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Der Taxidermist

Adrian Gmelch
Der Taxidermist

Schauerroman, Taschenbuch, Atma Edition, November 2023, 444 Seiten, 16,00 EUR, ISBN 9783000772078

Synopsis:
Auf den Spuren des größten Verbrechers des 19. Jahrhunderts – Cassegrain, der Waisenjunge, steigt zum genialen Taxidermisten auf und wird schon bald vom Sicherheitschef von Paris gnadenlos gejagt …
Die scheußlich-genialen Verbrechen eines Taxidermisten im Paris des 19. Jahrhunderts und dessen dramatische Suche nach der Konservierung des Schönen lassen eine Epoche Frankreichs lebendig werden, die an Groteskem, Makabrem und Vulgärem anderen finsteren Epochen in nichts nachsteht.
Die Geschichte des Sonderlings Cassegrain ist eine zum Gruseln, zum Nachdenken und zum Eintauchen in eine faszinierende Vergangenheit

Leseprobe

Auszug aus dem 2. Kapitel; Kontext: Der Waisenjunge Cassegrain wächst bei dem Müller Trouillard auf und wird dort von dessen Kindern gehänselt …

Eines Sommertages, es könnte im Juli 1825 gewesen sein, lag Cassegrain – Trouillard hatte wegen Windstille für den Nachmittag ausnahmsweise alle Tätigkeiten gestrichen – an dem besagten Bach unterhalb der Mühle. Sein langgezogenes schiefes Gesicht war von der Sonne ganz braun, Schweißperlen rannen an seinen Schläfen herab. Er beobachtete ein paar kleine, fast durchsichtige Fische im strahlenden Wasser, als er selbst die Lust verspürte, sich darinnen zu erfrischen. Er rollte sich in den kühlen Bach, tauchte unter, richtete sich aber schnell wieder auf. Das Wasser reichte ihm bis zum Bauchnabel. Schwimmen konnte er nicht; ganz geheuer war ihm die Lage nicht. Also kehrte er an seinen Uferplatz zurück, nachdem er sich erfrischt hatte. Sogleich war er wieder von den Eindrücken um ihn herum eingenommen. Sein Blick blieb an einem Insekt haften, das mit seinen beiden Flügelpaaren in der Luft stehen geblieben war. Die Flügel, leicht durchsichtig, schimmerten in der Sonne. Der hintere Körper des Insekts war von einem betörenden wachsartigen hellblau. Die Luftruhe dauerte nur kurz an. Es bewegte unabhängig voneinander die vier Flügel und flog in alle Richtungen, seitlich, rückwärts, nach unten. Ein wahres Spektakel; das Insekt war dermaßen schnell, dass Cassegrain nur noch einen indigofarbenen Punkt hin- und herflitzen sah. Auf einmal blieb der schillernde Körper in der Luft stehen. Der Junge sah ein kleineres Insekt, welches von den Beinen des größeren Vierflüglers gehalten und keinen Augenblick später direkt im weiteren Flug gefressen wurde. Fasziniert starrte Cassegrain auf die sich vor ihm abspielende Szene. Für manchen mag es brutal und makaber sein, zu sehen, wie das größere das kleinere Insekt verspeiste, doch für ihn war darinnen etwas Schönes zu erkennen, die Überlegenheit der Natur, welche nach bestimmten Regeln funktionierte. Nachdem der Vierflügler seine Beute gefressen hatte, zuckte sein bläulicher Körper kurz krampfhaft, so als ob er sich für die Nahrung bedankte.

Cassegrain hörte es hinter sich leise Rascheln, aber er war zu sehr mit dem Betrachten des phantastischen Insektes beschäftigt, um sich umzudrehen. Es packten ihn ein paar Hände und schubsten ihn brutal in den Bach. Aus den Augenwinkeln heraus sah er noch, wie das hellblaue Insekt instinktiv aufschreckte und in der Naturkulisse verschwand. Cassegrain schlug mit dem Kopf auf den Steinen im Bach auf, das Wasser dämpfte den Schock, trotzdem färbte es sich leicht rötlich. Er gestikulierte wild um sich, Wasser war in Nase und Mund eingedrungen, er musste husten. Als er es geschafft hatte, sich aufzurichten und Fuß zu fassen, hob er den Kopf aus dem Bach, nur um den hämischen Gesang der Zwillinge Trouillards im Chor zu hören: »Der Schandbalg, der Schandbalg, mit seiner Fratze, ist ins Wasser gefallen! Der Schandbalg mit der Fratze …«

Cassegrain lief das Wasser von den Haaren herab und mischte sich mit dem Blut aus der Kopfwunde. Es zürnte ihn, er hätte das Insekt gerne noch länger beobachtet, mehr über das Verhalten lernen mögen. Andererseits hatte er sich an die Beleidigungen und Hänseleien seiner »Geschwister« gewöhnt. Es hätte ihn gewundert, wenn Jean und Marie nicht in die Fußstapfen ihrer älteren Brüder getreten wären, sein deformierter Kopf war ein gefundenes Fressen für sie.

»Schau einmal Fratze, was ich hier habe!«, schrie der Junge schadenfreudig vom Ufer aus. Das Mädchen grinste. In seiner Hand hielt er ein kleines Kaninchen, das ängstlich umher starrte. »Willst du es haben? Das niedliche Tier …«

Cassegrain rührte sich nicht. Er beobachtete das Kaninchen – so rein in seiner Angst! Die großen dunklen Augen! Er wusste nichts anders zu tun, als zu nicken.

Da packte Jean das Tier am Hals, schloss beide Hände darum herum und drückte zu. Die Pfoten zuckten wild, mit aller Willenskraft setzte sich das Kaninchen zur Wehr, kämpfte verbissen gegen den Tod. Es zappelte, es piepste, es urinierte gar – bis es leblos herabhing.

»Hier das ist für dich, Schandbalg! Besser tot …«, schrie der Junge und warf ihm das Tier zu. Seine Schwester grinste nicht mehr, wirkte etwas benommen, stand aber weiterhin an der Seite ihres Bruders.

Der leblose Körper des Kaninchens platschte vor dem immer noch regungslosen Cassegrain ins Wasser. In der Sekunde, als das Tier den Überlebenskampf verloren hatte, war ihm all die königliche Eleganz entwichen. Die großen dunklen Augen strahlten nicht mehr. Das Kribbeln in Cassegrain, das er bei der Anwesenheit von Tieren so gerne spürte, war erloschen.

Jean lachte wild und schnitt groteske Grimassen, die wohl den entstellten Kopf seines »Bruders« darstellen sollten. Das Mädchen schloss sich ihm mit einem aufgezwungenen Grinsen an. Sie wussten, was der Bastard für Tiere empfand. Sein stundenlanges, regungsloses Beobachten von Insekten, Fischen, Vögeln oder Kaninchen war ihnen nicht entgangen. Seine Freude beim Streicheln der Maultiere und Pferde auch nicht!

In Cassegrain brach eine nie gekannte Wut aus. Er sah nur noch das leblose Tier vor sich, das Spotten von Jean, die Feigheit der Schwester. Die Mühle und Trouillard, der Bach und Frau Bonard, all das verflog aus seinem Kopf, was übrig blieb war ein Zorn so mächtig wie die ältesten Apfelbäume, so tief wie die dichtesten Wälder. Immer noch regungslos stehend, tauchte eine Hand von Cassegrain vorsichtig ab und griff nach einem faustgroßen Stein am Bachgrund. Während die Geschwister weiter lachten und sich bereitmachten, zu verschwinden, zog er blitzschnell die Hand aus dem Wasser und warf den Stein mit all seiner Kraft nach dem Kaninchenmörder. Den Jungen erwischte das Geschoss am Kinn. Kreischend ging er zu Boden und spukte Blut. Das Mädchen, in Panik, rannte schreiend davon. Cassegrain war zwischenzeitlich aus dem Bach gesprungen und hechtete auf den verletzten Jean im Gras. Seine Schwester ignorierte er, die außer Atem weiter weg kreischte: »Vater! Vater! Der Schandbalg … er hat Jean erwischt …«

Cassegrain drückte den Jungen auf die Erde, der vor Schmerz brüllte und versuchte, seinen Peiniger abzuschütteln. Die vom Kämpfen blutverschmierten Hände umschlossen Jeans Hals und der Schandbalg – wie sie ihn nannten – drückte zu, fester und fester. Der Junge röchelte, die Augen quollen hervor. Arme und Beine zappelten, er versuchte sich zu drehen, packte schließlich Cassegrains Hände und zerrte an ihnen. Doch dieser ließ nicht locker. Mit letzter Kraft hob Jean seine Arme, griff nach dem Gesicht seines Angreifers und kratzte und schlug es, wie er nur konnte. Aber die Finger von Cassegrain hatten sich in den Hals des Jungen regelrecht verbissen, wie beim stundenlangen Liegen am Bach rührte er sich nicht. Den Schmerz in seinem Antlitz spürte er kaum. Er war ein Fels in einer Brandung. Bis ihn auf einmal von hinten zwei Arme ergriffen und gewaltsam von Jean zerrten. Es war Trouillard, der durch die Schreie der Schwester alarmiert worden und seinem Sohn zur Hilfe geeilt war. Als er sah, dass sich dieser nicht mehr rührte, das Gesicht voller Blut und der Hals eingedrückt war, packte er Cassegrain und warf ihn zur Seite. Der vor Wut immer noch blinde Junge sah nun hinter dem halbnackten Trouillard die ebenfalls halb entblößte Frau des Bäckers. Die Haare tanzten in der Luft, die grünen Augen starrten besorgt zu ihm, ihre nackte Brust loderte in der Sonne. Was für ein umwerfendes Geschöpf! Wie hatte er ihre Anwesenheit nur verpassen können? Was war passiert? Verwunderung machte sich breit, sein Zorn verflog und ein heller Schmerz breitete sich urplötzlich in seinem Gesicht aus. Die Wut in Trouillard stieg hingegen in gefährliche Hemisphären auf und Cassegrain blickte wenige Lidschläge später nicht mehr auf die umwerfende Frau Bonard, sondern in die zwei vor Hass blitzenden Stieraugen des Müllers, als ihn ein Faustschlag am linken unteren Kiefer traf, der ihn zur Seite schleuderte. Jetzt war er an der Reihe, Blut zu spuken. Trouillard, zweimal so groß und dreimal so schwer, warf sich auf ihn und prügelte ihn beinahe zu Tode, wäre eben diese reizende Madame Bonard nicht dazwischen gegangen. Sie zerrte ihren Liebhaber an der Schulter und meinte besorgt: »Jean! Er bewegt sich, er hustet! Schau!«

Trouillard ließ von dem zusammengekrümmten Cassegrain ab und kroch zu seinem röchelnden Sohn. Wäre Jean nur etwas später wieder zu sich gekommen, sein Vater hätte das Jahrhundert vor einigen scheußlichen Verbrechen bewahren können!