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Der Detektiv – Band 26 – Doktor Satanas – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Doktor Satanas

Teil 2

Der Haushalt Schliepners war wie der aller höheren Kolonialbeamten, ähnlich wie man dies in Indien findet, durch Großzügigkeit, Behaglichkeit und eine Unmenge Diener ausgezeichnet. Diese, sämtlich Farbige, führten das faulste Leben von der Welt. In einem Junggesellenheim, wie dem des Detektivinspektors, wo der Hausherr so häufig abwesend war, musste jemand vorhanden sein, der die Oberaufsicht über dieses Dutzend javanischer Diener sowie über den Herrn Küchenchef, einen Chinesen und dessen Leibgarde von sechs bis acht Küchenjungen führte. Dieser Hausmeister war ein ehemaliger Polizeiwachtmeister, ein Holländer namens Swaardam, der den Dienst hatte quittieren müssen, weil ihm bei einem Unternehmen gegen malaiische Schmuggler die rechte Hand abgehackt worden war. Diese Hand bewahrte Swaardam, ein kleiner, fetter Mann mit rotblondem Vollbart, in einem Glas in Spiritus sorgfältig auf. Er war ein sehr komischer Herr, dieser Pieter Swaardam. Und bereits zehn Minuten nach unserer Ankunft hatte er uns stolz seine in Spiritus liegende Hand gezeigt und erklärt: »Es ist mein Orden. Wenn ich mal sterbe, muss die Hand auf einem Kissen meinem Sarg vorangetragen werden.«

Als wir noch bei Tisch saßen, erschien Pieter Swaardam abermals und meldete, dass er nun für den gestern ausgekniffenen zweiten Kutscher einen Ersatz gefunden hätte, einen Javaner aus Surabaja, der dort bei einem englischen Kaufmann längere Zeit in Dienst gestanden habe.

Der dicke, kleine Hausmeister hatte uns gerade bei einer Erörterung der Einzelheiten der Ermordung des Doktors Drygaarden gestört. Als Swaardam wieder verschwunden war, teilte uns Landsmann Schliepner nun auch mit, weshalb er gegen die Prinzessin Shorikindio Verdacht geschöpft hätte. Erstens wäre es stadtbekannt, dass ihr Verhältnis zu ihrem Mann das denkbar schlechteste sei. Doktor Satanas sei auch kein Charakter, mit dem eine Frau von Feingefühl und Gemüt eine auch nur nach außen hin friedliche Ehe führen könnte. Gerade weil er in seinem Wesen so viele abstoßende Züge habe und weil er auch alles andere, oft nur kein Adonis sei, besitze er eine krankhafte Eifersucht, mit der er seine Gattin beständig in einer erst lächerlichen Weise quäle.

»Den alten Grundsatz der Kriminalisten«, fuhr Schliepner fort, »bei jedem Verbrechen innerhalb einer nicht ganz einwandfreien Ehe zunächst mit Cherchez la femme zu operieren, also den weiblichen Teil scharf unter die Lupe zu nehmen, befolgte ich natürlich bei Vorliegen so besonderer Verhältnisse auch hier. Deshalb schickte ich sofort zwei Beamte nach Surakarta und ließ heimlich Erkundigungen einziehen, wo die Prinzessin in der betreffenden Nacht – es war die Nacht vom Dienstag zum Mittwoch – geweilt hätte. So kam denn heraus, dass Frau Drygaarden am Montag früh mit zwei Dienern zur Jagd auf Wasserbüffel nach den nördlich gelegenen Bergen und Sümpfen aufgebrochen war. Sie ist eine sehr eifrige Jägerin, genauso, wie sie auch allerlei anderen Sport treibt. Sie werden sie selbst kennen lernen, Herr Harst. Nehmen Sie sich aber in Acht: Sie ist ein verführerisches Weib, und vor ihrer Schönheit ist schon mancher eingefleischte Junggeselle und Frauenhasser zum heißblütigen Verehrer ihrer Reize und zum unbefriedigten Lobredner der Ehe geworden. Die Prinzessin hatte also Montag früh, zwei Tage vor dem Mord, zu Pferde das Schloss ihres Vaters in Surakarta verlassen. Sie kehrte am Mittwochvormittag gegen elf Uhr zurück. Ihre beiden Jagdbegleiter, zwei langjährige Diener ihres Vaters, sollten dann sofort, behauptet sie, um Urlaub gebeten haben, um ihre Eltern irgendwo im Inneren besuchen zu dürfen. Die beiden Javaner sind denn auch eine halbe Stunde nach der Heimkehr der Prinzessin, die inzwischen von mir telefonisch von dem Verbrechen benachrichtigt worden war, auf zwei ihnen von dem Radscha zur Verfügung gestellten Bergponys davongeritten, sodass für die Behauptung der Frau Doktor Drygaarden, sie habe die fragliche Nacht in ihrem Jagdgebiet zugebracht, nur ihr eigenes Zeugnis als Beweis vorhanden war. Ich telegrafierte dann sofort zu der Militärstation, die dem Heimatdorf der Eltern jener Diener am nächsten liegt, und ersuchte um die Vernehmung der beiden Javaner, die inzwischen längst dort hätten eingetroffen sein müssen. Die Antwort erhielt ich gestern Nachmittag: Die Diener waren nicht in jenem Gebirgsdörfchen und konnten auch auf der Straße, die für sie die geeignetste war, durch eine Patrouille nirgends gefunden werden. Dieses Antworttelegramm las ich der Prinzessin vor, die denn auch deutlich verlegen wurde, sich aber ebenso schnell wieder fasste und erklärte, sie sei doch nicht dafür verantwortlich zu machen, dass diese Zeugen nicht gefunden würden, worauf ich ihr eröffnete, ich müsste ihr leider verbieten, vorläufig ihre Gemächer zu verlassen; von einer Verhaftung wolle ich zunächst noch Abstand nehmen.

Ihre Erwiderung bestand einzig und allein in einem schmerzlichen Blick und einem tiefen Seufzer. Sie ist jetzt also eine halbe Gefangene. Das Haus wird von meinen Leuten bewacht. Eine Flucht der Prinzessin ist ausgeschlossen. Sehr bald nach dieser höflicherweise ein wenig verschleierten Verhaftung schickte sie mir einen Brief zu, indem sie die Bitte aussprach, ich möchte doch versuchen, ob nicht vielleicht Sie, Herr Harst, sich dieses Falles annehmen würden. So – das wäre alles.«

Harst schüttelte jetzt den Kopf. »Lieber Landsmann, Ihren Verdacht gegen die Prinzessin teile ich nicht. Sie besitzen gegen sie als Belastungsmaterial lediglich die eine Tatsache, dass der Aufenthalt der Prinzessin während der kritischen Nacht nicht einwandfrei festzustellen ist. Sie argwöhnen, sie hat die beiden Diener absichtlich aus Surakarta entfernt, damit diese nicht vernommen werden können. Gewiss: Auf den ersten Blick erscheint dies recht bedeutungsvoll. Aber – alles kann auch vielleicht eine sehr harmlose Erklärung finden. Wie wäre es, wenn wir jetzt sofort uns zu dem Haus des Doktors begeben würden. Dass es Abend ist, stört mich nicht. Das Haus hat elektrische Beleuchtung. Ich kann also in Augenschein nehmen, was mir wichtig dünkt, und die Prinzessin dürfte ja auch wohl noch zu sprechen sein.«

August Schliepner machte ein etwas betretenes Gesicht.

»Donnerwetter«, meinte er, »sollte ich wirklich einen so groben Bock geschossen haben? Das wäre mir sehr peinlich. Ich bin stets so überaus vorsichtig bei Amtshandlungen. Sie hätten nur sehen sollen, Herr Harst, wie verlegen die Prinzessin wurde! Es war sogar mehr als Verlegenheit; es war schon beinahe schuldbewusste Angst, die aus ihren Mienen sprach. Bedenken Sie auch: Nur die Prinzessin war ja mit den vier außerordentlich bissigen Doggen, die nachts regelmäßig im Garten des Doktors frei umherschweifen, so vertraut, dass sie sich über die hohe Mauer auf das Grundstück wagen durfte. Die Doggen waren ihr Eigentum. Ihr Vater, der Radscha, besitzt eine Hundezucht, die weithin berühmt ist.«

»Und auch wohl eine förmliche Menagerie«, fügte Harst hinzu. »Letztens ist ja bei einem Tierkampf in der Arena des Fürsten ein Unglück passiert. Ich las davon in der Bataviapost

»Ganz recht, Herr Harst, ein Tiger benutzte eine schadhafte Stelle des Eisengitters zum Entweichen und …«

»Schon gut. Brechen wir auf, lieber Schliepner, sonst wird es immer später. Über den Unfall bei dem Tierkampf sprechen wir ein andermal. Ganz unter uns: Die Geschichte ist nicht sauber, wie man zu sagen pflegt.«

»Wie? Nicht – sauber? Was heißt das?« Der Kriminalinspektor war aufgesprungen.

»Nun – es mag das meinerseits auch ein irrtümlicher Verdacht sein«, meinte Harst. »Lassen wir das jetzt aber. Mich interessiert des Doktors Schlafzimmer zurzeit weit mehr.«

Es war kurz nach acht Uhr abends, als wir drei durch die hell erleuchtete Hauptstraße des sogenannten Regierungsviertels zu Fuß dem Bungalow Doktor Drygaardens zuschritten. Der Weg stieg sehr bald steil an. Die Häuser zu beiden Seiten wurden seltener.

Harst, der links neben Schliepner ging, während ich an dessen rechter Seite mich hielt, war sehr schweigsam. Schliepner erzählte von seiner dienstlichen Tätigkeit mancherlei Interessantes. Harst warf nur einmal eine Frage ein, die jedoch gar nicht zu unserem Thema, das Schliepner und ich gerade erörterten, passte.

»Woher mag die Prinzessin erfahren haben, dass ich in Batavia weilte, oder besser: Woher mag sie überhaupt meinen Namen kennen und wissen, dass ich aus Liebhaberei den Detektiv spiele?«, lautete diese Frage.

»Das vermag ich nicht zu sagen«, erwiderte unser Landsmann achselzuckend. »Ich vermute aber, dass sie es in der Bataviapost gelesen hat, wo ja Ihre glänzenden Erfolge in Sachen der Gesellschaft mit den roten Karten ganz eingehend geschildert waren.«

Hiernach verfiel Harst wieder in die frühere nachdenkliche Schweigsamkeit.

Das Grundstück des Doktors lag für sich allein am Rand eines ausgedehnten Palmenwaldes und war mit einer sehr hohen und offenbar sehr alten Ziegelmauer umgeben. Schliepner erzählte uns, während wir vor der Mauerpforte standen, dass dieser Besitz noch aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stamme, als die Holländer Java noch nicht völlig unterworfen hatten und Aufstände der Eingeborenen keine Seltenheit waren. Da wurde eben noch jedes Europäerwohnhaus als kleine Festung angelegt, sobald es außerhalb der eigentlichen Stadt lag.

»Auch das Haus ist sehr alt«, fügte er hinzu. »Man hat es nur vor etwa fünfzehn Jahren insofern umgebaut, als das einzige Stockwerk heruntergerissen und auf dem alten Fundament ein luftiger Holzbau errichtet wurde, wie er dem Klima hier entspricht. Der Garten zieht sich etwa zweihundert Meter weit in den Palmenwald hinein, ist aber dicht hinter dem Haus durch einen Bretterzaun so abgeteilt, dass die Doggen stets in der Nähe des Gebäudes bleiben müssen. Ich werde jetzt läuten. Wir müssen fraglos noch eine Weile warten, da die Hunde erst eingesperrt werden müssen.«

»Und das kann nur die Prinzessin selbst tun?«, meinte Harst.

»O nein, dem Doktor gehorchten die Tiere auch, aber weniger aus Zuneigung als aus Angst. Er soll über die gefährlichen riesigen Bestien eine unerklärliche Macht besessen haben. Sie sollen ihn gehasst, aber ebenso gefürchtet haben, wie ja überhaupt dieser Mann in vielem so eine Art Übermensch war. Die Bezeichnung Doktor Satanas bezog sich nicht lediglich auf sein pechschwarzes Haar, seine dicken, schwarzen Augenbrauen und den glänzend schwarzen Spitz- und Schnurrbart, sondern auch auf sein ganzes Wesen. Man mied ihn. Er war nicht beliebt. Aber man ließ es ihn nicht merken.«

Harald hatte sehr interessiert zugehört, meinte nun lebhaft: »Das alles ist ja ungeheuer wichtig, bester Schliepner! Jetzt erst habe ich ein richtiges Bild von diesem Drygaarden, der …«

Er machte eine kurze Pause. Und dann kam die große Überraschung, wie ein Blitz, der ohne viel Geräusch herniederfährt und doch wie eine Bombe wirkt.

»… der vielleicht gar nicht tot ist!«, fügte Harst hinzu. »Nein – der sogar ganz bestimmt noch lebt, was ich heute schon beweisen könnte.«

Der dürre Schliepner starrte Harst ganz entgeistert an, weit vorgebeugt und die gewaltige Nase reibend, wie er es stets zu tun pflegte, wenn er erregt wurde, stotterte dann ganz fassungslos: »Wie – nicht tot? Aber das ist doch unmöglich! Das widerspricht dem Befund im Schlafzimmer …«

Hier wurde er durch einen Eingeborenen unterbrochen, der plötzlich neben uns auftauchte. Es war ein Polizeibeamter, ein Kriminalpolizist, der mit drei anderen das Grundstück bewachte. Der Mann meldete dem Inspektor, dass alles in Ordnung sei.

Schliepner winkte ab, und der Beamte verschwand wieder in der Dunkelheit. Dann hörten wir auch schon durch das Guckloch der Pforte eine Stimme, die fragte, wer jetzt noch Einlass begehre. Der Inspektor nannte seinen Namen.

»Die Hunde sind im Zwinger?«, fuhr er fort. »Du bist Dschongo Lei, der Hausmeister, nicht wahr?«

Die Pforte ging auf, ein Javaner mit einer Petroleumlaterne stand vor uns. Es war ein Greis in gelbem Leinenanzug.

»Dschongo Lei, Herr«, dienerte er. »Die Hunde sind diese Nacht nicht freigelassen worden.«

Eine Allee zog sich auf das Haus zu, das hinter Palmen und Gebüsch halb versteckt war. Wir folgten dem Alten, der, wie Schliepner uns zuflüsterte, zu den Dienern gehörte, die die Prinzessin aus dem väterlichen Palast hierher mitgebracht hatte.

Wir hatten dann etwa die Hälfte der Strecke bis zum Wohngebäude zurückgelegt, als von links her aus der Tiefe des Gartens, der mit seinen Bäumen und Buschwerkgruppen in tiefster Finsternis dalag, ein kurzes, mehrstimmiges Aufheulen erklang, das den Hausmeister derart erschreckte, dass er sich blitzschnell umwandte und uns zurief: »Sollte die Herrin etwa …«

Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen. Harst hatte meinen Arm gepackt, riss mich zur Seite, brüllte überlaut: »Auf die Bäume! Die Hunde sind frei!«

Wie ich damals auf die untersten Äste eines der Alleebäume gelangte, ist mir heute noch unklar. Ich weiß nur, dass Harst mich halb emporschleuderte und mir dann half, bis ich den ersten Ast packen konnte.

Auch Schliepner hatte Zeit gefunden, sich auf dem nächsten Baum in Sicherheit zu bringen. Nur der alte Javaner und Harst standen noch auf dem mit Kies bestreuten Weg. Harst drängte den Hausmeister, der völlig den Kopf verloren hatte, auf den Baum zu, auf dem ich mich befand. Doch es war bereits zu spät. Über den hellen Kies schossen vom Haus her vier hohe Tierkörper dahin, einer dicht hinter dem anderen.

Die letzten Vorgänge hatten sich in wenigen Sekunden abgespielt. Was dann folgte, was Schliepner und ich von oben herab der Dunkelheit wegen nur ganz undeutlich wahrnahm, dauerte ebenfalls nur Sekunden.

Harst drückte den Alten an den Stamm stellte sich schützend vor ihn. Dann rief er die Hunde an – so energisch, dass die Bestien stutzten und stehen blieben. Nun blitzte Harsts elektrische Taschenlampe auf. Er hielt sie in der Linken und in der vorgestreckten rechten Hand hatte er den Mehrlader.

Der weiße Lichtkegel blendete die Tiere. Absichtlich ließ Harst den Strahlenkegel immer wieder schnell über sie hinweggleiten. Ihr dumpfes wütendes Knurren wurde schwächer. Trotzdem war die Lage für Harst und den Javaner mehr als bedrohlich. Jeden Augenblick konnte eine der Doggen zuspringen. Dann richtete Harst auch mit der Schusswaffe nichts mehr aus.

Jetzt Schliepners Stimme.

»Soll ich schießen, Herr Harst?«

»Nein – nur das nicht!«, rief Harald. »Vielleicht wird …«

Da – vom Haus her eine helle Frauenstimme. Aber die Bestien gehorchten augenblicklich; kniffen die Schwänze ein, schlichen davon. Die Dunkelheit verschluckte sie. Nun abermals die helle Stimme. Dann nichts mehr. Minutenlang hörte ich nur das Rauschen der Blätter und das keuchende Atmen des halb ohnmächtigen alten Javaners.

Schliepner tauchte neben Harst auf. Er hatte seinen Baum verlassen.

»Es war die Prinzessin«, meinte er mit einem tiefen, erleichterten Aufseufzen. »Den Teufel auch – wer kann nur den Hundezwinger geöffnet haben?«

Auch ich kletterte herab. Gleich darauf erschien vor uns eine helle Gestalt: Frau Doktor Drygaarden!