Der Detektiv – Band 26 – Die Gesellschaft der roten Karten – Teil 3
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Gesellschaft der roten Karten
Teil 3
Rechts von mir eine Stimme: »Schade! Ich habe die Leute wieder unterschätzt! Es war abermals eine verfehlte Spekulation – total verfehlt! Das lag aber nur an meiner körperlichen und geistigen Anspannung. Ich fand eben im Augenblick nichts Besseres!«
Ich hatte mich umgewandt. Harald saß aufrecht auf seinem Lager.
»Lieber Alter«, fuhr er fort, »die roten Striche kann ich von hier sehr gut sehen. Ja – so, nun ist die halbe Million futsch! Na – trösten wir uns; wir gewinnen dadurch die Freiheit! Bitte, dreh doch mal den Bogen um! Vielleicht …«
Ich hatte es schon getan. Und da stand in schöner Rundschrift folgendes:
Harald Harst sollte anderen Leuten auch so viel Geist zutrauen wie Lord Wolpoore oder besser dessen Detektivchef Blindley! Das Guthaben von 456.836 Mark und die beiden anderen Zahlen waren für uns als Wegweiser zum Auffinden des versteckten Sinnes zu plump gewählt!
Schnell drehte ich den Bogen abermals um. Mir war ein Licht aufgegangen! Mit dem vierten Wort des Brieftextes begann der versteckte Sinn. Von diesem vierten Wort an gerechnet, war wieder das fünfte das zweite der geheimen Mitteilung – und so fort, wobei für die Zahlen über 9 die Einer gesetzt waren …!
Und – das hatte ich, Harsts getreuer Begleiter, nicht herausbekommen! Aber die Gesellschaft der roten Karten war so klug gewesen – klüger also als ich!
Auf der anderen Seite stand jedoch noch etwas in Rundschrift, und zwar:
Der Brief an den Lord ist nochmals sofort zu schreiben in demselben Wortlaut wie hier angegeben.
Dann schloss sich dieser Briefentwurf an.
Harst kam an den Tisch. »Mach mir bitte Platz. Ich will also schreiben, wie es unsere Kerkermeister wünschen!«
Kaum war er damit fertig, als die Tür lautlos aufging und der lange, so unheimlich stumme Wächter eintrat, den neuen Brief ergriff und wieder verschwand.
»Der Kerl macht mich nervös«, sagte Harst halblaut. »Ich würde ihn gern zu bestechen versuchen, dass er uns fortlässt. Aber man kann ja kein Wort mit ihm wechseln.«
Er hatte sich in dem Stuhl weit zurückgelehnt. »Ich muss mir Bewegung machen«, fuhr er fort. »Gib mir bitte deinen Schemel. Ich will ihn als Hantel mitbenutzen.« Er erhob sich, begann mit den Schemeln Freiübungen bis … bis er plötzlich so stark gegen das gläserne Lampenbassin stieß, dass dieses zersplitterte, das Petroleum zusammen mit den Splittern auf den Lehmboden fiel und die Lampe nun sehr bald trüber und trüber brannte.
Harst hatte bei dem scheinbaren Missgeschick ärgerlich gerufen: »Nun werden wir bald im Finstern sitzen! Ein solches Pech!«
Nun glühte der Docht nur noch schwach. Da – dicht neben mir Harsts leise Stimme: »Es war die Probe, ob wir auch jetzt beobachtet werden! Wenn der lange Halunke nach drei Minuten nicht erscheint, beginnen wir!«
Niemand kam. Es war nun völlig dunkel in unserem Kerker.
»Ich hole die Lampe herab«, flüsterte Harald. »Das Eisengestell ist stark genug für die Lehmwände, wird uns zwei kleine Brecheisen liefern. Der lange Kerl ist mit dem Brief sofort zu seinem Chef geeilt – zu Seiner Durchlaucht! Damit rechnete ich! Daher meine Freiübungen!«
Dann – dann kamen zehn Minuten, wie ich sie nicht wieder erlebt habe. Nie wieder habe ich so ohne jede Rücksicht auf meine Hände mit einem kantigen Eisenstab gearbeitet wie damals. Wir hatten die Wand gegenüber der Tür in Angriff genommen; wir hatten bald ein mannsbreites Loch hergestellt, aber dahinter gab es eine Luftschicht von etwa 20 cm Breite und dann eine zweite Lehmziegelmauer. Auch diese bewältigten wir. Harst schlüpfte hindurch; ich folgte. Wir standen hart an der Böschung eines drei Meter breiten Bewässerungsgrabens. Das Häuschen aber, in dem unser Kerker gelegen hatte, war das Stallgebäude des einsamen Gehöfts.
Harst stieg schon in den Graben hinab. Gleich darauf waren wir in einem Reisfeld verschwunden.
»Jetzt hin zu Wreeden!«, meinte ich. »Und dann diesen Halunken an den Kragen!«
»Ich denke auch gar nicht daran!«, meinte Harst, vergnügt lachend. »Nein, wir werden im Bogen von vorn an das Wohnhaus heranschleichen.«
Er eilte mir schon voraus. Ich will die nächsten Ereignisse nur kurz streifen. Sie sind nicht allzu wichtig. Wir klopften vorn an die verschlossene Haustür. Eine unheimlich fette, schmierige Chinesin öffnete, kreischte auf vor Schreck, wurde von Harst mir in die Arme geworfen. »Halte sie fest!«, rief er.
Er lief ins Haus hinein, kehrte nach drei Minuten etwa zurück, schwang ein großes Bündel in der Hand, gab der Chinesin einen Stoß, dass sie ins Haus zurückflog, und zog mich über die Straße in ein Palmenwäldchen hinein.
Das Bündel enthielt nicht nur all unser Eigentum, sondern auch zwei Chinesenkittel von sehr fragwürdiger Sauberkeit.
»Wie sicher die Schufte sich fühlten«, meinte Harald, »beweist die Tatsache, dass unsere Sachen in einem Schrank im Zimmer des Hausherrn ganz offen dalagen.«
Wir verbargen uns dann, aßen uns an Feigen und dem Fleisch reifer Kokosnüsse satt und warteten bis zum Abend, ehe wir uns, nun zwei dreckige, krumme Chinesen mit Kopftüchern um, die mit dem Blütenstaub einer großblumigen Pflanze leidlich gelbbraun gefärbten Gesichter, auf den Weg zum Konningsplein (Königsplatz) im Europäerviertel machten, an dem Wreedens Junggesellenheim lag. Harst fand sich gut bis dorthin durch. Niemand beachtete uns.
Wie alle Häuser der Europäer im neuen Batavia besaß auch das Wreedensche einen ausgedehnten Garten, war sehr geräumig mit flachem Dach, einstöckig und hatte eine sehr breite, umlaufende Veranda, glich mithin ganz den indischen Bungalows. Der Holzzaun des Gartens war leicht zu überklettern. Wir strebten nun von rückwärts mit äußerster Vorsicht dem Haus zu. Harst rechnete damit, dass es von Mitgliedern der Gesellschaft der roten Karten beobachtet würde, da diese nach unserer Flucht uns gerade hier vermuten mussten.
Es war inzwischen elf Uhr nachts geworden. Als wir der Front schräg gegenüber hinter ein paar Büschen hockten, kehrte Wreeden im Wagen von irgendwoher zurück. Gleich darauf wurden zwei Fenster hell. Wreeden trat einen Augenblick an die Verandabrüstung vor diesen Fenstern und verschwand dann wieder.
Da – gerade als wir nun auf die Veranda schleichen wollten, glitt eine Gestalt über den Grasplatz vor dem Haus und dann die Verandatreppe empor.
»Unser Wächter!«, flüsterte Harst. »Ihm nach! Den Kerl müssen wir haben!«
Lautlos krochen wir die Treppenstufen nun gleichfalls hinauf. Der aus den beiden Fenstern fallende Lichtschein zeigte uns den Spion, der vor dem einen Fenster kniete und ins Zimmer lugte.
Harst hatte ihn wenige Sekunden später bei der Kehle und streckte ihn durch einen Schläfenhieb mit dem Pistolenkolben zu Boden.
Wreeden traute seinen Augen nicht, als wir nun durch das offene Fenster zu ihm hineinstiegen. Er hatte am Schreibtisch gesessen.
Der Chinese trug nun keine Maske. Es war ein Mann in besten Jahren mit dünnem Schnurr- und Kinnbart. Wir fesselten ihn. Er kam bald wieder zu sich. Aber – er blieb stumm. Harst versprach ihm 10.000 Mark und mögliche Straffreiheit. Nichts machte auf den kaltblütigen Halunken Eindruck. Er wurde in eine Kammer getragen und dort eingeschlossen.
Auf Harsts Wunsch saßen wir nun im Dunkeln in Wreedens Arbeitszimmer, rauchten und erörterten das Geschehene. Der Holländer war sprachlos über die Raffiniertheit, mit der wir durch ein scheinbar durchgehendes Pferd in jene Halle hineingeführt worden waren. Er hatte jenen Wagen nicht für uns bestellt, war vielmehr von einem chinesischen Kaufmann, einem der gelben Millionäre Batavias, in einer der Dorfstraßen in ein geschäftliches Gespräch verwickelt worden, das ihn sehr lange aufgehalten hatte.
»Wie heißt dieser Chinese?«, fragte Harst jetzt.
»Lian Tschio«, erwiderte Wreeden. »Es ist einer der anständigsten und ehrlichsten Chinesen hier, feingebildet und sehr angesehen.«
»Und doch ein Mitglied der roten Karten und ein Genosse des Prinzen Blönheelm!«, meinte Harst leise.
Ich konnte mir Wreedens Gesicht bei dieser Eröffnung recht gut vorstellen. Zu sehen war nichts als die glimmenden Zigarren.
»Wessen?«, fragte der Holländer schnell. »Blönheelms?«
»Ja. Der Prinz dürfte das Oberhaupt dieser Bande von Spitzbuben sein, die ihr Gewerbe mithilfe gedruckter Karten treiben. Besitzt Blönheelm vielleicht ein Motorboot?«
»Allerdings. Es ist weiß gestrichen wie alle hier. Aber es läuft keine 15 Knoten. Und das der Gesellschaft schafft bequem 25 Knoten. Im Übrigen ist das auch sehr gleichgültig, bester Harst, denn der Prinz ist ein harmloser Narr – nichts weiter. Drüben in Holland hat er kindische Streiche gemacht. Er ist mit seinen Verwandten gänzlich zerfallen, will von ihnen nichts mehr wissen. Wenn mal einer davon hierherkommt, reist er ins Innere, nur um einem seiner Sippe nicht zu begegnen.«
»Und doch ist Blönheelm der Obermacher der roten Karten!«, erklärte Harst sehr bestimmt. »Die Beweise hierfür erhielt ich schon auf der Plantage Lord Wolpoores. Als ich mir Ihre rote Karte, die sich dann Blönheelm schenken ließ, ansah, ganz besonders den Sternstempel mit den Zacken und den merkwürdigen Arabesken an den Spitzen, als ich schließlich hier an den Sternspitzen dieselben Buchstaben wie in Blönheelms Namen feststellte, freilich durcheinandergemischt, da …«
»Ah – das wäre allerdings …«
»Da«, fuhr Harst, Wreeden unterbrechend, fort, »da gewann das, was ich vorher als Belastungsmaterial gegen Blönheelm gefunden und was ich Schraut bereits damals mitgeteilt hatte, eine sehr schwerwiegende Bedeutung, da hatte ich allen Grund, mich auf der Jacht so etwas an des Prinzen malaiische Diener und Jagdgefährten heranzumachen und aus diesen beiden Leuten herauszulocken, dass Seine Durchlaucht gar nicht auf der Tigerjagd gewesen war, als er bei Wolpoore einkehrte, sondern ziemlich direkt von Batavia zu der Plantage gereist war und zwar – geben Sie Acht, Wreeden – immer hinter Ihnen her! Ich behaupte nun, Blönheelm wusste aus den Zeitungen, dass ich als des Lords Gast dort weilte; er wusste ferner, dass Sie mit Wolpoore dort Geschäfte hatten. Er sah voraus, dass Sie mir nahelegen würden, der Gaunerbande der roten Karten hier einige Aufmerksamkeit zu schenken. Er wollte wissen, ob ich Ihre Bitte …«