Stephen King – Holly
Thriller, Hardcover, Heyne Verlag, München, September 2023, 640 Seiten, 28 EUR, ISBN: 9783453274334. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
»Ich kann mich einfach nicht von Holly verabschieden. In Mr. Mercedes sollte sie eigentlich nur eine Nebenrolle spielen,
aber irgendwie hat sie das Buch übernommen und mein Herz gestohlen. In Holly geht es ganz um sie.«
Stephen King
34 Jahre, nachdem er auf den fiktiven Schriftsteller Thaddeus Beaumont in Stark – The Dark Half dessen eigene Kreation respektive dessen eigenes Pseudonym hetzte, darf King die andere Seite erleben; freilich ohne Konsequenzen für Leib und Leben, aber sehr wohl für die Dame, die Dreh- und Angelpunkt des Buches ist: Holly Gibney. Die ständigen Leser (wie King die treuen Anhänger bezeichnet) erinnern sich gewiss noch an Hollys Auftritt vor nunmehr fast einem Jahrzehnt im Auftakt der sogenannten Bill Hodges-Trilogie, Mr. Mercedes. Schüchtern aufgrund von jahrzehntelanger, ungehindert kultivierter Minderwertigkeit und daraus resultierenden Entwicklungsstörungen waren der messerscharfe Intellekt und die überdurchschnittlich hohe Gedächtniskapazität unter Tonnen von persönlichen Altlasten begraben worden, die erst der alternde Privatermittler Bill Hodges ausmachte und förderte – so sehr, dass Holly zu Hodges Partnerin aufstieg.
Was vermag eine globale Pandemie wie COVID-19 das Alltagsleben unter einem Narzissten wie Donald Trump und die sonstigen mittel- bis schweren weltweiten Krisen bei jemandem wie Holly Gibney bewirken? Wo findet sich im Jahre 2021 eine Schulter zum Ausweinen und ein verständnisvoller Zuhörer? Bei Holly schlagen weder landesweiter Lockdown noch das vorgeschriebene Social Distancing oder die Maskenpflicht aufs Gemüt. Ihre Einsamkeit resultiert aus tiefen persönlichen Verlusten, die aufzeigen, dass es immer schlimmer kommen kann – selbst, wenn viele US-Bürger dies vollkommen anders erachten.
Inmitten dieser Lebenskrise bittet Penny Dahl die Privatermittlerin, nach ihrer vermissten Tochter Bonny zu suchen; einer lebensfrohen wie aufgeweckten Bibliothekarin, die eigentlich nicht den geringsten Grund besitzt, mit ihrem Leben abzuschließen – doch eben diese Schlüsse ergeben die vorhandenen Indizien. Nein, Begeisterung sieht anders aus, zumal Hollys Partner Pete mit COVID flach liegt, doch kann Holly die Bitte der Frau nicht abschütteln und willigt ein; auch, um die eigenen Nöte auf Distanz zu halten. Seelenreinigung durch nüchterne Detektivarbeit sozusagen – und inmitten einer Pandemie sogar noch ernüchternder und dröge als gewöhnlich. Vorerst. Zumal Holly viele der eigenen Mitbürger und Nachbarn unter vollkommen anderen Aspekten zu sehen beginnt; ja, die eigene Heimatstadt. Einzig der verborgene, der wahre Schrecken bleibt ihr verborgen, obwohlh er gewissermaßen nebenan residiert …
Viele Kritiker bemängeln Kings diesmal scheinbar übermäßig erhobenen Zeigefinger; seinen Groll gegenüber Ungeimpften, Impf- wie Maskengegnern und Trump-Fanatikern; es wird von falschen Moralvorstellungen geredet, von Pseudo-Moral und mehr. Kings Antwort? Nur zu. Zwischen den Zeilen ist deutlich: King ist auf Krawall gebürstet – und dies aus triftigen Gründen. Auch persönlichen, allen voran dem Verlust seines langjährigen Agenten und Freundes Chuck Verrill Anfang 2022. Die Bitterkeit, resultierend auch aus einer Gesellschaft, die in erschreckend großen Teilen deutlich die eigene Ignoranz, Lügenmärchen und Egoismus über Fakten und insbesondere Solidarität setzten und setzte und zum Beispiel den Vorgang einer Bestattung mit tatsächlich anwesenden Trauergästen dazumal unmöglich machte, ist zwischen den Zeilen überdeutlich. Mit Pseudo-Moral hat dies nicht das Geringste gemein. King wirkt vielmehr wie Holly selbst: Hilf- wie fassungslos über ein der Barbarei bis hin zur Idiotie anheimgefallenes Land, das die falschen Versprechen der Dorftrottel mit religiösem Fanatismus anschmachtet. Was ist mit uns geschehen; wann ist es mit so vielen von uns geschehen? Wieder beziehungsweise noch immer analysiert, ja seziert er die Allgemeinheit, hält ihr den Spiegel vor, beschönigt nichts. Alles im Zuge einer klassischen, im Mittelteil mithin leicht spröden Ermittlerstory – beinahe. Doch dazu in Kürze mehr. Wer kein ständiger Leser ist, wird bei den diversen Namenserwähnungen, allen voran Brady Hartsfield, dem Schurken der Mr. Mercedes-Saga, mancherorts aus dem Takt geraten, wobei Kings Stil und seine besonders im Finale des Romans ungezähmte Erzähllust und -freude derlei Schönheitsfehler übertünchen. Ja, dieses Finale. Denkwürdig umschreibt es wohl am ehesten. Platzierte King die Horror-Wurzeln zuvor sparsam, aber minutiös, platzt es da schier aus ihm raus. Heftiges und deftiges Seit‘ an Seit‘ mit Widersachern, denen man solche Dinge nie zutrauen würde, andererseits aber die Hubris der Gesellschaft in sich tragen. Doch genau darin liegt – auch – die Stärke von Holly und so vielen anderen Werken aus Kings magischer Feder: Er zeigt uns die wahren Monster; die wahren Untiefen der Seele, bei ihm ist der Mensch das einzige Scheusal, das sich in Sachen Grausamkeit stets übertrifft. Hier hat King Denkwürdiges geschaffen. Zu Recht. Was wäre eine, wenn auch auf dem zweiten Blick, so spannende, interessante und resolute Heldin wie Holly ohne adäquate Gegenparts? Eben.
Hoffen wir, dass wir von ihr in Bälde mehr lesen dürfen. Ein besseres Kompliment kann man einem Schriftsteller wohl (kaum) machen. Sehr gut!
(tsch)