkten Einschnitte den Gespenstern ermordeter Bäume ähnlich machten, zeigten ihre rötlichen Wunden am Rande eines sandigen Weges, dessen weiße Farbe die Nacht nicht zu verlöschen imstande war.

Darüber hinaus zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich die dunkelviolette Heide, über welcher graue Dunstbänke schwebten, welchen die Strahlen des nächtlichen Gestirns das Ansehen einer Gespensterprozession gaben, und die wohlgeeignet waren, abergläubischen oder an die Naturerscheinungen in diesen Einöden nicht gewöhnten Gemütern Schrecken einzujagen.

Die ohne jeden Zweifel an diese Phantasmagorien der Wüste gewöhnte Kleine achtete nicht darauf, sondern setzte ihren Weg weiter fort.

Endlich gelangte sie an eine Art Hügel, auf welchem zwanzig bis dreißig Tannen standen und hier eine Art Gehölz bildeten.

Mit außerordentlicher Behändigkeit, welche durchaus keine Ermüdung verriet, erkletterte sie diese ziemlich steile Anhöhe und erreichte den Gipfel derselben.

Oben angelangt ließ sie eine Zeitlang ihre Blicke, für welche der Schatten keinen Schleier zu haben schienen, umherschweifen, und da sie nur die unermessliche Einöde sah, so steckte sie zwei ihrer Finger in den Mund und ließ dreimal nacheinander einen jener Pfiffe hören, welche der des Nachts einen Wald passierende Wanderer niemals ohne geheime Angst hört, obwohl er glaubt, dass sie durch furchtsame Nachteulen oder irgendein anderes harmloses Tier hervorgebracht werden.

Auf jeden dieser Pfiffe folgte eine Pause, damit man sie nicht mit dem Geschrei der Uhus und Käuze verwechseln konnte, so vollkommen war die Nachahmung.

Es dauerte nicht lange, so schien ein Blätterhaufen sich zu bewegen, machte einen krummen Rücken, schüttelte sich wie ein schlafendes Tier, welches man weckt, und eine menschliche Gestalt richtete sich langsam vor der Kleinen empor.

»Du bist es, Chiquita?«, sagte der Mann. »Was gibt es Neues? Ich erwartete dich nicht mehr und machte daher ein Schläfchen.«

Der Mann, welchen Chiquitas Ruf aufgeweckt hatte, war ein Kerl von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, von mittlerem Wuchs, mager, muskelstark und, wie es schien, zu jedem schlimmen Werk geeignet. Er konnte Wilddieb, Schleichhändler, Dieb und Kehlenabschneider sein – lauter Erwerbszweige, die er je nach den Umständen einen nach dem anderen oder auch alle auf einmal betrieb.

Ein Mondstrahl, welcher zwischen den Wolken hindurch auf ihn fiel wie der Lichtschein einer Blendlaterne, ließ ihn deutlich gegen den dunklen Hintergrund der Tannen hervortreten und hätte, wenn ein Beschauer zur Stelle gewesen wäre, erlaubt, seine Physiognomie und sein Kostüm genau in Augenschein zu nehmen.

Sein kupferbraunes Gesicht, welches dem eines wilden Karaiben glich, erglänzte von dem Licht seiner Raubvogelaugen und seiner außerordentlich weißen spitzen Zähne, welche denen eines jungen Wolfes glichen.

Ein Tuch hielt seine Stirn umschlossen wie der Verband einer Wunde und hielt das krause, störrige Haar zusammen, welches wie eine Quaste auf dem Wirbel des Kopfes emporstarrte.

Eine Weste von blauem, abgetragenem Samt passte gut zu den weiten leinenen Beinkleidern, die Riemen seiner Alpargatas kreuzten sich um seine Beine, die so fest und hart waren wie die eines Hirsches.

Dieses Kostüm wurde durch einen breiten rotwollenen Gurt vervollständigt, welcher von den Hüften bis unter die Armhöhlen reichte und mehrmals um den Leib herumging.

Mitten auf dem Magen verriet eine Erhöhung die Speisekammer und den Schatz des Buschkleppers, und wenn er sich umgedreht hätte, so hätte man auf seinem Rücken, die beiden Ränder des Gurtes überragend, einen jener vergifteten Dolche gesehen, deren Klinge sich in einem kupfernen Ring dreht und auf welcher so viele rote Striche angebracht sind, wie der Bravo, dessen Waffe sie ist, Mordtaten verübt hat.

Wir wissen nicht, wieviel dergleichen scharlachene Kennzeichen Agostins Dolch trug; nach dem Ansehen des Strolches aber war es erlaubt, dieselben, ohne lieblos zu urteilen, für sehr zahlreich zu halten.

Dies war der Mann, zu welchem Chiquita in geheimnisvollen Beziehungen stand. »Nun, Chiquita«, sagte Agostin, indem er mit freundschaftlicher Gebärde seine raue Hand über den Kopf des Mädchens gleiten ließ, »was hast du in Meister Chirriguirris Herberge bemerkt?«

»Es kam«, antwortete die Kleine, »ein Wagen voll Reisende. Man hat fünf große Koffer, welche ziemlich schwer zu sein schienen, denn es waren zu jedem zwei Mann nötig, unter den Schuppen getragen.«

»Hm«, sagte Agostin, »manchmal füllen die Reisenden ihre Koffer mit Kieselsteinen, um sich bei den Herbergswirten ein großes Ansehen zu geben. So etwas hat man schon oft gesehen.«

»Aber«, antwortete Chiquita, »die drei jungen Damen, welche dabei sind, haben goldenen Besatz auf ihren Kleidern. Eine davon, die hübscheste, trägt um den Hals eine Schnur große weiße silberfarbene Körner, welche im Licht glänzen.«

»Perlen!«, sagte der Bandit zwischen den Zähnen hindurch. »Na, das wäre ganz gut, vorausgesetzt, dass es keine unechten sind. Man verfertigt dergleichen in Murano den echten täuschend ähnlich, und die eleganten Damen der jetzigen Zeit sind so unzuverlässig.«

»Mein guter Agostin«, fuhr Chiquita in schmeichelndem Ton fort, »nicht wahr, wenn du der schönen Dame den Kopf abschneidest, so gibst du mir das Halsband?«

»Das müsste dir allerdings gut stehen und würde zu deinem zerlumpten Hemd und deinem kanariengelben Rock vortrefflich paffen.«

»Ich habe so oft für dich Wache gestanden, ich bin so oft gelaufen, um dich zu benachrichtigen, wenn der Nebel von der Erde aufstieg und der Tau meine armen nackten Füße benetzte. Habe ich dich jemals in deinem Versteck auf deine Mahlzeit warten lassen, selbst als ich vor Fieberfrost mit den Zähnen klapperte wie ein Storch am Rande eines Sumpfes, und ich mich kaum noch durch Gebüsch und Gesträuch zu schleppen vermochte?«

»Ja«, antwortete der Bandit, »Du bist brav und treu, aber jenes Halsband haben wir jetzt noch nicht. Wieviel Männer hast du gezählt?«

»O viele – einen großen und starken mit einem gewaltigen Bart mitten im Gesicht, einen alten, zwei magere, einen, der aussieht wie ein Fuchs. und noch einen, welcher ein Edelmann zu sein scheint, obwohl er schlecht gekleidet ist.«

»Also sechs Männer«, sagte Agostin nachdenklich geworden und an den Fingern zählend. »Ach, früher hätte diese Zahl nichts Furchtbares für mich gehabt, aber jetzt bin ich von meiner Bande noch allein übrig. Haben sie Waffen, Chiquita?«

»Der Edelmann hat seinen Degen und der große Magere sein Rapier.«

»Keine Pistolen oder Musketen?«

»Ich habe keine gesehen«, entgegnete Chiquita, »sie müssten sie denn im Wagen gelassen haben, aber dann hätte Chirriguirri oder Minette mir einen Wink gegeben.«

»Wohlan, riskieren wir den Schlag und legen wir den Hinterhalt«, sagte Agostin, sich rasch entschließend. »Fünf Koffer, Goldstickereien, ein Perlenhalsband – ich habe schon für geringeren Lohn gearbeitet.«

Der Bandit und das kleine Mädchen gingen in das Tannenwäldchen hinein. An der geheimsten Stelle angelangt, begannen sie sofort einen Haufen Steine und Reiser auf die Seite zu räumen, bis fünf oder sechs mit Erde bedeckte Bretter sichtbar wurden.

Diese Bretter hob Agostin auf, warf sie auf die Seite und stieg bis zur Mitte des Körpers in die auf diese Weise freigewordene schwarze Öffnung hinab.

War dies der Eingang zu einem unterirdischen Raum oder einer Höhle, dem gewöhnlichen Asyl des Banditen? Oder das Versteck, in welchem er die geraubten Gegenstände verwahrte? Oder das Grab, in welchem er die Leichen seiner Schlachtopfer auftürmte?

Diese letztere Vermutung wäre dem Zuschauer als die wahrscheinlichste erschienen, wenn der Auftritt überhaupt andere Zeugen gehabt hätte als die auf den Tannen sitzenden Krähen.

Agostin bückte sich, schien auf dem Boden der Grube zu suchen, richtete sich, eine menschliche, leichenhaft steife Gestalt in den Armen haltend, empor und warf sie ohne Weiteres über den Rand der Öffnung.

Chiquita schien bei dieser seltsamen Ausgrabung keine Furcht zu empfinden, sondern zog sogar mit mehr Muskelkraft als man ihr nach ihrem schwächlichen Ansehen zugetraut hätte, den leblosen Körper bei den Füßen eine Strecke von der Grube weg.

Agostin warf, seine unheimliche Arbeit fortsetzend, aus diesem Hakeldama noch fünf Leichen, welche das kleine Mädchen neben die erste schleppte und dabei lächelte wie ein Vampir, welcher sich anschickt, auf einem Kirchhof zu schwelgen.

Dieses offene Grab, dieser Bandit, welcher die Überreste seiner Schlachtopfer ihrer Ruhe entriss, dieses kleine Mädchen, welches ihm bei dieser grässlichen Arbeit beistand, all dies in dem dunklen Schatten der Tannen bildete ein Gemälde, welches selbst dem unerschrockenen Herzen hätte Furcht einjagen können.

Der Bandit nahm eine der Leichen, trug sie auf den Gipfel der Anhöhe, richtete sie empor und schlug den Pfahl, an welchen sie gebunden war, fest in den Boden.

So aufrecht gehalten, hatte die Leiche im nächtlichen Dunkel das Ansehen eines Lebendigen.

»Ach, wie weit bin ich durch das Unglück der Zeiten herabgekommen!«, sagte Agostin mit einem frommen Seufzer. »Anstatt einer Bande kräftiger Strolche, welche das Messer und die Muskete zu handhaben wussten wie geschulte Soldaten, habe ich nur noch mit Lumpen bedeckte Gliedermänner, Popanze für die Reisenden, einfache Statisten meiner einsamen Heldentaten! Dieser hier war Matasierpes, der tapfere Spanier, mein Busenfreund, ein lieber Junge, der mit seinem Dolch einem Feigling so rasch ein Kreuz aufs Gesicht zu malen verstand, wie mit einem in rote Farbe getauchten Pinsel. Übrigens war er ein guter Edelmann; stolz, als ob er aus Jupiters Schenkel hervorgegangen wäre, bot er den Damen, wenn sie aus der Karosse stiegen, den Ellenbogen und stieß das Bürgergesindel mit wahrhaft königlicher Miene auf die Seite. Dies ist sein Mantel, seine Halskrause und sein Hut mit der roten Feder, welche ich frommerweise als Reliquien dem Henker gestohlen habe, und womit ich den Strohmann bekleide, welcher die Stelle dieses eines besseren Schicksals würdigen jungen Helden vertritt. Der arme Matadierpes! Es ärgerte ihn nicht wenig, dass er gehängt werden sollte; nicht als ob er den Tod gefürchtet hätte, er behauptete bloß, als Edelmann das Recht zu haben, geköpft zu werden. Unglücklicherweise aber trug er seinen Stammbaum nicht in der Tasche und musste daher perpendikulär den Geist aufgeben.«

An das Grab zurückkehrend, holte Agostin einen zweiten Strohmann, der ein blaues Barett trug.

»Dieser da ist Isquibaival, ein famoser, tapferer und mutiger Mann bei der Arbeit, nur entwickelte er zuweilen allzu viel Eifer und massakrierte, was er konnte. Zum Teufel! Man darf sich nicht die Kundschaft verderben. Übrigens aber war er nie nach Beute lüstern, sondern mit seinem Anteil stets zufrieden. Er verschmähte das Gold und liebte nur das Blut, dieses wackere Gemüt! Und welch eine schöne Haltung zeigte er noch unter der Eisenstange des Henkers, als er in Orthez auf dem Marktplatz gerädert wurde. Regulus und der heilige Bartholomäus entwickelten bei ihren Qualen keine größere Standhaftigkeit. Er war dein Vater, Chiquita. Ehre sein Andenken und sprich ein Gebet für die Ruhe seiner Seele.«

Die Kleine machte das Zeichen des Kreuzes und ihre Lippen bewegten sich, als ob sie die geheiligten Worte murmelten.

Der dritte Popanz gab in Agostins Armen ein klirrendes Geräusch von sich. Ein eiserner Brustharnisch glänzte unbestimmt auf seinem zerfetzten Koller und Beinschienen klirrten an seinen Schenkeln. Agostin rieb den Kürass mit dem Ärmel, um ihm den früheren Glanz wiederzugeben.

»Ein Metallblitz, welcher durch das Dunkel zuckt, flößt zuweilen heilsamen Schrecken ein. Dieser da war ein alter erprobter Bursche, der auf der Heerstraße wie auf dem Schlachtfeld stets mit Kaltblütigkeit, Methode und Manneszucht arbeitete. Eine Pistolenkugel, die ihn mitten ins Gesicht traf, raubte mir ihn. Welch ein unersetzlicher Verlust! Aber ich werde seinen Tod schon noch zu rächen wissen.«

Das vierte Phantom, welches einen ausgezackten Mantel trug, wurde ebenso wie die anderen mit einer Leichenrede beehrt. Es hatte den Geist auf der Folterbank aufgegeben, weil es aus Bescheidenheit seine Heldentaten nicht eingestehen wollte und sich mit heldenmütiger Standhaftigkeit weigerte, der allzu neugierigen Gerechtigkeit die Namen seiner Kameraden zu nennen.

Der fünfte Strohmann, welcher Florizel von Bordeaux vorstellte, erhielt von Agostin keine Lobrede, sondern bloß ein einfaches Wort des Bedauerns und der Hoffnung. Florizel, die leichteste Hand der Provinz, wenn es galt, auf den Brücken einen seidenen oder wollenen Beutel aus den Taschen zu ziehen, baumelte nicht wie die anderen weniger Glücklichen, vom Regen gewaschen und von den Raben zerhackt an den Ketten des Galgens. Er reiste vielmehr auf Staatskosten auf den Galeeren des Königs im atlantischen und mittelländischen Meer. Er war nur ein Dieb unter den Banditen gewesen, ein Fuchs unter einer Meute Wölfe, aber er hatte gute Anlagen und es hätte noch etwas aus ihm werden können, denn es ist kein Meister vom Himmel gefallen. Agostin wartete daher auch mit Ungeduld darauf, dass dieser liebenswürdige junge Mann aus dem Bagno entspränge und wieder zu ihm käme.

Dick und kurz, mit einem von einem breiten ledernen Gürtel zusammengehaltenen Kittel bekleidet und einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf, wurde der sechste Gliedermann wie ein Anführer ein wenig vor die anderen gepflanzt.

»Du verdienst diesen Ehrenplatz«, sagte Agostin, zu dem Popanz gewendet. »Du Patriarch der Landstraße, Nestor der Kehlenabschneider, Ulysses des Brecheisens, o großer Lavidalotte, mein Führer und mein Meister, du, der du mich unter die Ritter vom schönen Stern aufnahmst und mich, ein so schlechter Schüler ich auch war, zu einem tüchtigen Banditen ausbildetest. Du lehrtest mich die Gaunersprache reden, mich auf zwanzig verschiedene Arten verkleiden, wie der selige Proteus, wenn ihm die Leute zu sehr auf den Hals kamen. Du lehrtest mich das Messer auf dreißig Schritte Entfernung in das Astloch eines Brettes werfen, ein Licht mit einem Pistolenschuss schnäuzen, wie der Wind durch die Schlösser passieren, mich unsichtbar in den Häusern umherbewegen und ohne Wünschelrute die verborgensten Verstecke auffinden. Wie viel gute Lehren habe ich von dir empfangen, großer Mann! Wie anschaulich machtest du es mir, dass die Arbeit nur für die Toren geschaffen ist! Warum musste das treulose Glück dich in dieser Höhle verhungern lassen, deren Ausgänge bewacht waren und in welche die Diener des Gesetzes nicht einzudringen wagten. Niemand, wie tapfer er auch sei, getraut sich so leicht, dem Löwen in seiner eigenen Höhle entgegenzutreten, denn noch sterbend kann er mit seiner Tatze oder seinen Zähnen fünf oder sechs Feinde zu Boden schlagen. Wohlan, du, dessen unwürdiger Nachfolger ich bin, kommandiere klug und weise diese kleine Schar, diese Gliedermänner und Gespenster der Tapferen, die wir verloren und die, obwohl tot, noch wie der tote Cid ihren Posten versehen. Eure Schatten, glorreiche Banditen, werden hin-reichen, dieses Lumpengesindel auszuplündern.«

Nachdem der Bandit mit seiner Arbeit fertig war, begab er sich auf die Straße, um die Wirkung der Maskerade zu beurteilen. Die Strohbanditen hatten in der Tat ein vollkommen hinreichendes grimmiges Aussehen und das Auge der Furcht konnte sich leicht in dem Schatten der Nacht oder in der Morgendämmerung in jener zweideutigen Stunde täuschen, wo die alten Weiden mit ihren Aststümpfen am Rande der Gräben aussehen wie Menschen, welche drohend die Faust ausstrecken oder große Messer schwingen.

»Agostin«, sagte Chiquita, »du hast vergessen, die Puppen zu bewaffnen.«

»Das ist wahr«, antwortete der Bandit. »Wo hatte ich nur meine Gedanken? Aber selbst das größte Genie hat seine Augenblicke der Zerstreutheit. Das Versäumnis lässt sich mit leichter Mühe wieder gutmachen.«

Und er befestigte an den Enden dieser trägen, kraftlosen Arme alte Musketenschäfte, verrostete Degen oder auch einfache Stöcke. So ausgerüstet, hatte der Trupp am Rande der Straßenböschung ein hinreichend drohendes Ansehen.

»Da die Entfernung vom Dorf bis zur nächsten Herberge eine beträchtliche ist, so werden die Reisenden ohne Zweifel um drei Uhr morgens aufbrechen. Wenn sie hier an dem Hinterhalt vorbeikommen, wird der Tag anfangen zu grauen und dies ist gerade der günstige Augenblick, denn für unsere Leute bedarf es weder zu viel Licht noch zu viel Schatten. Der Tag würde sie verraten, die Nacht würde sie unsichtbar machen. Machen wir mittlerweile noch ein Schläfchen. Das Knarren der nichtgeschmierten Räder des Wagens, jenes Geräusch, welches die erschrockenen Wölfe veranlasst, die Flucht zu ergreifen, hört man sehr weit und es wird uns wecken. Wir, die wir wie die Katzen nur mit einem Auge schlafen, werden sehr rasch auf den Füßen sein.«

Nachdem Agostin dies gesagt hatte, streckte er sich auf einen Haufen Heidekraut und Chiquita legte sich neben ihn, um mit unter den Mantel zu kriechen, den er über sich warf und auf diese Weise ihren armen kleinen, vor Fieber zitternden Gliedern ein wenig Wärme zu verschaffen.

Es dauerte nicht lange, so hörten ihre Zähne auf zu klappern und sie entschwebte in das Land der Träume.

Wir müssen gestehen, dass in diesen kindischen Träumen keine rosenfarbenen Cherubinen mit weißen Flügeln umherflatterten und keine mit bunten Bändern geschmückten Schäfchen blökten. Nein, Chiquita sah vielmehr Isabelles abgeschnittenen Kopf, welcher das Perlenhalsband zwischen den Zähnen hielt und, ungeheuerlich hin- und herspringend, es den ausgestreckten Händen des Kindes zu entziehen versuchte.

Dieser Traum versetzte Chiquita in große Aufregung und Agostin, der durch ihre unruhigen Bewegungen halb aus dem Schlaf geweckt wurde, murmelte schnarchend: »Wenn du dich nicht ruhig verhältst, so schleudere ich dich mit einem Fußtritt in den Straßengraben, wo du den Fröschen Gesellschaft leisten kannst.«

Chiquita, welche wusste, dass Agostin ein Mann von Wort war, ließ sich dies gesagt sein und rührte sich nicht mehr.

Der gleichmäßige Zug ihres Atems war bald noch das einzige Geräusch, welches die Gegenwart lebender Wesen in dieser traurigen Einöde verriet.

Der Bandit und seine kleine Helfershelferin tranken noch mit vollen Zügen den schwarzen Becher des Schlafes unter freiem Himmel, als in der Herberge Zur blauen Sonne der Ochsentreiber mit seinem Stachelstock auf den Boden stampfend, den Komödianten meldete, dass es Zeit sei, sich auf den Weg zu machen.

Man arrangierte sich in dem Wagen so gut es gehen wollte, auf den Koffern und Kisten, welche unregelmäßige Winkel bildeten, und der Tyrann verglich sich mit dem auf einem Bergesgipfel liegenden Riesen Polyphem, was ihn aber nicht abhielt, sehr bald zu schnarchen wie ein Sägewerk.

Die Damen waren in den Hintergrund unter das Leinwanddach gekrochen, wo die zusammengefalteten Dekorationen eine Art weiche Matratze abgaben. Trotz des furchtbaren Knarrens, Schluchzens, Miauens und Röchelns der Räder sank alles in einen peinlichen Schlaf, in welchen sich unzusammenhängende, seltsame Träume mischten, wo das Geräusch des Wagens sich in das Geheul wilder Tiere oder das Geschrei erwürgter Kinder verwandelte.

Der Baron von Sigognac, dessen Gemüt durch die Neuheit des Abenteuers und den Tumult dieses von der klösterlichen Ruhe seines Schlosses so verschiedenen Zigeunerlebens aufgeregt war, marschierte hinter dem Wagen her.

Er dachte an die anbetungswürdige Anmut der Isabelle, deren Schönheit und Bescheidenheit mehr einer geborenen Edeldame als einer herumziehenden Komödiantin anzugehören schien. Er wünschte zu wissen, wie er es anfangen müsse, ihre Liebe zu erringen, während er zugleich nicht zweifelte, dass dies schon geschehen sei, und dass das sanfte Wesen, in der tiefsten Seele gerührt, um ihm ihr Herz zu schenken, bloß darauf warte, dass er sie darum ersuche.

Der schüchterne Baron ließ in Gedanken schon eine ganze Reihe furchtbarer oder romantischer Ereignisse, wie man sie in den Ritterromanen liest, aufeinanderfolgen, um jenes furchtbare Geständnis herbeizuführen, woran schon der Gedanke ihm die Kehle zuschnürte.

Und dennoch war dieses Geständnis durch die Flamme seiner Augen, das Zittern seiner Stimme, seine halb unterdrückten Seufzer, die etwas linkischen Aufmerksamkeiten, welche er der Isabelle erwies, und die zerstreuten Antworten, welche er den Schauspielern gab, schon auf die unzweideutige Weise ausgesprochen worden.

Die junge Dame hatte sich, obwohl er ihr noch kein Wort von Liebe gesagt, hierin auch nicht getäuscht.

Der Morgen begann zu grauen. Ein schmaler bleicher Lichtstreifen wurde am Rande der Ebene sichtbar. Einige von diesem Lichtstrahl leicht berührte Wassertümpel glänzten wie die Scherben eines zerschlagenen Spiegels. Ein leichtes Geräusch erwachte hie und da und Rauchwolken stiegen in die ruhige Luft empor, um in weiter Entfernung die Wiederaufnahme der menschlichen Tätigkeit mitten in dieser Wüste zu verkünden.

An dem leuchtenden Gürtel, der nun rosenfarben wurde, zeichnete sich eine seltsame Gestalt, welche von Weitem einem von einem unsichtbaren, die Ebenen messenden Geometer gehaltenen Zirkel glich. Es war ein Schäfer auf seinen Stelzen, der mit riesigen Schritten durch Morast und Sand marschierte.

Dieser Anblick war für Sigognac nicht neu und er achtete wenig darauf; wie tief er aber auch in seine Betrachtungen versunken war, so konnte er doch nicht umhin, einen kleinen glänzenden Punkt zu bemerken, welcher unter dem noch sehr schwarzen Schatten des Tannenwäldchens funkelte, wo wir Agostin und Chiquita gelassen haben.

Ein Johanniswürmchen konnte es nicht sein, denn die Zeit, wo die Liebe diese Tiere durch ihren Phosphor verklärt, war schon seit mehreren Monaten vorüber.

War es das Auge eines einäugigen Nachtvogels? Denn es war nur ein leuchtender Punkt vorhanden. Diese Voraussetzung befriedigte Sigognac nicht, denn der leuchtende Punkt kam ihm vor wie das Knistern einer glimmenden Musketenlunte.

Mittlerweile bewegte der Wagen sich immer vorwärts, und als er sich dem Tannenwäldchen näherte, glaubte Sigognac am Rande der Anhöhe eine Reihe seltsamer Wesen zu erkennen, welche wie im Hinterhalt aufgepflanzt standen, und deren Formen durch die ersten Strahlen der Sonne unbestimmt hervorgehoben wurden.

Wegen ihrer vollkommenen Unbeweglichkeit hielt er sie jedoch für alte Baumstümpfe und fing an, über sich selbst zu lachen, ohne die Schauspieler zu wecken, wie er anfangs willens gewesen war.

Der Wagen bewegte sich noch eine kleine Strecke. Der glänzende Punkt, auf welchen Sigognac fortwährend die Augen gerichtet hielt, veränderte plötzlich seinen Standpunkt. Ein langer Feuerstrahl durchfurchte eine weißliche Rauchwolke, ein starker Knall ließ sich hören und eine Kugel schlug an das Joch der Ochsen, welche erschrocken auf die Seite sprangen und den Wagen mit sich fortrissen, der glücklicherweise durch einen Sandhaufen am Rande des Straßengrabens festgehalten wurde.

Bei dem Knall und der Erschütterung fuhr die ganze Truppe aus dem Schlaf empor und die jungen Damen begannen ein durchbohrendes Geschrei auszustoßen.

Nur die alte Duenna, welche schon manches Abenteuer bestanden hatte, schwieg und schob vorsichtig zwei oder drei Dublonen, die sie in ihrem Gürtel verwahrte, zwischen ihren Strumpf und die Sohle ihres Schuhes.

Dicht an den Wagen, aus welchem die Schauspieler herauszuspringen suchten, herantretend, rief Agostin, seinen valenzianischen Mantel um den Arm wickelnd und seinen langen Dolch schwingend, mit Donnerstimme: »Das Geld oder das Leben! Jeder Widerstand ist unnütz. Bei der geringsten Miene, die Ihr dazu macht, schießen meine Leute Euch nieder.«

Während der Bandit so sein Ultimatum stellte, hatte der Baron ruhig den Degen gezogen und drang nun auf den Räuber ein.

Agostin parierte die Stöße mit seinem Mantel und lauerte auf die Gelegenheit, seinen Dolch in den Leib des Barons zu schleudern. Es war ein Glück für diesen, dass er nicht korpulent war, denn als die Klinge zischend geflogen kam, machte er eine rasche Bewegung seitwärts und die mörderische Waffe sauste an ihm vorbei.

Agostin wurde bleich, denn er war nun wehrlos und wusste recht wohl, dass seine Popanz-Mannschaft ihm von keinem Nutzen sein konnte.

Dennoch aber wollte er wenigstens versuchen, die Rei-senden zu schrecken und schrie daher: »Heda, ihr da drüben, Feuer!«

Die eine Salve fürchtenden Schauspieler flüchteten sich rasch hinter den Wagen, wo die Damen schon winselten und ächzten wie lebendig gerupfte Hühner. Selbst Sigognac konnte trotz seines Mutes sich nicht enthalten, ein wenig den Kopf zu senken.

Chiquita, welche hinter einem Gebüsch, dessen Zweige sie auseinanderbog, versteckt, den ganzen Auftritt mit angesehen hatte und die gefährliche Lage ihres Freundes bemerkte, kroch wie eine Natter auf dem Staub der Straße zu der Stelle, wo das Messer lag, nahm es, ohne dass man auf sie achtete, in die Hand, richtete sich mit einem Sprung auf und gab es dem Banditen zurück.

Nichts konnte grimmiger oder wilder sein als der Ausdruck, welcher auf dem bleichen Antlitz des Kindes lag.

Blitze schossen aus ihren dunklen Augen, ihre Nasenflügel zuckten wie Sperberflügel, ihre halb geöffneten Lippen ließen zwei Reihen grimmiger Zähne sehen wie die, welche aus dem fletschenden Rachen eines in die Enge getriebenen wilden Tieres leuchten.

Agostin zielte abermals mit seinem Dolch und der Baron von Sigognac hätte vielleicht schon beim Beginn seiner Abenteuer den Tod gefunden, wenn nicht das Handgelenk des Banditen noch zu rechter Zeit von einer eisernen Faust gepackt worden wäre.

Diese Hand, welche sich immer fester schloss, wie ein Schraubstock, dessen Schraube gedreht wird, zermalmte Muskel und Knochen und presste die Adern, dass das Blut unter den Nägeln hervorspritzte.

Agostin versuchte sich mit verzweifelter Anstrengung loszumachen. Sich umzudrehen wagte er nicht, denn der Baron hätte ihm dann sofort den Degen in den Rücken gestoßen, und er parierte immer noch die Stöße desselben mit dem linken Arm. Gleichwohl fühlte er, dass seine festgepackte Hand ihm samt den Muskeln vom Arm gerissen werden würde, wenn er dabei beharrte, sie freizubekommen.

Der Schmerz wurde endlich so heftig, dass die Finger sich notgedrungen öffneten und die Waffe fallen ließen.

Es war der Tyrann, welcher sich hinter Agostin geschlichen und Sigognac diesen guten Dienst geleistet hatte. Plötzlich stieß er einen lauten Schrei aus. »Himmeldonnerwetter! Sticht mich denn eine Natter? Ganz gewiss fühlte ich zwei spitze Zähne in mein Bein dringen.«

In der Tat biss Chiquita ihn wie ein Hund in die Wade, um ihn zu zwingen, sich umzudrehen.

Der Tyrann schleuderte, ohne die Hand des Banditen loszulassen, die Kleine von sich, sodass sie zehn Schritte weit auf der Straße fortrollte.

Der Matamor schritt mit seinen langen Beinen herbei, bückte sich, hob das Messer auf, machte es zu und steckte es in die Tasche.

Während dieses Auftritts stieg die Sonne allmählich am Horizont herauf. Ein Teil ihrer goldenen Scheibe zeigte sich über der Linie der Ebene und die Strohmänner verloren unter diesem unbestechlichen Strahl ihr menschliches Aussehen immer mehr und mehr.

»Aha!«, sagte der Pedant, »wie es scheint, sind die Musketen dieser Herren infolge der Feuchtigkeit der Nacht nicht losgegangen. Auf alle Fälle sind es keine tapferen Leute, denn sie lassen ihren Anführer im Gedränge und rühren sich nicht von der Stelle.«

»Dazu haben sie auch triftige Gründe«, entgegnete der Matamor, indem er die Böschung erkletterte, »es sind Strohmänner mit Lumpen bekleidet und mit altem Eisen bewaffnet. Sie werden herrlich dazu taugen, die Vögel von den Kirschen und Weintrauben zu verscheuchen.«

Mit sechs Fußtritten schleuderte er die sechs grotesken Figuren auf die Straße hinab, wo sie mit den unwiderstehlich komischen Gebärden von Marionetten, deren Fäden zerschnitten werden, in den Staub kollerten und auf ebenso drollige wie unheimliche Weise auf Schlachtfeldern ausgestreckt liegende Leichname nachahmten.

»Sie können aussteigen, meine Damen«, sagte der Baron zu den Schauspielerinnen, »es ist nichts mehr zu fürchten. Die Gefahr war keine ernste.«

Untröstlich über das Misslingen einer List, die ihm gewöhnlich glückte – so groß ist die Feigheit der Menschen und so sehr vergrößert die Furcht die Gegenstände – ließ Agostin mit kläglicher Miene den Kopf hängen.

Neben ihm stand Chiquita, scheu, verstört und wütend wie ein vom Tag überraschter Nachtvogel.

Der Bandit fürchtete, dass die Schauspieler, welche die Übermacht hatten, ihn misshandeln oder der Gerechtigkeit ausliefern würden; die Posse mit den Strohmännern aber hatte sie in gute Laune gebracht und sie brachen in immer erneutes Gelächter aus.

Das Lachen ist von Natur nicht grausam. Es unterscheidet den Menschen vom Tier und ist nach Homer das Erbteil der unsterblichen glückseligen Götter, welche sich durch olympisches Gelächter die Langweile der Ewigkeit vertreiben.

Demgemäß öffnete der Tyrann, der von Haus aus sehr gutmütig war, seine Finger ein wenig und sagte, während er den Banditen immer noch festhielt, mit seiner tiefen tragischen Stimme, deren Intonationen er zuweilen auch in der vertraulichen Umgangssprache beibehielt: »Schurke, du hast diese Damen erschreckt und deswegen hättest du verdient, hoch und kurz gehängt zu werden, wenn sie dich aber, wie ich glaube, begnadigen – denn es sind gute Seelen – so werde ich dich nicht zum Profoss führen. Das Handwerk eines Häschers ist nicht meine Sache und es liegt mir nichts daran, den Galgenlieferanten zu machen. Übrigens ist deine Kriegslist gar nicht übel, sondern sehr gut ausgesonnen, um feigen Spießbürgern ihr Geld abzupressen. Als erfahrener Schauspieler weiß ich dies zu würdigen und deine Erfindungsgabe macht mich zur Nachsicht geneigt. Du bist kein gewöhnlicher bestialischer Räuber und es wäre schade, wenn man dich in einer so schönen Laufbahn unterbrechen wollte.«

»Ach«, antwortete Agostin offen, »es steht mir keine andere offen und ich bin mehr zu beklagen, als Ihr glaubt. Es ist von meiner Truppe, die früher ebenso gut zusammengesetzt war wie die Eurige, niemand mehr übrig als ich. Der Henker hat mir die Personen der ersten, zweiten und dritten Rollenfächer geraubt. Ich muss jetzt auf dem Theater der Heerstraße mein Stück allein spielen, ich muss verschiedene Stimmen nachahmen und Strohmänner aufputzen, um glauben zu machen, dass ich durch eine zahlreiche Bande unterstützt werde. Ach, es ist dies ein trauriges Handwerk! Hierzu kommt, dass fast niemand mehr meine Straße passiert. Sie ist so übel berüchtigt, so von Geleisen durchfurcht, so beschwerlich für Fußgänger, Pferde und Wagen. Sie kommt nirgends her und führt nirgends hin; aber ich besitze nicht die nötigen Mittel, um mir eine bessere zu kaufen. Jeder ein wenig frequente Weg hat schon seine Gesellschaft. Die Müßiggänger, welche arbeiten, glauben, der Räuber wandle auf Rosen, aber sein Weg ist mit vielen Dornen besät. Ich möchte gern ehrlich sein, aber wie soll ich mit meinem verdächtigen Aussehen und in meiner zerlumpten Kleidung an den Toren der Städte erscheinen? Die Hunde würden mir in die Beine fahren und die Polizeisergeanten mich beim Kragen packen, wenn ich einen hätte. Dieser Streich ist mir misslungen, obwohl ich ihn ganz gut in Scene gesetzt hatte. Ich hatte gehofft, dadurch wenigstens so viel zu verdienen, dass ich zwei Monate leben und dieser armen kleinen Chiquita ein Mäntelchen kaufen könnte. Ich habe aber einmal kein Glück und bin unter einem schlimmen Stern geboren. Gestern bestand mein Mittagsmahl darin, dass ich meinen Gürtel um ein Loch enger schnallte. Euer unzeitiger Mut nimmt mir das Brot aus dem Mund, und da ich Euch nicht habe ausplündern können, so reicht mir wenigstens ein Almosen.«

»Das ist nicht mehr als billig«, antwortete der Tyrann. »Wir haben dich abgehalten, deinen Erwerb zu betreiben, und sind dir eine Entschädigung schuldig. Hier hast du zwei Pistolen, um auf unsere Gesundheit trinken zu können.«

Die Isabelle nahm aus dem Wagen ein großes Stück wollenen Stoff und schenkte es Chiquita.

»Ach nein!«, rief die Kleine mit habgierigem Blick, »ich möchte lieber Euer Halsband haben.«

Die Schauspielerin machte das Halsband los und hing es der kleinen verblüfften und entzückten Diebin um.

Chiquita betastete schweigend die weißen Perlen mit ihren braunen Fingern, neigte den Kopf und bemühte sich, das Halsband auf ihrer kleinen mageren Brust zu sehen, dann hob sie den Kopf rasch wieder empor, schüttelte ihr Haar zurecht, heftete ihre funkelnden Augen auf Isabelle und sagte in tiefem, eigentümlichem Ton: »Ihr seid gut; Euch schlage ich nicht tot.«

Mit einem Satz sprang sie dann über den Straßengraben und lief bis an eine kleine Anhöhe, wo sie sich niedersetzte, um ihren Schatz zu betrachten.

Der arme Agostin suchte, nachdem er gegrüßt hatte, seine zerstreuten Strohmänner wieder zusammen, trug sie zuerst in das Tannenwäldchen und begrub sie abermals, um sie für eine bessere Gelegenheit aufzuheben.

Der Wagen, bei welchem der Treiber, der bei dem Knall der Muskete die Flucht ergriffen, sich mittlerweile wieder eingefunden hatte, setzte sich schwerfällig von Neuem in Bewegung.

Die Duenna nahm die Dublonen aus ihren Schuhen und steckte sie verstohlen wieder in ihre Gürteltasche.

»Sie haben sich gezeigt wie ein Romanheld«, sagte Isabelle zu dem Baron, »und unter Ihrem Schutz reist man sicher. Wie tapfer drangen Sie auf diesen Banditen ein, während Sie doch glauben mussten, es stehe eine gut bewaffnete Bande ihm zur Seite.«

»Diese Gefahr hatte nicht viel auf sich«, antwortete der Baron bescheiden. »Um Sie zu schützen, schöne Dame, würde ich Riesen vom Wirbel bis zum Gürtel spalten, eine ganze Horde Sarazenen in die Flucht schlagen, in Rauch und Flammen mit Drachen und Lindwürmern kämpfen, verzauberte Wälder durchziehen und wie Aeneas und ohne goldenen Zweig in die Hölle hinabsteigen. In den Strahlen Ihrer schönen Augen würde mir alles leicht werden, denn Ihre Nähe, ja schon der Gedanke an Sie verleiht mir etwas Übermenschliches.«

Diese Worte waren vielleicht ein wenig übertrieben oder, wie Longin sagen würde, asiatisch hyperbolisch, aber dennoch aufrichtig. Isabelle zweifelte keinen Augenblick daran, dass Sigognac ihr zu Ehren alle diese fabelhaften Heldentaten verrichten würde. Sie hatte auch recht, denn die aufrichtigste Neigung diktierte dem mit jeder Stunde verliebteren Baron diese schönen Redensarten, und die Liebe kann, um sich zu erkennen zu geben, nie Ausdrücke finden, welche stark genug wären.

Die Serafine, welche die Phrasen des Barons mit angehört hatte, konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, denn jede Dame findet die Liebesbeteuerungen, welche an eine andere gerichtet werden, und die ihr, wenn sie ihr selbst gälten, ganz natürlich erscheinen würden, gern lächerlich.

Sie ging einen Augenblick mit dem Gedanken um, die Macht ihrer eigenen Reize zu versuchen und den Baron seiner Freundin streitig zu machen, aber dieses Gelüst dauerte nicht lange. Ohne gerade eigennützig zu sein, sagte sie sich doch, dass die Schönheit ein Diamant sei, welcher in Gold gefasst werden müsse. Den Diamant besaß sie, aber das Gold fehlte, und der Baron war so fürchterlich arm, dass er weder die Fassung noch auch nur das Etui bezahlen konnte.

Die große Kokette steckte daher ihren schon fertig gemachten Blick wieder in die Scheide, indem sie sich sagte, dass dergleichen Liebeleien sich bloß für das naive Rollenfach, aber nicht für das der Anstandsdamen schicke, deshalb zeigte sie sofort wieder ihre gewöhnliche unbefangene, ruhig heitere Miene.

Allmählich begann Schweigen im Wagen zu herrschen und der Schlaf begann schon Sand unter die Augenlider der Reisenden zu streuen, als der Ochsentreiber plötzlich rief: »Da ist das Schloss Bruyères!«