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Deutsche Märchen Nr. 2

Karl Simrock
Deutsche Märchen
Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung, Leipzig, 1864

2. Das Königskind

Ein Soldat träumte, er solle sich verabschieden, das sei sein Glück. Er ging zu seinem Hauptmann und bat um seinen Abschied. Der aber überredete ihn, noch zu bleiben, versprach, ihn zu befördern, und machte ihn zum Korporal. Der Soldat ließ sich beraten, aber in der Nacht träumte er wieder, er solle um seinen Abschied bitten, sonst könne er sein Glück nicht finden. So ging er wieder zum Hauptmann und drängte auf seinen Abschied. Der Hauptmann aber sagte, er solle bleiben, er könne es noch bis zum General bringen, und machte ihn auch gleich zum Korporal. Wieder ließ er sich überreden. Als er aber in der Nacht wieder träumte, er müsse seinen Abschied nehmen, sonst könne er sein Glück nicht finden, ging er zum dritten Mal zum Hauptmann und bestand auf seinem Abschied, den er nun auch wirklich bekam.

Bald machte er sich auf die Wanderschaft und kam in eine Hauptstadt, wo alles mit schwarzen Tüchern bedeckt war. Da ging er in ein Wirtshaus und fragte, was die schwarzen Tücher bedeuteten, die an allen Häusern hingen.

Da sagte der Wirt, die Tochter des Königs sei schon vor der Geburt verflucht worden. Als sie auf die Welt gekommen sei, habe sie sofort zu sprechen begonnen und dem König gesagt, dass sie innerhalb von drei Tagen sterben müsse. Dann solle er sie vor dem Hochaltar begraben lassen und jede Nacht eine Schildwache dorthin schicken; auch solle er ein gebratenes Kalb mit einem Fass Wein auf den Tisch stellen lassen. Das sei auch geschehen; aber jeden Morgen sei der Schildwache das Genick gebrochen worden. Darum wolle nun niemand mehr die Schildwacht halten, obwohl der König habe ausrufen lassen, wer sein Kind erlöse, der solle sie zur Frau nehmen und nach seinem Tode das Reich erben.

Der Soldat sagte, so solle er dem König melden, ein Korporal biete sich an, heute Nacht die Wache zu übernehmen. Der Wirt sah ihn mit großen Augen an und sagte, dann müsse er aber viel Mut haben.

Ja, das habe er, er müsse nur gleich mit ihm zum König gehen.

Da brachte ihn der Wirt zum König. Der freute sich sehr, gab ihm Tschako, Gewehr und Patronentasche und bestimmte ihm die Stunde, wann er in die Kirche kommen sollte.

Als nun die Stunde schlagen sollte, wurde ihm doch ein wenig grau. So ging er ins Wirtshaus und trank sich erst einmal Mut an.

Da warnte ihn der Wirt noch einmal, er werde sicher umkommen, wie alle vor ihm.

Endlich bekam er solche Angst, dass er sich kurz entschloss und in voller Montur hinausging. Als er aber vor das Tor kam, hörte er hinter sich eine Stimme rufen: »Johann, Johann, wo willst du denn hin? Das ist nicht der Weg zum Posten. Wenn du nicht gehst, wirst du dein Glück nicht finden.«

Holla, dachte er, so hängt es zusammen, da willst du lieber hin. Er wandte sich wieder um und ging bis dicht vor die Kirche. Da rief ihm dieselbe Stimme noch zu, er solle nur fleißig vor dem Altar auf und ab gehen, aber drei Viertel vor Zwölf das Gewehr ablegen, Patronentasche, Säbel und Tschako daran hängen und sich auf die Kanzel setzen. Dann, mit dem Schlag Zwölf, werde sich der Sarg erheben, der Deckel werde sich öffnen, und das Königskind werde herauskommen und ihn suchen. Aber wenn er ruhig bleibt, wird es ihn nicht finden.

Das tat der Korporal, schritt fleißig vor dem Hochaltar auf und ab, legte um dreiviertel Zwölf sein Gewehr ab, hängte Patronentasche, Säbel und Tschako darüber und setzte sich auf die Kanzel.

Da hob sich mit dem Schlag Zwölf der Sarg, der Deckel schlug zurück, das Kind trat heraus, sah sich um und sprach: »Mein Vater hat mir heute die Schildwacht geschickt, aber weder das gebratene Kalb noch das Fässchen Wein; auch weiß ich nicht, wo die Schildwacht geblieben ist. Schildwacht, melde dich!«

Dem Korporal lief ein kalter Schauer über den Rücken, aber er schwieg und gab keinen Laut von sich.

Nun schwebte das Kind mitten durch die Kirche zur Orgel und fing an zu spielen und spielte fast eine Stunde. Dann schwebte es wieder durch die Kirche zurück, sah den Soldaten auf der Kanzel und rief: »Schildwacht! Schildwacht! Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich habe jetzt keine Zeit mehr, sonst wird dir übel!«

Da schlug es ein Uhr, der Sarg schloss sich und fuhr hinab. Nun war die Luft rein, der Korporal stieg von der Kanzel herab und patrouillierte wieder fleißig vor dem Hochaltar auf und ab.

Am Morgen kam der König mit vier schwarzen Rappen und stieß den Schlüssel in die Kirchentür.

Der Korporal rief: »Wer ist da?«

»Guter Freund«, sagte der König, »lebst du noch? Ei! Das freut mich! Du kannst mein Kind noch retten.«

Da musste er mit dem König in den Wagen steigen und mit ihm ins Schloss fahren, wo er köstlich bewirtet wurde.

Dann sagte der König, er dürfe nun nach Herzenslust spazieren gehen oder reiten, aber abends müsse er wieder in der Kirche auf Posten sein.

Als nun die Stunde kam, war es ihm noch nicht recht heimlich, und er ging wieder in das Wirtshaus, um sich guten Mutes zu trinken.

Da sagte der Wirt, einmal sei es ihm gelungen, aber er solle sich nicht darauf verlassen, sonst müsse er am Ende doch daran glauben, so wie die anderen alle. Da packte ihn wieder die Furcht, und er machte sich wieder mit Sack und Pack auf den Weg, nahm aber diesmal einen anderen Weg, um der Stimme auszuweichen.

Aber kaum war er vor dem Tor, da hörte er sich wieder bei seinem Namen rufen: »Wo willst du hin, Johann? Hier ist nicht der Postenweg. Wenn du nicht gehst, wirst du dein Glück nicht finden. Nimm dich in Acht, ich will dir auch sagen, was du tun musst, damit dir kein Leid geschieht. Verbirg dich, wenn die Glocke zwölf schlägt, hinter dem heiligen Johannes auf dem Hochaltar, da kann dich das Kind nicht sehen.«

Da kehrte der Korporal wieder um und ging in die Kirche, wo er vor dem Hochaltar fleißig auf und ab patrouillierte und es in allen Stücken hielt wie gestern, nur dass er diesmal hinter dem heiligen Johannes auf den Hochaltar ging.

Mit dem Zwölferschlag erhob sich der Sarg und öffnete sich, das Kind trat heraus, sah sich um und sagte: »Mein Vater hat mir heute zwar die Schildwacht geschickt, aber weder das gebratene Kalb noch das Fässchen Wein; ich weiß auch nicht, wo die Schildwacht ist. Schildwacht, melde dich!«

Aber der Schildwächter schwieg und gab keinen Laut von sich. Da schwebte das Kind durch die Kirche zur Orgel und fing an zu spielen und spielte fast eine Stunde. Dann schwebte es von der Orgel zur Kanzel zurück und blies die Kanzel an, dass sie herabstürzte und in tausend Stücke zerbrach. Als es aber nach dem Hochaltar kam, sah es die Schildwacht hinter dem heiligen Johannes sitzen und rief: »Schildwacht! Schildwacht! Warum hast du dich nicht gemeldet? Hättest du mir noch einen Augenblick Zeit gelassen, so wäre es dir schlecht ergangen. Jetzt muss ich wieder in meinen Sarg!«

Als nun der Deckel zuschlug und der Sarg hinabfuhr, stieg der Korporal hinter dem heiligen Johannes wieder vom Hochaltar herab und patrouillierte auf und ab, bis es hell wurde. Da kam der König mit sechs schwarzen Groschen und nahm den Korporal freundlich in seinen Wagen. Der sagte ihm, dass das Kind nun schon zum zweiten Mal den Tisch mit dem gebratenen Kalb und dem Fässchen Wein vermisst habe; warum er sie nicht in die Kirche stellen lasse?

»Ja«, sagte der König, »das habe er auch gleich nach der Geburt verordnet; weil es aber immer nichts davon angerührt habe, sei es zuletzt in Vergessenheit geraten. Morgen aber solle es an nichts fehlen, er wolle sich nur rechtzeitig einstellen.«

Da ging der Korporal am Abend wieder ins Wirtshaus, um sich frischen Mut zu trinken, denn wieder war er damit nicht ganz im Reinen.

Der Wirt aber machte ihm diesmal so viel Angst, dass er zum dritten Mal mit Sack und Pack ausriss und wieder durch ein drittes Tor hinauslief; dort, meinte er, würde er der Stimme wohl nicht begegnen.

Aber kaum war er draußen, da hörte er sie auch schon rufen: »Heda, Gesell, willst du denn deinem Glück aus dem Wege gehen? Morgen kannst du heiraten und König werden, wenn du nur diesmal durchhältst. Ich will dir auch sagen, was du zu tun hast. Versteck dich nur im Beichtstuhl, ehe es zwölf schlägt; ehe aber das Kind von der Orgel kommt, lege dich in seinen Sarg, so kann dir nichts geschehen.«

Da ging der Korporal getrost in die Kirche, patrouillierte bis dreiviertel Zwölf vor dem Hochaltar auf und ab, hängte dann Patronentasche, Säbel und Tschako an sein Gewehr und versteckte sich hinter dem Beichtstuhl.

Schlag Zwölf fuhr der Sarg hoch und sprang auf, das Kind kam heraus, sah sich um und rief: »Mein Vater hat mir heute nicht nur die Schildwacht geschickt, sondern auch den Tisch mit dem gebratenen Kalb und dem Fässchen Wein; aber die Schildwacht sehe ich wieder nicht. Schildwacht, melde dich!«

Aber die Schildwacht schwieg und gab keinen Laut von sich.

Da setzte sich das Kind an den Tisch und aß den ganzen Kalbsbraten mit einem Bissen auf und trank auch das Fässchen Wein aus. Dann schwebte es durch die Kirche nach der Orgel und spielte; aber nur wenige Töne, so dass der Korporal kaum Zeit hatte, vom Beichtstuhl zum Hochaltar zu gehen, wo er sich in den offenen Sarg legte.

Da schwebte das Kind schon wieder durch die Kirche und blies den tönernen Johannes an, dass er vom Hochaltar fiel und in tausend Stücke zerbrach. Als es aber an den Sarg kam, sah es die Schildwacht da liegen und rief: »Schildwacht, steh auf, das ist mein Platz!«

Aber die Schildwacht rührte sich nicht. Kaum hatte es eins geschlagen, da legte sich das Kind auf den Soldaten in den Sarg. Aber es war eiskalt und schwer wie Blei. Da schlug der Deckel zu, und der Sarg fuhr hinab, und das Kind blieb auf dem Korporal liegen, bis es wieder seine natürliche Wärme und Schwere hatte. Denn es fing an zu wachsen, und je größer es wurde, desto leichter wurde es, und desto mehr verschwand die Kälte.

Endlich war es eine blühende Jungfrau von zwanzig Jahren geworden. Da hob sich der Sarg, der Deckel schlug zurück, und die schöne Jungfrau sprang heraus, reichte dem Schildwächter die Hand und sprach: »Schildwächter, steh auf, du hast mich erlöst, nun sollst du mein Gemahl werden.«

Damit zog sie ihn zu sich und gab ihm den Mund zum Kuss. Hatte er da nicht sein Glück gemacht?

Inzwischen war es Morgen geworden: Da kam der König mit acht schwarzen Rappen gefahren, und als er seine Tochter erlöst fand, schickte er den Kutscher mit dem Wagen zurück und befahl, acht weiße Schimmel vorzuspannen. Dann ließ er den Korporal mit der jungen Königin einsteigen, setzte sich dazu und fuhr zum Schloss. Da wurde ein großes Festmahl bereitet und in der Stadt verkündet, die Königstochter sei erlöst, und der sie erlöst habe, solle sie zum Altar führen und Nachfolger des Königs werden. Da war großer Jubel, die schwarzen Tücher wurden mit roten vertauscht, und alles Volk drängte in die Kirche, um der Hochzeit beizuwohnen. Dann wurde die Hochzeit mit so großer Freude gefeiert, dass wenig gefehlt hätte, wäre ich auch dabei gewesen.