Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 11. – 14. Bändchen – Kapitel XIV
Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Elftes bis vierzehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.
XIV. Die Gesandten
Die zwei Freunde begaben sich sogleich auf den Weg und bemerkten bald zu ihrem großen Erstaunen, dass die Straßen von Paris in Flüsse und die Plätze in Seen verwandelt waren. Infolge der großen Regen, die im Monat Januar stattgefunden hatten, war die Seine übergetreten, und der Strom hatte zuletzt die halbe Stadt überschwemmt.
Athos und Aramis drangen mutig mit ihren Pferden in das Gewässer. Bald aber ging es den armen Tieren bis an die Brust, und die zwei Edelleute mussten sich entschließen, sie zu verlassen und eine Barke zu nehmen, nachdem sie den Lakaien Befehl gegeben hatten, sie in den Hallen zu erwarten.
Sie gelangten also zu Schiff an den Louvre. Es war finstere Nacht. So beim Schimmer einiger bleichen, zitternden Laternen gesehen, mit seinen Barken, die von Patrouillen mit glänzenden Waffen besetzt waren, mit dem Geschrei der Wachen, die sich in der Finsternis an den Toren anriefen, bot Paris einen Anblick, von dem Aramis bei seiner großen Empfänglichkeit für kriegerische Empfindungen geblendet wurde.
Bei der Königin mussten sie im Vorzimmer warten, da Ihre Majestät in diesem Augenblick Edelleuten, die Nachrichten von England brachten, Audienz erteilte.
»Auch wir«, sagte Athos zu dem Diener, der ihm diese Antwort gab, »wir bringen nicht nur Nachrichten von England, sondern wir kommen gerade daher.«
»Wie heißt ihr denn?«, fragte der Diener.
»Der Herr Graf de la Fère und der Chevalier d’Herblay«, erwiderte Aramis.
»Ah, dann, meine Herren«, versetzte der Diener, als er diese Namen hörte, welche die Königin so oft in ihrer Hoffnung ausgesprochen hatte, »dann ist es etwas anderes, und ich glaube, Ihre Majestät würde mir nie vergeben, wenn ich Euch nur einen Augenblick hätte warten lassen. Folgt mir also, ich bitte Euch.«
Und er ging Athos und Aramis voran.
Als man zu dem Zimmer gelangte, in dem sich die Königin aufhielt, bedeutete er ihnen durch ein Zeichen, sie möchten warten. Dann öffnete er die Tür und sprach: »Madame, ich hoffe, Eure Majestät wird mir vergeben, dass ich gegen ihre Befehle ungehorsam gewesen bin, wenn sie erfährt, dass die, welche ich zu melden habe, der Graf de la Fère und der Chevalier d’Herblay sind.«
Bei diesen Namen stieß die Königin einen Freudenschrei aus, den die Edelleute auf der Stelle, wo sie standen, hören konnten.
»Arme Königin!«, murmelte Athos.
»Sie mögen hereinkommen!«, rief die junge Prinzessin, zur Tür eilend.
Das arme Kind verließ seine Mutter nie und suchte sie durch seine kindliche Sorge für die Abwesenheit seiner zwei Brüder und seiner Schwester zu entschädigen.
»Tretet ein, tretet ein, meine Herren«, sprach die Prinzessin, selbst die Tür öffnend.
Athos und Aramis erschienen. Die Königin saß in einem Lehnstuhl, und vor ihr standen zwei von den drei Edelleuten, die sie in der Wachtstube getroffen hatten.
Es waren die Herren von Flamarens und Gaspard von Coligny, Herzog von Châtillon, Bruder dessen, der sieben oder acht Jahre vorher in einem Duell, das wegen Frau von Longueville stattfand, auf der Place Royale getötet worden war.
Als man die zwei Freunde meldete, traten sie einen Schritt zurück und wechselten mit sichtbarer Unruhe leise ein paar Worte.
»Nun, meine Herren«, rief die Königin von England, als sie Athos und Aramis erblickte, »endlich seid Ihr hier, treue Freunde! Aber die Staatskuriere gehen noch schneller als ihr. Der Hof war von den Londoner Ereignissen in dem Augenblick unterrichtet, wo ihr die Tore von Paris erreichtet. Und hier sind die Herren von Flamarens und Châtillon, die mir im Auftrag Ihrer Majestät, der Königin Anna von Österreich, die neuesten Nachrichten bringen.«
Aramis und Athos schauten sich an. Die Ruhe, ja die Freude, die in den Augen der Königin glänzte, versetzte sie in Erstaunen.
»Habt die Güte fortzufahren«, sprach sie, sich an die Herren Flamarens und Châtillon wendend. »Ihr sagtet also, man habe Seine Majestät Karl I., meinen Gemahl, trotz der Wünsche der Mehrzahl seiner Untertanen zum Tode verurteilt?«
»Ja, Madame«, stammelte Châtillon.
Athos und Aramis schauten sich immer erstaunter an.
»Und auf das Schafott geführt?«, fuhr die Königin fort, »auf das Schafott! Oh, mein Herr! Oh, mein König! … Und vom Schafott sei er von dem entrüsteten Volk gerettet worden?«
»Ja, Madame«, antwortete Châtillon, aber mit so leiser Stimme, dass die beiden Edelleute die Bestätigung kaum hören konnten.
Die Königin faltete die Hände mit edler Dankbarkeit, während ihre Tochter einen Arm um den Hals ihrer Mutter schlang und sie, die Augen in Freudentränen gebadet, küsste.
»Nun haben wir nur noch Eurer Majestät unseren untertänigen Respekt zu bezeigen«, sprach Châtillon, der, wie es schien, von dieser Rolle gepeinigt wurde und unter dem festen, durchdringenden Blicke Athos’ sichtbar errötete.
»Noch einen Augenblick«, meine Herren, erwiderte die Königin, sie mit einem Zeichen zurückhaltend, »einen Augenblick, ich bitte; denn hier sind die Herren de la Fère und d’Herblay, die, wie ihr gehört habt, von London ankommen und Euch vielleicht als Augenzeugen einzelne Umstände angeben werden, die Euch nicht bekannt sind. Ihr meldet diese Umstände der Königin, meiner guten Muhme. Sprecht, meine Herren, sprecht, ich höre. Verbergt mir nichts, verschweigt nichts. Da Seine Majestät noch lebt und die königliche Ehre gerettet ist, erscheint mir alles Übrige als gleichgültig.«
Athos erbleichte und legte eine Hand auf sein Herz.
»Nun«, sprach die Königin, als sie diese Bewegung und seine Blässe wahrnahm, »sprecht doch, mein Herr, da ich Euch darum bitte.«
»Verzeiht, Madame«, sprach Athos, »ich will der Erzählung dieser Herren nichts beifügen, ehe sie selbst bekennen, dass sie sich vielleicht getäuscht haben.«
»Getäuscht!«, rief die Königin voll Schrecken. »Oh! mein Gott, was ist denn geschehen?«
»Meine Herren«, sprach Herr von Flamarens, »haben wir uns getäuscht, so kommt der Irrtum vonseiten der Königin, und Ihr werdet wohl nicht die Absicht haben, ihn zu berichtigen, denn das hieße Ihre Majestät Lügen strafen.«
»Von der Königin, mein Herr?«, versetzte Athos mit seiner ruhigen, klangvollen Stimme.
»Ja«, murmelte Flamarens, die Augen niederschlagend.
Athos seufzte traurig.
»Sollte dieser Irrtum nicht vielmehr vonseiten dessen kommen, den wir mit Euch in der Wachtstube der Barrière du Roule gesehen haben?«, sprach Aramis mit seiner verletzenden Höflichkeit, »denn wenn wir uns nicht täuschten, so wart Ihr zu dritt, als ihr nach Paris kamt.«
Châtillon und Flamarens bebten.
»Ei, so erklärt euch doch!«, rief die Königin, deren Angst von Augenblick zu Augenblick zunahm. »Auf Eurer Stirn lese ich Entsetzliches. Euer Mund zögert, mir eine traurige Nachricht mitzuteilen, Eure Hände beben. Oh! Mein Gott, mein Gott, was ist denn vorgefallen?«
»Gott, hab Mitleid mit uns«, sprach die junge Prinzessin und fiel neben ihrer Mutter auf die Knie.
»Mein Herr«, sagte Châtillon, »überbringt Ihr eine traurige Nachricht, so ist es grausam von Euch, sie der Königin zu melden.«
Aramis trat so nahe zu Châtillon, dass er ihn beinahe berührte, und sprach mit funkelndem Blick: »Mein Herr, ich denke, Ihr werdet nicht so anmaßend sein, den Herrn Grafen de la Fère und mich belehren zu wollen, was wir hier zu sagen haben.«
Während dieses kurzen Schrittes hatte sich Athos, immer noch die Hand auf dem Herzen und den Kopf gesenkt, der Königin genähert und sprach zu ihr:
»Madame, die Fürsten, die über die anderen Menschen gestellt sind, haben vom Himmel auch ein größeres, widerstandsfähigeres Herz empfangen. Man darf also, wie mir scheint, gegen eine große Königin, wie Eure Majestät, nicht auf dieselbe Weise zu Werke gehen, wie gegen eine Frau von unserem Stand. Königin, die Ihr bestimmt seid zu jeglichem Märtyrertum auf Erden, hört den Erfolg der Sendung, mit der Ihr uns beehrt habt.«
Und Athos kniete vor der in Eis verwandelten Königin nieder, zog aus seinem Busen den Orden in Diamanten, den sie Lord Winter vor seiner Abreise zugestellt, und den Ehering, den König Karl vor seinem Tod Aramis übergeben hatte. Seitdem er sie empfangen, hatte Athos diese beiden Gegenstände Athos behütet. Er überreichte sie der Königin mit stummem, tiefem Schmerz.
Die Königin ergriff den Ring, drückte ihn krampfhaft an ihre Lippen, und ohne einen Seufzer auszustoßen, ohne ein Schluchzen von sich geben zu können, streckte sie die Arme aus, erbleichte und fiel bewusstlos in die Arme ihrer Frauen und ihrer Tochter.
Athos küsste den Saum des Kleides der unglücklichen Witwe und sprach, sich mit einer Majestät erhebend, die einen tiefen Eindruck auf die Anwesenden hervorbrachte: »Ich, Graf de la Fère, Edelmann, der nie gelogen hat, schwöre vor Gott zuerst und dann vor dieser armen Königin, dass wir alles, was zur Rettung des Königs zu tun möglich war, auf dem Boden Englands getan haben. Nun, Chevalier«, fügte er, sich gegen d’Herblay wendend, bei, »nun lasst uns gehen, unsere Pflicht ist erfüllt.«
»Noch nicht«, erwiderte Aramis, »wir haben noch ein Wort mit diesen Herren zu sprechen.«
Und er wandte sich gegen Châtillon und sagte: »Mein Herr, wäre es Euch nicht gefällig, auf einen Augenblick hinauszukommen, um ein Wort zu hören, das ich vor der Königin nicht aussprechen kann?«
Châtillon verbeugte sich zum Zeichen der Einwilligung. Athos und Aramis gingen zuerst hinaus, Flamarens und Châtillon folgten ihnen. Sie durchschritten, ohne ein Wort zu sprechen, die Vorhalle. Als sie aber zu einer Terrasse gelangt waren, welche gleiche Höhe mit einem Fenster hatte, trat Aramis auf diese ganz einsame Terrasse, blieb jedoch am Fenster stehen und sagte, sich gegen den Herzog von Châtillon umwendend: »Mein Herr, Ihr habt Euch soeben, wie mir scheint, herausgenommen, uns auf eine sehr hochmütige Weise zu behandeln. Das war in keinem Fall schicklich, am wenigsten aber von Leuten, die der Königin eine lügenhafte Botschaft überbracht haben.«
»Mein Herr!«, rief Châtillon.
»Was habt Ihr denn mit Herrn von Bruy gemacht?«, fragte Aramis ironisch. »Sollte er zufällig sein Gesicht gewechselt haben, das große Ähnlichkeit mit dem von Mazarin hatte? Es sind bekanntlich im Palais-Royal viele italienische Masken vorrätig, vom Arlequin bis zum Pantalon.«
»Es scheint, Ihr fordert uns heraus?«, sagte Flamarens.
»Ah! Es scheint Euch nur, meine Herren?«
»Chevalier, Chevalier!«, sagte Athos.
»Ei, lasst mich doch machen«, erwiderte Aramis. »Ihr wisst wohl, dass ich es nicht liebe, die Dinge halb zu tun.«
»Vollendet also, mein Herr«, versetzte Châtillon mit einem Stolz, der in keiner Beziehung dem von Aramis nachgab.
Aramis verbeugte sich und erwiderte: »Meine Herren, ein anderer als ich oder der Graf de la Fère würde Euch verhaften lassen, denn wir haben einige Freunde in Paris. Aber wir bieten Euch ein Mittel, abzugehen, ohne beunruhigt zu werden. Plaudert mit uns fünf Minuten lang, den Degen in der Hand, auf dieser einsamen Terrasse.«
»Gern«, sprach Châtillon.
»Einen Augenblick, meine Herren!«, rief Flamarens, »ich weiß wohl, dass der Vorschlag verlockend ist; aber zu dieser Stunde ist es uns unmöglich, ihn anzunehmen.«
»Und warum?«, versetzte Aramis mit seinem spöttischen Ton, »macht Euch die Nähe Mazarins so klug?«
»Oh! Ihr begreift, Flamarens«, sprach Châtillon, »wenn ich nicht annähme, so wäre dies ein Flecken für meinen Namen und meine Ehre.«
»Das ist auch meine Ansicht«, sagte Aramis mit kaltem Ton.
»Ihr dürft dennoch nicht annehmen, und diese Herren werden, ich bin überzeugt, sogleich meiner Meinung sein.«
»Herzog«, sprach Flamarens, »vergesst Ihr, dass Ihr morgen eine Expedition von der höchsten Wichtigkeit befehligt, und dass Ihr, von den Prinzen dazu ausersehen, von der Königin bestätigt, nicht Euch gehört? Es sei.«
»Übermorgen also«, sprach Aramis.
»Übermorgen«, erwiderte Châtillon, »das ist sehr lange, mein Herr.«
»Nicht ich«, entgegnete Aramis, »habe diese Frist festgestellt, diesen Verzug gefordert; zumal da man sich, wie mir scheint, gerade bei der Expedition finden könnte.«
»Ja, mein Herr, Ihr habt recht«, rief Châtillon, mit großem Vergnügen, »wenn Ihr Euch die Mühe nehmen wollt, bis zu den Toren von Charenton zu kommen.«
»Ei, mein Herr, um die Ehre zu haben, Euch zu begegnen, gehe ich bis ans Ende der Welt.«
»Morgen also.«
»Ich zähle darauf. Begebt Euch nun wieder zu Eurem Kardinal. Zuvor aber schwört uns bei Eurer Ehre, dass Ihr ihn nicht von unserer Rückkehr in Kenntnis setzen werdet.«
»Bedingungen?«
»Warum nicht?«
»Weil nur Sieger solche machen.«
»Dann sogleich den Degen gezogen. Uns ist das gleichgültig, denn wir haben die Expedition von morgen nicht anzuführen.«
Châtillon und Flamarens schauten sich an. Es lag so viel Ironie in Aramis’ Worten und in seiner Gebärde, dass Châtillon besonders große Mühe hatte, seinen Zorn im Zaum zu halten. Aber auf ein Wort von Flamarens hielt er an sich.
»Nun wohl, es sei«, sprach er. »Unser Gefährte, wer es auch sein mag, soll nichts von dem Vorfall erfahren. Aber Ihr versprecht uns, mein Herr, Euch morgen gewiss in Charenton einzufinden?«
Die vier Edelleute verabschiedeten sich; doch diesmal gingen Châtillon und Flamarens voran, als sie den Louvre verließen, und Athos und Aramis folgten ihnen.
»Lasst uns auch gehen, Athos«, sagte Aramis.
»Wohin?«
»Zu Herrn von Beaufort oder zu Herrn von Bouillon; wir werden ihnen sagen, wie sich die Sache verhält und dass Mazarin in Paris ist.«
»Ja, aber unter der Bedingung, dass wir zuerst beim Koadjutor anfragen. Er ist ein Priester, er versteht sich auf Gewissensfälle, und wir werden ihm den unsern vorlegen.«
»Ah!«, sagte Aramis, »er wird alles verderben, alles sich zueignen; gehen wir lieber zuletzt als zuerst zu ihm.«
Athos lächelte. Man sah, dass sich in seinem Inneren ein Gedanke regte, den er nicht aussprach.
»Gut, es sei«, sagte er. »Bei welchem fangen wir an?«
»Bei Herrn von Bouillon, wenn Ihr wollt; ihn finden wir zuerst auf unserem Weg.«
»Nur erlaubt Ihr mir eines, nicht wahr?«
»Was?«
»Dass ich einen Augenblick im Gasthof Zum Grand-Empereur-Charlemagne anhalte, um Raoul zu umarmen.«
»Ich gehe mit Euch, wir umarmen ihn zusammen.«
Die Freunde nahmen das Schiff wieder, das sie gebracht hatte, und ließen sich nach den Hallen führen. Hier fanden sie Grimaud und Blaisois, welche ihre Pferde hielten, und alle vier begaben sich zu der Rue Guenegaud.
Aber Raoul war nicht im Gasthof Zum Grand-Empereur-Charlemagne; er hatte am Tag eine Botschaft vom Prinzen erhalten und hatte sich mit Olivain sogleich nach Empfang derselben entfernt.