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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 1. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
1. Kapitel

Ein Monsterprozess

»Weinen Sie nicht, Zeugin, fassen Sie sich und antworten Sie auf meine Frage! Sie sind Mrs. Arabella, die Gemahlin Mr. Phineas Aberdeen?«

»Seine zweite Frau«, gab die schöne, schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Dame zur Antwort, während sie nur mit Mühe die Tränen zurückdrängte.

»Mr. Phineas Aberdeen ging mit mir am 7. Oktober 1890 die Ehe ein. Wir wurden hier in London in der Parish Church getraut.«

»Dann sind Sie also im Ganzen kaum zwei Jahre mit Mr. Aberdeen verheiratet?«, fragte der Richter, während er flüchtig in einem vor sich liegenden Aktenstück blätterte. »Ah, ganz recht, Sie sind die Stiefmutter Miss Elisabeths, um deren mysteriöses Verschwinden es sich hier handelt?«

»Ja, ihre Stiefmutter«, antwortete die Dame, »doch hat es wohl niemals ein schöneres, innigeres Verhältnis zwischen Mutter und Tochter gegeben, als es zwischen mir und dem armen Kind bestand!«

»Wir wissen es, Mrs. Arabella. Aus den Zeugenaussagen Ihrer Dienerschaft geht hervor, dass Miss Elisabeth mit großer Liebe an Ihnen hing und dass Sie vom ersten Augenblick Ihrer Ehe an alles getan haben, um Mutterstelle an dem jungen Mädchen zu vertreten. Nun, Frau Zeugin, haben Sie die Güte und erzählen Sie uns, was Sie von dem kritischen 7. Mai wissen. Das ist der Tag, an welchem Miss Elisabeth zum letzten Mal sowohl in Ihrem Haus, von ihrem Vater, als auch überhaupt in London gesehen wurde. Seitdem ist sie spurlos verschwunden, und die Anklage behauptet, dass Lord William Rochester, nachdem er längere Zeit vergeblich versucht hatte, die Liebe Miss Elisabeths zu erringen, die junge Dame entführt habe.«

Bei diesen Worten des Richters flogen die Blicke der Hunderte von Zuschauern, die den Schwurgerichtssaal von London füllten, hinüber zur Anklagebank und richteten sich forschend auf einen schlanken, eleganten, hochgewachsenen, tadellos gekleideten jungen Mann, der, nur ein wenig bleich und nervös aussehend, mit fast nachlässiger Grazie auf der Anklagebank lehnte.

Es war keineswegs das gewöhnliche Publikum, das sonst den Sitzungen im Schwurgerichtssaal beizuwohnen pflegte, welches heute den großen Raum des Justizpalastes füllte.

Ein so vornehmes Auditorium wie heute hatte wohl der alte, mit den Bildern der englischen Könige geschmückte Saal noch niemals gesehen.

Englische Peers und andere hohe Adlige saßen mit ihren Damen auf den Galerien oder waren im Parkett des Saales dieser Gerichtsverhandlung von Anbeginn an gefolgt. Aber auch aus bürgerlichen Kreisen hatten sich alle eingefunden, welche sich nur auf irgendeine Weise die Erlaubnis zum Betreten des Saales hatten verschaffen können.

Zwei Umstände waren es, welche gleichmäßig dafür sorgten, dass ganz London diesem Prozess das höchste Interesse zuwandte.

Es war sowohl die Persönlichkeit des jungen Lords William Rochester, welche diese Zugkraft ausübte, als auch andererseits wieder der Ruf des Mannes, der in diesem merkwürdigen Prozess eigentlich der Geschädigte war.

Letzterer war Mr. Phineas Aberdeen, ein mehrfacher Millionär, der sich aus den kleinsten Anfängen zu diesem Reichtum emporgearbeitet hatte.

Allerdings war er, wie man behauptete, zu seinen Schätzen auf eine nicht gerade einwandfreie Weise gekommen. Er stand nämlich im Ruf eines Wucherers, oder sagen wir gelinder, eines Geldmannes, der den jungen Aristokraten bedeutende Summen gegen hohe Zinsen lieh.

Damit hatte er sein ungeheures Vermögen erworben, zugleich aber auch manchen Fluch auf sein Haupt heraufbeschworen. Sein Weg war mit Opfern besät, und die Unerbittlichkeit, mit welcher Mr. Phineas Aberdeen einen fälligen Wechsel einzutreiben wusste, hatte schon in mehreren Fällen seine unglücklichen Opfer zum Selbstmord getrieben.

Das Wesen, an welchem Mr. Aberdeen am meisten hing, und dem er mit abgöttischer Liebe zugetan, war seine Tochter Elisabeth.

Sie stammte aus seiner ersten Ehe, die aber schon frühzeitig durch den Tod gelöst wurde, denn die Mutter Elisabeths war bei der Geburt des Kindes gestorben.

Seitdem war Mr. Aberdeen fünfzehn volle Jahre lang Witwer geblieben. Dieser Mann mit dem kalten, erbarmungslosen Herzen war von der denkbar größten Zärtlichkeit väterlicher Liebe erfüllt, wenn seine Blicke auf seine Tochter Elisabeth fielen.

Er widmete dem Mädchen all seine freie Zeit, und aus dem Getriebe der Welt, das an seiner Seele so manche schmutzigen Spuren hinterließ, flüchtete er in die Kinderstube Elisabeths, als wolle er sich hier rein baden, als könne er hier alles abstreifen, was rau, schlecht und niedrig an ihm war.

Als Miss Elisabeth fünfzehn Jahre zählte und sich zu einer herrlichen Jungfrau zu entwickeln begann, vermählte sich Phineas Aberdeen zum zweiten Mal zum Erstaunen aller Bekannten und Verwandten.

Er brachte seine Gattin von einer Reise mit, die er auf dringendes Anraten des Arztes zur Erholung und Auffrischung seiner Nerven in die Schweiz unternommen hatte.

Die Dame, welche Mr. Aberdeen heiratete, war auch eine Engländerin, aber um volle dreißig Jahre jünger als ihr Gatte.

Sie zählte fünfundzwanzig Jahre, während Mr. Aberdeen mittlerweile ein Mann von fünfundfünfzig Jahren geworden war.

Aber die Ehe ließ sich ausgezeichnet an.

Mrs. Arabella schien die unangenehme Seite im Charakter ihres Gatten ganz zu übersehen.

Sie schätzte in ihm wahrscheinlich den eminenten Geschäftsmann, welcher es verstanden hatte, aus eigener Kraft Millionen zu erwerben. Was ihr vor allen Dingen aber die Sympathie aller Leute erwarb, welche im Haus Mr. Aberdeens verkehrten, das war die Zärtlichkeit, mit der Mrs. Arabella der jungen Elisabeth entgegenkam.

Zwei Jahre waren seit der Eheschließung Mr. Aberdeens vergangen. Da geschah es am 7. Mai 1892, dass Miss Elisabeth nachmittags um vier Uhr, als es draußen fast abendlich dämmerte, das Haus ihres Vaters verließ, angeblich, um einen Zahnarzt zu konsultieren.

Sie hatte mit Mrs. Arabella, ihrer Stiefmutter, die inzwischen noch Einkäufe besorgen wollte, verabredet, im Wartezimmer des Doktors zusammenzutreffen, da das junge Mädchen nicht allein das Sprechzimmer des Arztes betreten wollte.

Pünktlich um fünf Uhr nachmittags traf Mrs. Arabella bei Doktor Coller, dem Zahnarzt ein, erfuhr hier jedoch, dass Miss Elisabeth noch nicht dagewesen sei.

Da Mrs. Arabella darüber beunruhigt war, telefonierte sie nach Hause, erfuhr aber zu ihrer Bestürzung, dass Elisabeth auch dorthin noch nicht zurückgekehrt sei.

Mrs. Arabella wartete hierauf noch eine Stunde beim Zahnarzt, fuhr dann wieder nach Hause zurück, und, nachdem man noch bis acht Uhr abends auf die Rückkehr Elisabeths gewartet hatte, sandte man überall Boten aus und ließ bei allen Freunden und Bekannten nachfragen, ob Elisabeth vielleicht ihren ursprünglichen Plan geändert und sich vielleicht zu irgendeiner ihr befreundeten Familie begeben habe.

Aber überall fiel die Antwort verneinend aus.

Man hatte Elisabeth nicht gesehen, wusste nichts von ihr, und so musste Mr. Phineas Aberdeen, der über das so lange Ausbleiben seiner Tochter tödlich erschreckt war, sich schließlich an die Polizei wenden.

Diese erließ sofort einen sogenannten Generalalarm, durch welchen jeder Policeman von London angewiesen wurde, nach der jungen Dame zu fahnden, nachdem er ihre genaue Beschreibung erhalten hatte.

Phineas Aberdeen verlebte eine entsetzliche Nacht.

Er wurde fast wahnsinnig, als Stunde um Stunde verging, ohne dass seine innig geliebte Tochter zurückkehrte.

Am Morgen wurden die Nachforschungen fortgesetzt, und am Mittag desselben Tages brachte Phineas Aberdeen im Polizeigerichte von London die Anklage gegen den Lord William Rochester auf Entführung seiner Tochter und gewaltsame Freiheitsberaubung derselben ein.

Wie kam nun Mr. Phineas Aberdeen dazu, den jungen Lord eines so ungeheuren Verbrechens zu beschuldigen?

Man musste sich, wenn man soeben die Zeugen gehört hatte, eingestehen, dass der Verdacht gegen den Angeklagten nicht unbegründet sei.

Lord William Rochester, ein sehr schöner und leichtlebiger Aristokrat, hatte sich einige Male, als er sich in vorübergehenden Geldverlegenheiten befand, an Mr. Phineas Aberdeen gewandt und von diesem immer, natürlich gegen die entsprechenden Zinsen, die verlangten Summen auf Wechsel erhalten.

Hierdurch war der junge Kavalier öfter ins Haus Mr. Aberdeens gekommen, hatte hier Elisabeth gesehen und, wie er selbst zugab, für sie eine gewisse Neigung befasst.

Elisabeth hatte sich hierauf bei ihrem Vater beklagt, dass der Lord nicht nur im Haus des Vaters, sondern auch auf der Straße Gelegenheit gesucht hätte, sich ihr zu nähern und ihr einmal sogar unzweideutig angeboten, ein Liebesverhältnis mit ihm einzugehen; ja, er habe ihr sogar den Vorschlag gemacht, sich von ihm entführen zu lassen.

Mr. Phineas Aberdeen war hierüber in wohlberechtigte Wut geraten und hatte dem jungen Aristokraten sofort ein für alle Mal das Betreten seines Hauses verboten, wie er auch jede Geschäftsverbindung mit ihm abgebrochen hatte.

Nun wurde vor Gericht durch Zeugen erhärtet, dass der Lord an jenem kritischen 7. Mai in der Nähe des Hauses auf der Cannon Street gesehen worden sei.

Ein in der Nähe wohnender Bäcker sagte aus, er habe beobachtet, wie der Lord etwa eine halbe Stunde lang in einem geschlossenen Wagen in der Nähe der Cannon Street und King William Street gehalten hätte.

Etwa um sieben Uhr abends sei der Wagen plötzlich verschwunden gewesen.

Aber dieses Verdachtsmoment bedeutete wenig im Vergleich zu einer Entdeckung, welche die Polizei bei einer Hausdurchsuchung machte, die sie in der Garçonwohnung des Lords sofort angestellt hatte.

Lord William Rochester, der die Entführung Elisabeths rundweg in Abrede stellte und das Mädchen während der letzten vier Wochen überhaupt nicht gesehen haben wollte, konnte es nicht verhindern, dass die Detektive alle seine Schränke und Kästen durchstöberten.

Und da wurde in einem Rohr, das vom Kamin der Schlafstube emporstieg, ein Bündel aufgefunden, welches die Kleider, die Schuhe und die Strümpfe enthielt, die nachweislich Miss Elisabeth am 7. Mai getragen hatte, als sie die Wohnung ihres Vaters verließ.

Eine halbe Stunde später befand sich der Lord bereits in Haft. Die Anklage gegen ihn wurde formuliert, der Prozess nahm seinen Fortgang, und heute sah der Angeklagte, der selbst in den Augen seiner Freunde für überführt gehalten wurde, seiner Verurteilung entgegen.

Der Präsident des Gerichtshofes wandte sich nun an Mrs. Arabella Aberdeen, welche sich der Staatsanwalt als einen großen Trumpf vorbehalten hatte, und die als Letzte der Zeugen soeben den Zeugenstuhl betrat.

»Mrs. Arabella Aberdeen, Sie haben den Angeklagten wohl hin und wieder im Haus Ihres Gatten gesehen?«

»Zu wiederholten Malen«, antwortete die schöne schwarzhaarige Frau.

»Haben Sie ihn auch gesehen, als er sich in Gesellschaft Ihrer Stieftochter befand?«

»Ganz gewiss; ich war aber immer zugegen, wenn der Lord mit Miss Elisabeth zusammenkam.«

»Wie konnte es denn überhaupt geschehen«, fragte der Präsident, »dass die beiden jungen Leute zusammentrafen? Der Lord kam doch ursprünglich nur, um seine Geldgeschäfte zu erledigen, in das Haus Ihres Gatten, und wie der vorliegende Plan des Hauses in der Cannon Street verrät, befinden sich die Büros Ihres Gatten im unteren Stockwerk, während die Wohnräume im zweiten und dritten Stockwerk liegen?«

»So ist es, Herr Präsident, aber Klienten, welche meinem Gatten von besonderem Wert waren, wurden gewöhnlich in einen der oberen Salons geführt. Wir sahen auch nichts Arges darin, den Lord mit unserer Tochter Elisabeth bekannt zu machen. Es war indessen ein oberflächliches, gesellschaftliches Zusammentreffen!«

»Blieb es denn immer dabei?«, fragte der Präsident.

»In der ersten Zeit ganz gewiss; später beklagte sich Elisabeth plötzlich bei mir und ihrem Vater, dass in flüchtigen Momenten, in welchen sie mit dem Lord allein gewesen war, dieser sich ihr in einer Weise genähert habe, welche ziemlich unzweideutig war.«

»Wenn es Ihnen auch Pein macht, darüber zu sprechen, so müssen Sie uns doch sagen, Mrs. Aberdeen, was Sie eine unzweideutige Weise nennen? Miss Elisabeth wird Ihnen darüber genauere Mitteilungen gemacht haben?«

»Ja, sie hat es getan. Sie erzählte mir, dass der Lord ihre Hände ergriffen und den Versuch gemacht hätte, sie an sich zu ziehen. Nur mit Gewalt habe sie es verhindern können, dass er sie küsste!«

»Nun, Herr Angeklagter«, wandte der Präsident sich nun an den jungen Lord, »Sie haben soeben gehört, was uns von kompetenter Seite über Ihren Verkehr mit Miss Elisabeth erzählt wird. Stellen Sie diese soeben geschilderte Szene in Abrede?«

»Nein, Herr Präsident!«

Eine große Bewegung ging durch den Saal. Das war wieder einer von den vielen kleinen Steinen, die den Bau der Schuld des Angeklagten aufführten.

»Später teilte mir Elisabeth mit«, fuhr Mrs. Arabella Aberdeen fort, »der Lord habe sich bei einem Spaziergang, den sie in den Hyde Park unternahm, zu ihr gesellt und fei nicht mehr von ihr gewichen. Er habe sie beschworen, ihm ihre Liebe zu schenken, und den Vorschlag gemacht, mit ihm zu entfliehen.«

»Das wird, wie ich aus den Akten ersehe, von dem Herrn Angeklagten ebenfalls nicht geleugnet«, bemerkte der Präsident. »Es ist seltsam: Der Angeklagte gibt alles zu und bestreitet doch energisch die Schuld selbst. Und nun, Frau Zeugin«, fuhr der Präsident fort, indem er auf einige weibliche Kleidungsstücke deutete, die auf einem kleinen Tischchen ausgebreitet lagen, »agnoszieren Sie bitte diese Kleider!«

Niemand entging der lange, von brennendem Hass erfüllte Blick, den Mrs. Aberdeen dem jungen Lord zuwarf.

Dann neigte sie sich nur flüchtig über die Kleider und indem sie in Tränen ausbrach, rief sie aus: »So Gott mir helfe; alles, was ich hier sehe, ist das Eigentum Elisabeths – meiner armen, verschollenen Tochter!«

Die schöne schlanke Frau wankte; der Advokat, der die Sache Mr. Phineas Aberdeens führte, musste schnell auf sie zueilen, um sie in seinen Armen aufzufangen, da sie sonst zusammengebrochen wäre.

»Ein Glas Wasser für die Lady«, rief er einem Diener zu. Dann ließ er Mrs. Arabella sanft in einen Sessel niedergleiten, und während sie von dem Diener gelabt wurde, schritt er selbst die Stufen empor, die zum Podium der Richter führten.

»Im Namen Mr. Phineas Aberdeen, meines Klienten«, rief der Advokat, einer der bekanntesten Rechtsanwälte Londons, »möchte ich an den Angeklagten ein paar Worte richten. Ich erbitte hierzu die Erlaubnis des hohen Gerichtshofes!«

»Sie ist Ihnen erteilt, Mr. Potter«, erwiderte der Präsident.

»Wohlan denn, Lord Rochester«, wandte sich der Advokat mit lauter Stimme an den Angeklagten, »im Nannen eines unglücklichen Vaters, den das furchtbare Schicksal seiner Tochter, die nunmehr schon volle vier Wochen verschwunden ist, auf das Krankenlager geworfen hat, beschwöre ich Sie: Geben Sie die Unglückliche frei. Nennen Sie uns den Ort, all den Sie Miss Elisabeth Aberdeen gebracht haben. Mr. Phineas Aberdeen verpflichtet sich in diesem Fall, soweit es noch in seinen Händen liegt, die Anklage gegen Sie zurückzuziehen. Auch der hohe Gerichtshof wird dann Ihr Verhalten in dieser Angelegenheit mit anderen Augen ansehen und anders beurteilen, als es geschehen muss, solange das Verbrechen selbst vollendet bleibt! Mylord, es handelt sich hier um das Glück einer Familie, welches Sie zerstört haben, es handelt sich hier um ein junges Menschenleben. Alles, was bisher geschehen ist, kann noch gut gemacht werden – doch brechen Sie jetzt ihr rätselhaftes Schweigen, mit welchem Sie allen Indizien, die gegen Sie vorgebracht wurden, begegneten. Wir verlangen kein reuevolles Geständnis von Ihnen, keine Demütigung. Wir finden es vielleicht begreiflich, dass Sie, von dem Liebreiz Miss Elisabeth Aberdeens hingerissen, sich zu einer Tat verführen ließen, die vom Standpunkt der Moral und des Rechtes verdammt werden muss – wir fühlen menschlich mit Ihnen, denn wir sind keine Heuchler und Pharisäer, aber – geben Sie einem unglücklichen Vater die Tochter, einer Familie den Frieden zurück!«

Lauter Beifall, der von den Galerien herab ertönte, folgte den warmen Worten des Verteidigers.

Umso erkältender wirkte aber die Antwort, welche der junge Lord mit fester, ruhiger Stimme gab: »Ich habe Ihnen zu erwidern, Mr. Potter, dass ich nichts eingestehen kann, da ich nichts begangen habe. Dass ich den Ort, an dem sich Miss Elisabeth Aberdeen gegenwärtig befindet, nicht zu nennen vermag, weil ich denselben nicht weiß. Man hat nicht nur ein Verbrechen an der Familie Mr. Phineas Aberdeens begangen, sondern auch an mir, dass ich hier im Vollgefühl meiner Unschuld wie ein niedriger Verbrecher auf der Anklagebank sitzen muss.«

Der Präsident forderte die Jury auf, sich zurückzuziehen. Die Zeugenaussagen waren erschöpft, die Advokaten hatten gesprochen. Auch der Angeklagte hatte soeben seine letzte Erklärung abgegeben.

Im Saal wurden die Lampen angezündet, während die Geschworenen sich durch die kleine Tür in das ihnen reservierte Zimmer entfernten.

In dem Fall der Elisabeth Aberdeen schienen die Geschworenen sehr schnell ihre Meinung gefasst zu haben und zur Einigung gelangt zu sein.

Denn nach kurzer Zeit öffneten sich weit die Türen, und unter fieberhafter Spannung der Menge betraten die zwölf guten und getreuen Männer wieder den Saal.

Das Publikum erhob sich von seinen Sitzen. Es ist ein Gebot, dass der Spruch der Männer aus dem Volk stehend angehört werden muss.

»Ist die Jury zur Einigkeit in ihrem Spruch gelangt?«, fragte der Präsident mit lauter Stimme.

»Sie ist dazu gelangt«, erwiderte der Obmann der Jury.

»So frage ich denn die zwölf guten und getreuen Männer: Ist der Lord William Rochester schuldig, die Elisabeth Aberdeen mit Gewalt aus dem Vaterhaus fortgeführt zu haben? Ist er schuldig, sie lebend oder tot an irgendeinem Ort zu verbergen?«

Und der Obmann der Jury antwortete, während feierliche Stille im Saale herrschte: »Lord William Rochester ist schuldig!«

»Halt!«, rief in diesem Augenblick eine scharfe Stimme. »Dieser junge Mann ist unschuldig! Dafür verbürge ich mich!«

Ein Sturm, wie man ihn noch niemals im großen Schwurgerichtssaal des Justizpalastes zu London gehört hatte, folgte diesen Worten.

Es war, als wollte das Publikum die Geländer der Galerien zertrümmern, umso schneller in den Saal hinabzugelangen.

Die Richter, die Geschworenen, die Advokaten, alle starrten betroffen auf den hochgewachsenen, hageren, schlicht gekleideten Mann, der plötzlich am Fuße der Podiumtreppe aufgetaucht war und nun noch einmal mit schriller Stimme in den Tumult hineinrief: »Der Lord Rochester ist unschuldig! In drei Tagen will ich es beweisen!«

Und aus dem wüsten Chaos von Stimmen und Lärm, welcher den Saal durchtobte, vernahm man nur einen Namen, der auf aller Lippen schwebte. Er wurde von Hunderten gerufen. Von dem einen mit Bewunderung und Enthusiasmus, von dem anderen mit murrender Missbilligung, von allen aber so, dass man heraushören konnte, es sei ein Name, in England so bekannt wie der des Königs selbst.

Dieser Name lautete: Sherlock Holmes!

Kein anderer als der berühmteste Detektiv Englands, der Mann, der einen Weltruf genoss, der der Bedeutendste aller Kriminalisten genannt wurde, hätte wagen dürfen, was Sherlock Holmes soeben gewagt hatte.

Ruhig, in einer Ecke des Saales sitzend, war er dem Gang der Verhandlung von der ersten bis zur letzten Phase gefolgt. Wie es seine Gewohnheit war, an den Nägeln kauend, hatte er jedes Wort, das von den Advokaten, den Zeugen, den Richtern und dem Angeklagten gesprochen wurde, förmlich verschlungen.

Aber niemand hatte ihn erkannt. Denn, um nicht belästigt zu werden, hatte Sherlock Holmes einen falschen blonden Backenbart seinem sonst bartlosen Gesicht vorgebunden, und sowohl seine Kleidung als auch sein ziemlich abgegriffener Hut waren die eines Menschen, der vielleicht in seinen Mußestunden in irgendeinem kaufmännischen Kontor die Bücher führt oder sonst einer recht prosaischen Beschäftigung obliegt.

Und nun stand er plötzlich vor den Richtern und rief ihnen die inhaltsvollen Worte zu: »Lord Rochester ist unschuldig. Ich bürge dafür!«

Nachdem Sherlock Holmes diese bedeutungsvollen Worte ausgerufen hatte, trat er auf den Präsidenten des Gerichtshofes zu und sagte:

»Eure Herrlichkeit Herr Oberrichter! Ich bitte um die Güte, mir eine kurze Unterredung zu gewähren. Dieselbe wird nicht länger dauern als fünf Minuten und wird diesem Prozess eine Wandlung geben.«

»Aber bedenken Sie, Mr. Sherlock Holmes, die Jury ist eben dabei, ihren Spruch zu verkünden. Sie hat das Urteil schon gefällt. Wir lassen uns eine Vergewaltigung des Gesetzes zuschulden kommen.«

»Ganz und gar nicht, Eure Herrlichkeit! Es steht verordnet im englischen Gesetz, dass sich die Jury oder irgendein anderer Gerichtshof über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten vollständig einig geworden sein kann, sobald der Spruch noch nicht laut verkündet worden ist, ist er ungültig.«

Der Präsident schlug ein dickleibiges Buch auf und blätterte in demselben. Dann winkte er und rief, indem er sich erhob und mit seinem Hammer dreimal auf den Tisch schlug.

»Ich unterbreche die Sitzung für eine Viertelstunde! Mr. Sherlock Holmes, haben Sie die Güte, mir in mein Kabinett zu folgen.«

Während die beiden Männer sich zurückzogen, trat der Advokat, welcher Lord Rochester verteidigte, an ihn heran und fragte ihn: »Warum haben Sie mir, Mylord, nicht mitgeteilt, dass Sie Sherlock Holmes mit Ihrem Fall beschäftigt haben? Ich hätte mich dann mit dem berühmten Detektiv in Verbindung setzen können und wir beide zusammen …«

»Ich gebe Ihnen die Versicherung, Mr. Sullivan, dass ich mich nicht an Sherlock Holmes gewandt und dass ich nichts getan habe, seine Aufmerksamkeit auf meinen Fall zu lenken. Ich war davon überzeugt, dass meine Unschuld sich herausstellen müsste.«

»So hat sich Sherlock Holmes aus eigenem Antrieb Ihrer Sache gewidmet?«, rief Mr. Sullivan, der Advokat, »dann muss irgendein seltsamer Umstand ihn dazu gebracht haben, Ihnen beizustehen, Mylord. Jedenfalls gratuliere ich Ihnen dazu, dass Sherlock Holmes sich Ihrer annimmt! Denn ihn zum Bundesgenossen zu haben …«

Der Lord zuckte die Achseln und antwortete in ruhigem Ton: »Ich habe die Unschuld zu meinem Bundesgenossen, das ist mehr!«

»Nicht immer, mein junger Freund! Die Unschuld gleicht einer Sonne, die nicht immer die Kraft hat, die Wolken zu durchbrechen. Sherlock Holmes aber ist ein Blitz, der immer die Wolken teilt!«

Es dauerte nur zehn Minuten, dann erschien der Präsident des Gerichtshofes wieder.

Hinter ihm war die schlanke, fast hagere Gestalt Sherlock Holmes’ zu sehen. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Detektivs.

Durch drei Hammerschläge gebot der Präsident wieder Ruhe im Saal, dann verkündete er: »Kraft der mir zustehenden Gewalt schiebe ich die Verkündung des gerichtlichen Urteils, welches aus dem Spruch der Jury geschöpft werden wird, auf drei Tage hinaus. Genau nach 72 Stunden wird sich der Gerichtshof in diesem Saal wieder versammeln und dem Lord William Rochester das Urteil verkünden. Bis dahin setze ich den Lord gegen eine mir soeben angebotene Kaution von zehntaufend Pfund Sterling sowie gegen sein Ehrenwort, London nicht verlassen zu wollen, in Freiheit! Mylord, verpflichten Sie sich hiermit feierlich auf Manneswort, genau nach 72 Stunden, gerechnet von diesem Augenblick an, sich hier wieder einzufinden vor Ihren Richtern? Treten Sie aus der Anklagebank heraus und vor mich hin!«

Der Lord verließ langsam die Anklagebank, und sobald er vor dem Präsidenten stand, rief er: »Ich verpflichte mich, mit meinem Wort als Edelmann, in 72 Stunden, von diesem Augenblick an, vor meinen Richtern zu erscheinen, um mein Urteil von ihnen zu empfangen!«

»Die Sitzung ist vertagt!«, verkündete der Präsident, »der Saal ist sofort zu räumen! Mylord, Sie können gehen!«

Die Verblüffung des Publikums über diese Wendung des Prozesses vermag keine Feder zu schildern.

In der englischen Rechtsgeschichte war dergleichen sicherlich noch nicht vorgekommen.

Welche Mitteilungen musste Sherlock Holmes dem Londoner Oberrichter gemacht haben, welche neue Beweise für die Unschuld des Angeklagten musste er ihm unterbreitet haben!

Nur langsam leerte sich der große Schwurgerichtssaal. Aber das Murmeln und Brausen der Menge setzte sich noch auf den Treppen und in den Straßen fort. Die fieberhafte Erregung zitterte weiter durch die Adern Londons, und das Fieber der Erregung brach gewissermaßen erst mit voller Kraft aus, als schon zwei Stunden später die Zeitungsjungen durch die Straßen Londons rannten und die neueste Nummer der Times, Daily Mail, Pall Mall Gazette und vieler anderer Tagesblätter ausriefen: »Ein Unikum in der englischen Rechtsgeschichte! Der Wahrspruch der Jury suspendiert! Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv, verbürgt sich, die Unschuld des Lord Rochester in drei Tagen zu beweisen! Kauft! Kauft! Kauft! Das Neueste von Sherlock Holmes!«