Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 7. Kapitel
Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
7. Kapitel
Die unterirdische Themse
»Kapitän Flobert, begleiten Sie mich, wenn Sie die Güte haben wollen, mit zehn von Ihren Leuten. Es eilt, mein Freund, es steht ein Menschenleben auf dem Spiel!«
Mit diesen Worten betrat Sherlock Holmes die Tower Polizeistation.
»Oho, Mr. Sherlock Holmes«, rief der Polizeikapitän Flobert verwundert, denn nun erkannte er in ihm erst seinen alten Freund, »zehn Leute sollen in fünf Minuten fertig sein. Nehmt nur einen Augenblick Platz!«
»Ich stehe wie auf glühenden Kohlen, Kapitän Flobert, macht schnell!«
Der Polizeikapitän eilte in den Nebenraum, in welchem sich etwa zwei Dutzend Polizisten befanden, die auf niedrigen Betten lagen oder an Tischen spielend und rauchend saßen. Denn sie mussten sich die Nachtwache entweder durch Spiel oder durch Schlaf vertreiben.
»Also, was gibt es, mein Freund?«, fragte Kapitän Flobert, als er wieder zu Sherlock Holmes zurückkehrte.
»Wie Ihr seht, habe ich meine Leute bereits alarmiert, ohne zu wissen, um was es sich hier eigentlich handelt. Aber wenn Sherlock Holmes zehn Leute verlangt und mich obendrein, so muss es sich um etwas Wichtiges handeln.«
»Ein Menschenleben ist gewiss nicht unwichtig«, erwiderte Sherlock Holmes ernst. »Kennt Ihr meinem jungen Freund Harry Taxon?«
»Ich kenne ihn, ein wackerer Bursche, hat schon jetzt Haare auf den Zähnen und schickt sich an, ein zweiter Sherlock Holmes zu werden.«
»Ist aber doch den Sandsackmännern in die Falle gegangen, muss also entschieden eine Dummheit gemacht haben. Ich sandte ihn hinter einer Dirne her, da es mich interessierte, wohin sie sich begeben würde, und, – ah, Kapitän Flobert, ich glaube, ich bin auf einer guten Fährte.«
»Auf einer Fährte? Wohin soll die Euch führen?«
»Habt Ihr nicht gehört, dass ich mich vor der Jury anheischig gemacht habe, die Unschuld des Lords William Rochester zu beweisen?«
»Ich las es. Es war ein starkes Stück, Sherlock Holmes, aber ich sagte mir: Wenn Sherlock Holmes eine solche Garantie gibt, dann muss er schon was wittern.«
»Meine Witterung war gut, Flobert, ich denke, ich werde ihn bald so mit beiden Händen halten; seht Ihr, so …«
»Wen werdet Ihr halten?«
»Den Räuber Miss Elisabeth Aberdeens. Ich bin heute hinter ihm her, aber da sind ja schon Eure Leute, lasst uns gehen.«
»Wo werden wir die Sandsackmänner treffen?«, fragte Flobert, als sie vor das Haus der Polizeistation traten.
»In einem alten Stall, siebzig Schritte von Hariman’s Zuckerlager am West-India-Dock entfernt!«
»Also doch!«, stieß Flobert hervor, »ich habe immer vermutet, dass es dort nicht recht geheuer ist, aber ich konnte die Schurken niemals fassen. Werden sie uns ins Garn gehen?«
»Das wird darauf ankommen, wie schnell wir sind«, gab Sherlock Holmes zur Antwort und stürmte dann durch die Nacht so schnell, dass der Polizeikapitän und seine Leute kaum zu folgen vermochten.
»Dort liegt das alte Nest«, stieß Sherlock Holmes hervor, indem er plötzlich stehen blieb und auf ein halb verfallenes Stallgebäude deutete. »Kapitän Flobert, Sie bleiben hier unten mit Ihren Leuten unter der Rampe des Zuckermagazins, ich will indessen zuerst allein hinüber, will ein wenig rekognoszieren.«
»Tut das, Sherlock Holmes. Habt Ihr Eure Pfeife bei Euch, damit Ihr uns ein Signal geben könnt?«
»Trage sie immer an einer kleinen Stahlkette. Wenn Ihr drei gellende Pfiffe hört, so kommt im Laufschritt!«
Der Polizeikapitän zog sich mit seinen Leuten unter die Rampe des Zuckermagazins zurück und verbarg sich dort.
Sherlock Holmes aber kroch auf Händen und Füßen wie ein Indianer an den Stall heran.
Alles dunkel, kein Laut war zu vernehmen.
»Sollten die Schufte ihren Versammlungsort schon verlassen haben?«, fragte sich Sherlock Holmes, »oder wollen sie mich in eine Falle locken? Jedenfalls wird es gut sein, die größte Vorsicht anzuwenden.«
So kam er bis dicht an den Stall heran, er hob sich empor, drückte sich fest an die Stallmauer und lauschte.
Nichts war zu vernehmen als ein seltsames Rauschen und Gurgeln, das aber Sherlock Holmes auf Rechnung der Wogen der Themse, die ja in unmittelbarer Nähe dahinrauschte, schrieb.
»Dieses Haus ist wie gemacht für Diebe und Räuber«, sagte sich der Detektiv, »kein Fenster, kein einziges. Holla, hier scheint ein Schiebefenster sich zu befinden. Brechen wir es auf.«
Sogleich hatte Sherlock Holmes sein Brecheisen in der Hand, setzte es an, und nach drei Minuten hatte er die Öffnung in der Tür losgelöst. Durch dieselbe schaute er nun in das Stallgebäude hinein, aber er vermochte keinen Menschen darin zu entdecken.
Er beschloss, die Tür zu öffnen, um einzutreten.
Zuvor aber drehte er seine elektrische Taschenlaterne auf und befestigte sie sich auf der Brust. Dann nahm er in die linke Hand seinen Revolver, und mit der Rechten probierte er so schnell wie möglich einen Dietrich nach dem anderen im Schloss der Tür.
Endlich hatte er den passenden Schlüssel gefunden, die Tür bewegte sich in den Angeln, Sherlock Holmes trat ein.
Tiefe Stille empfing ihn im Gebäude. Er leuchtete in alle Ecken, aber niemand war zu sehen.
»Das Gesindel hat sich ohne Zweifel für heute aus dem Versammlungslokal entfernt«, sagte sich Sherlock Holmes, »aber was haben sie denn mit Harry gemacht, haben sie den mit sich fortgeschleppt? He, Harry, Harry! Der arme Zunge ist nicht mehr hier, und ich habe seine Spur verloren. Flobert kann mit seinen Leuten ruhig wieder nach Hause gehen, denn heute ist gegen die Sandsackmänner nichts mehr auszurichten!«
Sherlock Holmes schritt wieder der Tür zu, wieder wunderte er sich über das Rauschen, das an sein Ohr drang. Plötzlich blieb er wie gebannt stehen, neigte das Haupt ein wenig zur Seite und lauschte.
War es ihm doch gerade, als hätte er einen leisen, wimmernden Laut vernommen, doch wurde derselbe schon in der nächsten Sekunde durch das Plätschern und Gurgeln des Wassers übertönt.
»Ruft hier ein Mensch um Hilfe?«, stieß Sherlock Holmes hervor, »aber wie wäre denn das möglich? Der Stall besitzt nur einen einzigen Raum, dort drüben gibt es doch keine Tür. Nein, nur die mittlere Wand. Es ist der Fluss, den ich beständig vernehme. Schnell also zu Flobert zurück!«
Sherlock Holmes wollte durch die Länge des Stalles eilen, da stolperte er plötzlich.
»Hoppla?«, riet er, »was ist denn das? Ein eiserner Ring? Bei Jove, er gehört zu einer Falltür, und so gibt es also einen Keller unter dem Stall.«
Sherlock Holmes streckte die Hand nach dem eisernen Ring aus, denn er war entschlossen, die Falltür zu öffnen, um einen Blick in den Keller zu werfen, obwohl er sich nicht viel davon versprach. Da zuckte der berühmte Detektiv plötzlich zusammen, und jeder Blutstropfen verließ seine Wangen.
»Sherlock Holmes, Sherlock Holmes!«, war es aus der Tiefe zu ihm emporgeklungen, »zu Hilfe, Sherlock Holmes, ich … ertrinke!«
»Harry, die Hunde haben dich in den Keller eingesperrt und das Wasser der Themse eingeleitet«, rang es sich mit einem Schrei über Sherlock Holmes Lippen, und dann …
Wie ein Rasender stürzte der Detektiv auf die Falltür zu, packte den eisernen Ring. Mit Riesenkraft zog er die Falltür, die sonst nur von vier Männern bewegt werden konnte, empor und …
Dumpf gurgelte ihm das Wasser entgegen, und seine weit geöffneten Augen waren mit Entsetzen erfüllt, als er in den schwarzen Schlund hinunterblickte, denn über die Stufen, die vom Keller aus in den Stall empor führten, wogte und wirbelte das Wasser, welches schon den ganzen Raum erfüllte.
Sherlock Holmes riss eine kleine silberne Pfeife aus der Westentasche hervor. Er gab drei gellende Pfiffe ab und stieg, so schnell er es vermochte, über die Treppe in den wassererfüllten Keller hinunter.
Kaum hatte er einige Schritte getan, so stand er bis zur Brust im Wasser.
Weit streckte er seine Hand aus, welche die Blendlaterne hielt, und ließ die Strahlen derselben über die schwarze Flut dahinzittern.
»Harry, mein Junge,« rief Sherlock Holmes schmerzlich bewegt, als er einen Körper bewegungslos inmitten der Wasserfläche erblickte. Hin und her wurde Harry geworfen von der Bewegung der durch die Unterströmung stets aufgewirbelten Flut und bald an die Wand des Kellers hinüber geschleudert, bald zur anderen hingetragen.
Sherlock Holmes warf sich vorwärts, ein paar Schwimmstöße brachten ihn bis an Harrys Körper, den er umschlang, fest an sich drückte und mit dem er dann die Treppe wieder zu gewinnen versuchte.
»Sherlock Holmes, wo seid Ihr?«, schrie Kapitän Flobert in diesem Augenblick in den Stall. »Was ist geschehen?«
»Schnell einen Riemen, einen Strick, zieht mich hinauf!«
»Teufel, da unten ist ja die Themse«, rief Flobert, indem er in den von Wasser erfüllten Keller schaute.
»Bildet eine Kette, Leute! Der Letzte reicht Sherlock Holmes die Hand und zieht ihn hinauf.«
Blitzschnell reihten sich sechs Polizisten aneinander, einer klammerte sich an die Hand des anderen, und derjenige, der am tiefsten stand, streckte den Arm möglichst weit aus.
Schnell packte Sherlock Holmes die Hand und ließ sich von der sechsfachen Kraft gegen die Gewalt des Wassers über die Treppe emporziehen.
»Gerettet«, stieß Sherlock Holmes schwer atmend hervor, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, »aber der arme Junge, glaube ich, wird das Verbrechen dieser Schufte mit dem Leben bezahlen müssen.«
Kapitän Flobert kniete schon neben Harry, der mit geschlossenen Augen bleich und bewegungslos dalag, und flößte ihm aus einem kleinen Fläschchen einige belebende Tropfen ein.
Andere Polizisten hatten sich neben ihm niedergekniet, entledigten ihn seiner Kleider, rieben und frottierten ihn, ohne die Geduld zu verlieren.
Das half.
Harry gab das massenhaft geschluckte Wasser wieder heraus, sogleich stellte sich die Atmung ein und Flobert, der den Samariterdienst ausgezeichnet verstand, erklärte ihn außer Gefahr.
»Besorgen Sie mir einen Wagen, ich muss ihn nach Hause bringen«, sagte Sherlock Holmes. »Flobert, lassen Sie die Tür schließen; die Schufte dürfen, wenn sie zurückkehren, nicht merken, dass man ihnen einen Besuch abgestattet hat. Auf diese Weise werden wir sie hier ein anderes Mal fangen können.«
Flobert konnte sich nicht genug darüber wundern, dass Sherlock Holmes bei dem großen Schmerz um Harry trotzdem noch die Geistesgegenwart besaß, an die Zukunft zu denken und jede Kleinigkeit, die zur Erreichung seiner Ziele führen konnte, zu beachten.
Zehn Minuten später hielt ein geschlossener Wagen vor dem Stall.
Harry, der noch immer bewusstlos war und offenbar irre redete, wurde sanft in denselben getragen. Sherlock Holmes nahm dem jungen Gefährten gegenüber auf dem Rücksitz Platz, und der Kutscher erhielt den Auftrag, zu Sherlock Holmes’ Wohnung zu fahren.
»Teufel, was redet er nur?«, sagte Sherlock Holmes während der Fahrt, indem er sich über den Patienten beugte. »Lass hören … wie … was sagt er?«
»Ein Brett schwimmt … ein Brett«, rang es sich über die Lippen Harrys, »zum Greenwich Hospital, zum Greenwich-Hospital … die Sandsackmänner!«
»Zum Greenwich-Hospital willst du, armer Junge?«, rief Sherlock Holmes, »nein, du sollst mir nicht in ein Krankenhaus; in meiner Wohnung bist du besser aufgehoben.«
Und mit einer Zärtlichkeit, die man dem sonst so rücksichtslosen Detektiv niemals zugetraut hätte, breitete er eine Decke, die der Kutscher ihm gegeben hatte, über dem von Nässe triefenden Körper Harry Taxons aus.