Führer durch die Sagen- und Märchenwelt des Riesengebirges 01
Max Klose
Führer durch die Sagen- und Märchenwelt des Riesengebirges
Mit zahlreichen Abbildungen aus dem Riesengebirge
Verlag von Brieger & Gilbers. Schweidnitz (Świdnica). 1887.
Überarbeitete Fassung
Vorwort
Der Führer durch die Sagen- und Märchenwelt des Riesengebirges soll eine Lücke in der Reiseliteratur über unser herrliches Gebirgsland schließen. Der unterzeichnete Verfasser ist von dem Gedanken ausgegangen, den geneigten Leser zu den sagen- und märchenumwobenen Plätzen in der Form einer Rundreise zu führen, die von Kynast ausgeht und zuerst den westlichen, dann den östlichen Teil des Gebirges durchstreift, aber an jedem nennenswerten Punkt, in Dorf und Stadt, auf Berg und Tal, Halt macht. Zur besseren Übersicht wurde der Inhalt in 15 Abschnitte gegliedert, von denen jeder einen Hauptpunkt mit seiner Umgebung behandelt, während der letzte den Rübezahlsagen gewidmet ist. Da der Umfang des Buches eine vorgeschriebene Anzahl von Druckbögen nicht überschreiten durfte, wurden die Sagen in knapper Form erzählt und nur den Rübezahlmärchen etwas mehr Spielraum eingeräumt. Das Inhaltsverzeichnis ist so gestaltet, dass man mit seiner Hilfe jede Sagen- und Märchenstelle sofort auffinden kann, und so dürfte der Führer durch die Sagen- und Märchenwelt des Riesengebirges den Freunden unserer schönen Heimat nicht unwillkommen sein. Die Herren Herausgeber haben dem Text noch eine große Anzahl von Abbildungen beigefügt, die zwar nur zum Teil mit demselben in Zusammenhang stehen, dem Touristen aber eine schöne Erinnerung an die schönsten Stellen des Gebirges sein werden.
Max Klose
I. Kynast und Umgebung
1. Der Burgname
An der Stelle, die heute von den Trümmern der Burg bedeckt ist, stand in grauer Vorzeit eine mächtige Kiefer. Unter einem Zweig derselben war eine Jagdhütte erbaut und von derselben völlig geschützt. Von diesem Riesenast erhielt der Berg seinen Namen, Kienast oder Kynast, der später auch auf die Burg Neuhaus übertragen wurde, die Herzog Bolko I. der Kriegerische im Jahre 1292 auf dem Berg errichten ließ.
2. Der Mauerritt
Die Burg Kynast war von einer hohen Mauer umgeben, die auf Felsvorsprüngen über der gähnenden Tiefe des Höllentales stand und zum Teil noch steht. Einst wettete der Burgherr, Ritter Bruno von Scharfeneck, ein wilder Geselle, im Rausch, er werde die Mauer bis zum Halbturm hinaufreiten. Er versuchte es, stürzte aber mit seinem Pferd in die Hölle und fand dort den Tod. Seine Tochter Kunigunde war ein schönes Fräulein, das nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihres Reichtums von Freiern umschwärmt wurde. Kunigunde liebte das ungezwungene Leben und dachte nicht daran, sich einen Ehemann zu wählen. Sie verspottete ihre Freier und schwor, nur denjenigen zum Mann zu nehmen, der das Wagnis, das ihren Vater das Leben gekostet hatte, bestehen würde. Die heiße Liebe vieler Ritter kühlte nach dieser Forderung ab, und einer nach dem anderen sattelte sein Ross und suchte sich anderswo eine Braut. Das Gerücht aber verbreitete sich im ganzen Land, und mutige Ritter lockte nicht die Liebe, sondern die Ehre, den verlangten Ritt über die Mauer zu wagen. Fräulein Kunigunde erklärte wohl, dass die Forderung nur gestellt sei, um den Freier ledig zu machen, und bat die Verwegenen, von dem Wagnis abzusehen. Aber vergeblich; die Welt sollte sehen, dass es noch kühne Ritter gab! Viele Adelige zogen zur Burg hinauf, wagten den Ritt und fanden im Höllengrund den Tod. Kunigunde gewöhnte sich daran und lachte über die Narren, die sich für sie opferten. Den Rat ihrer Freunde, das Blutbad durch eine Heirat zu beenden, schüttelte sie ab. Da kam Graf Adalbert von Thüringen (1263-1314) mit einem Knappen nach Kynast. Der schöne Ritter gefiel Kunigunde, und schon nach wenigen Tagen hielt sie um seine Hand an, weinte und bat ihn, den Mauerritt aufzugeben. Sie schlug vor, zu verkünden, dass er das Wagnis bestanden habe. Doch der Graf wies diese Lüge mit Entrüstung zurück, bestieg sein Ross und führte den gefährlichen Ritt tatsächlich aus. Kunigunde eilte dem Bräutigam mit offenen Armen entgegen. Doch ihre Freude währte nur kurz. Graf Adalbert erklärte ihr, er sei längst mit Margarete, der Tochter Kaiser Friedrichs II. verheiratet und habe den Ritt auf den Kynast nur unternommen, um dem schändlichen Treiben, das Deutschland schon um einen Teil seiner edelsten Ritter gebracht habe, ein Ende zu bereiten. Kunigunde sühnte die Blutschuld, die sie auf sich geladen hatte, indem sie wahnsinnig wurde und sich in die Hölle stürzte, die ihre kühnen Freier verschlungen hatte. Ihr Geist wandelt noch um Mitternacht ruhelos durch die Ruinen.
Das Ende dieser Sage wird auch anders erzählt. So soll sie in ein Kloster eingetreten sein und schwere Buße für ihren Frevel getan haben. Eine andere Deutung lässt Kunigunde, nachdem sie die Demütigung durch Landgraf Adalbert erfahren und einige Monate in Reue und Buße verbracht hatte, um den Freund Adalberts, den Ritter Hugo von Erbach, werben. Diesem schenkte sie Herz und Hand und lebte mit ihm glücklich, aber in stiller Zurückgezogenheit auf dem Kynast. Friedrich Rückert kennt noch eine vierte Deutung:
Der Ritter ritt von dannen, dem Ross gab er die Spor’n;
Das Fräulein Kunigunde,
Das Fräulein sah ihn reiten, verging vor Scham und Zorn.
Jungfräulein ist sie blieben zur Buße für ihren Stolz,
Das Fräulein Kunigunde!
Zuletzt hat sie verwandelt sich in ein Bild von Holz.
Ein Bild, anstatt der Haare bedeckt mit Igelhaut,
Das Fräulein Kunigunde von Kynast!
Das muss ein Fremder küssen, wenn er den Kynast schaut.
Wir bringen’s ihm zum Küssen, und wenn davor ihm graut,
Das Fräulein Kunigunde von Kynast!
Muss er mit Gold sich lösen, wenn er nicht küsst die Braut,
Das Fräulein Kunigunde!