Das Gespensterbuch – Fünfte Geschichte Teil 2
Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913
Wenn wir gestorben sind …
von Frédéric Boutet
Fortsetzung …
»Haben wir unser Ziel bald erreicht?«, fragte Adhémar mit matter Stimme.
»Ja«, sagte der Baron, »der Weg mit den großen Taxushecken liegt links, gleich am Ende dieser Allee.«
»Mein Gott, mein Gott«, seufzte der junge Mann, »ihr Grab! Ich soll sie wiedersehen!«
»Nehmen Sie sich in Acht«, sagte plötzlich das Skelett mit leiser Stimme, »schnell verstecken wir uns hier.«
Adhémar ließ sich von dem Baron in den tiefen Schatten einer hohen Kapelle ziehen. Im selben Augenblick stürzte aus dem nächsten in die Allee mündenden Seitenweg ein rasendes halbnacktes großes Skelett, das unter entsetzlichem Geschrei mit einer Eisenstange, die es in den Händen hielt, in der Luft umherfuchtelte.
»Ich lebe noch«, heulte es verzweifelnd. »Ich lebe ja noch, um Gottes willen! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Ich lebe noch!«
Seine Waffe schwingend und unartikulierte Töne ausstoßend, raste es in toller Eile dahin, während zwei andere Skelette, die offenbar zu seiner Verfolgung ausgesandt waren, hinter ihm drein jagten.
»Was bedeutet das?«, fragte Adhémar zitternd.
»Es ist ein Wahnsinniger«, antwortete der Baron la Rose, »ein sehr gefährlicher Wahnsinniger, den seine Wärter wieder festzunehmen versuchen. Gehen wir schnell weiter.«
Sie schritten rasch durch die Allee.
»Wie Sie es eben selbst vernommen haben«, sagte der Baron, »wird er von der fixen Idee verfolgt, noch am Leben zu sein. Nun passiert es uns allen, besonders in der ersten Zeit unseres Hierseins mitunter, dass wir träumen, wir wären noch lebendig. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, kann ich Ihnen versichern, dass ein solcher Traum wie der schwerste Alpdruck auf uns lastet. Aber dieser Unglückliche glaubt auch im Wachen lebendig zu sein, er ist eben vollständig wahnsinnig. Es ist wahr, dass er eine furchtbar harte Prüfung durchgemacht hat. Er wurde nämlich scheintot hierhergebracht und ist dann lebendig begraben worden.«
»Was? Er ist lebendig begraben worden?«, fragte Adhémar erschrocken auffahrend.
»Nun ja. Er befand sich nämlich in einem Starrkrampf; erst als er längst begraben war, ist er daraus erwacht. Verstehen Sie? Sieben lange Tage hat er dann lebendig in seinem Sarg gelegen, und während dieser ganzen Zeit hat er unausgesetzt ein verzweifelndes Geheul ausgestoßen. Die Lebenden waren fern und konnten es nicht hören, aber wir, wir haben es sehr gut vernommen. Er heulte so, wie Sie ihn eben heulen gehört, es war um die Knochen erfrieren zu machen. Er hat seine ganze rechte Hand aufgegessen, ehe – nun – ehe er still wurde.«
»Warum aber haben Sie ihn nicht befreit«, rief Adhémar ganz entsetzt über die Ruhe und Gleichmütigkeit seines Begleiters.
»Mein Gott«, antwortete das Skelett, »das ging uns doch nichts an. Wir mischen uns nicht gern in die Angelegenheiten der Lebenden, das kann zu leicht falsch gedeutet werden. Außerdem ist es, wenn man schon einmal hier ist, auch viel richtiger, hier zu bleiben. Ein wenig früher oder später, was macht das aus. Nein, in solchen Fällen mischen wir uns niemals ein.«
Adhémar fuhr auf.
»In solchen Fällen? Wollen Sie etwa damit sagen, dass solche Fälle sich öfter ereignen?«
»Freilich, oft genug«, antwortete der Baron. »Es kann sehr leicht passieren, dass jemand lebendig begraben wird. Selbstredend ist das für den Betreffenden durchaus nicht angenehm, aber wenn er nur die erste allerdings recht peinliche Zeit überwunden hat, bedauert er es gewöhnlich nicht mehr. Im Gegenteil. Wir haben uns um den Unglücklichen, den Sie eben gesehen haben, nicht eher gekümmert, bis er wirklich tot war, aber das hat in diesem Fall ungewöhnlich lange gedauert, er ist im Leben sehr nervös gewesen – jetzt ist er leider ein tobsüchtiger Wahnsinniger.«
»Der Unglückliche! Ich begreife das vollkommen«, sagte der junge Mann nachdenklich.
»Wir sind am Ziel, mein Lieber«, sagte plötzlich der Baron, leicht seinen Arm berührend.
»Mein Gott, mein Gott«, seufzte Adhémar, den Schritt anhaltend und die Hand auf das Herz pressend: »Wir sind ihr nahe.«
»Leise, sprechen Sie ganz leise«, warnte der Baron, »und wenn Sie meinem Rat folgen wollen, so lassen Sie uns nur vorsichtig nähertreten, wir müssen vor allem vermeiden, gesehen zu werden. Das Monument der Familie La Rivière liegt dort hinter jenem Gebüsch, schleichen wir uns also im Schatten der Taxushecken heran und vor allem, hüten Sie sich vor jedem Geräusch.«
So sachte wie möglich auftretend und sich im Schatten der immergrünen Taxushecken haltend, näherten sie sich langsam dem Monument, in dessen Schatten sie nur undeutlich die Umrisse zweier Gestalten erkannten, die sich mit leiser Stimme miteinander unterhielten.
Bleich und wie vor Schrecken erstarrt, blieb der junge Mann stehen. »Es ist ihre Stimme«, hauchte er.
»Leise«, flüsterte der Baron ihn unterstützend. »Gehen wir der Sache auf den Grund. Ich unterscheide auch eine männliche Stimme, ohne jedoch ihre Worte verstehen zu können, schleichen wir uns noch näher heran.« Er vermochte es nicht, ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken.
Sich niederduckend, krochen sie langsam und vorsichtig näher.
»Bis hierher«, flüsterte der Baron, »nicht weiter. Ach, ich erkenne die männliche Stimme, es ist die Henry de Livrys, eines unserer gefährlichsten Don Juans.«
»Sie ist es, sie ist es«, seufzte Adhémar tief erschüttert.
»Still doch, wir müssen sie belauschen«, flüsterte der Baron in befehlendem Ton, sich flach auf den Boden ausstreckend und Adhémar mit festem Griff zwingend, seinem Beispiel zu folgen.
»Henry«, murmelte die weibliche Stimme, die einen weichen musikalischen Klang hatte. »Warum bist du schon wieder hier. Ich hatte dich doch so sehr gebeten, für das Erste nicht zu mir zu kommen.«
»Louise, vergib mir. Ich liebe dich so sehr. Ich glaubte einen Abend, nur diesen einen Abend noch …«
»Aber ich fühle es, dass ich hässlich werde und ich will nicht, dass du mich so sehen sollst …«
»Hässlich! Du, meine Geliebte! Aber du bist schöner, wie du jemals gewesen bist. Wenn du auch noch nicht so vollendet schön bist, wie du es später sein wirst, so bist du doch auch heute bereits sehr schön. Schon nimmt deine Haut interessante Verwesungstöne an, deine Augen sinken immer tiefer, dein goldenes Haar …«
»Ach, bald werde ich es nicht mehr haben – es fällt schon aus.«
»Und dann wirst du mir noch schöner und reizvoller erscheinen. Mein süßes Lieb, seit jenem ersten Abend, wo ich dich zuerst an diesem poetischen und verschwiegenen Ort gesehen hatte, gehört dir mein Herz und seit jener Stunde beobachte ich mit größtem Interesse das Voranschreiten deiner Transformation auf deinem süßen Gesicht. Das, was ich in dir liebe, sind nicht jene sinnlichen Reize, die das Herz der Lebenden berücken und die ja nun, gottlob, verblichen sind. Es ist vielmehr die Verheißung einer höheren Schönheit, die ich in dir sich entwickeln, knospen und erblühen sehe und die sich bald in elegantester Form und Reinheit und in idealer Vollkommenheit offenbaren wird. Unter diesem Fleisch, das ich hasse, weil sein Dasein die Stunde unserer Vereinigung verzögert und auch weil ein Lebender dich darin geliebt – unter diesem Fleisch, das aufhört, ein Teil deines Ichs zu sein und das du abwerfen wirst wie einen Mantel, der dir zu schwer geworden ist, erkenne ich dein wirkliches Wesen, das rein und anbetungswürdig und unzerstörbar wie unsere Liebe ist.«
»Bist du dessen auch ganz sicher, Henry? Ach, mir ist alles noch so neu und überraschend.«
»Es sind die letzten Erinnerungen an die Irrtümer des Lebens, die immer noch nicht ganz in dir verblasst sind und die dich beunruhigen. Sieh mich an, meine Geliebte, bin ich nicht so, wie auch du sein wirst, und – liebst du mich nicht, so wie ich bin?«
»Oh, gewiss.«
»Würdest du mich mehr lieben, wenn ich Haut, Haare und die ganze drückende Last eines Körpers auf mir trüge, die immer schwerer wird, je länger man sich mit ihr herumschleppt?«
»Nein, nein, Henry. Jetzt verstehe ich dich. Aber was willst du? Ich bin kaum in die Übergangszeit getreten. Ich bin beinahe noch eine Lebende.«
»Ja, das ist wahr. Ach, wie lang wird mir die Zeit des Wartens werden.«
»Ach, Henry, sage mir, wie lange es dauern wird?«
»Oh, das hängt von den Umständen ab. Man kann es vorher nicht so genau bestimmen.«
»Ich werde mich beeilen zu … Aber sage mir, tut es wirklich nicht sehr weh?«
»Weh? Nein, gar nicht. Man langweilt sich, das ist alles, aber man interessiert sich für die Arbeit unserer kleinen Befreier und …«
»Ach, wenn ich sie doch bitten könnte, sich recht zu beeilen. So lange soll ich dich nicht sehen!«
»Du wirst aber an mich denken?«
»Ich werde immer nur an dich denken. Der Gedanke an deine Liebe wird mich keinen Augenblick verlassen.«
»Mein Gott, wenn doch die glückselige Stunde schon erscheinen wollte, wo ich frei, schön und dir ebenbürtig aus dem Grab hervorgehen und mich in deine Arme werfen könnte. Aber wirst auch du mir treu bleiben und mich nicht um einer anderen willen verlassen? Ich werde allein in meinem Sarg eingeschlossen in der Erde ruhen – während du …«
»Aber Lieb, mein Lieb!«
»Henry! Geh nun, es ist spät, meine Großmutter könnte zurückkommen.«
»Nein, Geliebte, du weißt recht gut, dass sie in der Kapelle ist und dass sie bis zum Morgen dort bleibt.«
»Ja, aber ich möchte mich so schnell wie möglich in meine Zurückgezogenheit begeben. Es drängt mich, ohne Aufschub mich ihnen zu übergeben, deren Werk mich dir ähnlich machen soll.«
»Sie ergreifen schon Besitz von uns, ehe wir beerdigt sind und sobald wir hier sind, gehören wir ihnen ganz und ihre Arbeit beginnt.«
»O mein Gott, Henry. Geh, geh nun. Ich will nicht vor dir …«
»Nur noch ein Wort, Louise. Ist es gewiss, dass du diesen jungen Mann, den Lebenden, deinen früheren Verlobten nicht mehr liebst? Denkst du nicht mehr an ihn?«
»Henry, ich habe dir doch schon gesagt …«
»Aber ich muss es noch einmal hören. Besonders jetzt, wo uns eine so lange Trennung bevorsteht. Ich bin eifersüchtig, oh, nicht auf die Küsse, die er dir gegeben – dein Fleisch – das bist nicht du – aber ich bin eifersüchtig auf deine Liebe, auf deine Gedanken … Du liebst ihn nicht mehr, nicht wahr? Diese hässliche, schwerfällige, menschliche Larve ist dir doch vollständig gleichgültig geworden?«
»Ja. Ich schwöre es dir, dass seit ich dich gesehen, mir schon die Erinnerung an seine grobe materielle Gestalt widerwärtig geworden ist!«
»Ach, Louise, wenn er es nicht doch eines Tages versuchen wird, dich mir streitig zu machen?«
»Aber woran denkst du, du bist ja wirklich ganz närrisch! Er ist ein starker, kräftiger Mann, der sich einer vorzüglichen Gesundheit erfreut. Er wird bald genug Ersatz für mich suchen und finden, er wird eine seinesgleichen lieben und mit ihr das schmutzige Dasein der Lebenden fortführen. Möge er recht alt werden und niemals hierhin kommen, das ist alles, was ich ihm wünsche.«
»Ist das auch ganz, ganz gewiss wahr, Louise? Wünschest du nicht, ihn wiederzusehen? Würde es nicht vielleicht doch Einfluss auf deine Gefühle für mich haben, wenn er stürbe und hierher käme?«
»Ach Gott, nein. Kann ich doch kaum sagen, dass ich ihn überhaupt geliebt habe, denn zu jener Zeit war ich doch nur ein törichtes, lebendiges, kleines Mädchen – dich aber, Henry – dich liebe ich wirklich, ich liebe dich tief und innig mit der Liebe einer Frau und einer Toten.«
»Louise, ich bete dich an.«
Ihre Stimmen senkten sich noch mehr und ihr Gespräch nahm den zärtlich girrenden Laut verliebter Turteltauben an und wurde hier und da von einem Kuss unterbrochen.
Das war zu viel für den armen Adhémar, mit einem tiefen Seufzer sank er ohnmächtig gegen das Schlüsselbein des Barons.
»Sapristi«, brummte dieser: »Nun ist ihm schon wieder schlecht geworden. Es ist begreiflich, dass dieser Schlag den armen Jungen sehr schwer getroffen hat.«
Er umfasste ihn sanft, schüttelte ihn etwas, schlug leicht auf seine Hände, nahm dann den Unglücklichen auf seine Arme und trug ihn mit einer Kraft, die man einem so mageren Wesen nicht zugetraut haben würde, von der Stelle, wo er den grausamen Verrat der Geliebten erfahren hatte.
»Mein Gott, mein Gott, diese Elende«, seufzte Adhémar, als er langsam zum Bewusstsein erwachte.
»Nicht wahr, so etwas erinnert an das Leben«, sagte der Baron mit bitterem Lächeln und ganz vergessend, dass sein Begleiter wirklich noch dem Leben angehört. »Aber Sie dürfen solchen Dingen wirklich nicht zu viel Wichtigkeit beilegen, mein Freund. Fassen Sie Mut. Der Schlag ist ein schwerer, aber tragen Sie ihn wie ein Mann.«
»Mein Gott, mein Gott«, seufzte Adhémar, »wie furchtbar ist dies alles. Und ihre Großmutter läuft in die Kapelle, anstatt sie zu überwachen. Mein Gott, mein Gott, ich ersticke.«
Und sich auf eine am Eingang der Allee befindliche mit Moos überdeckte alte Grabplatte niederwerfend, brach er in krampfhaftes Weinen aus.
»Weine, weine nur, armer Junge«, murmelte das Skelett in sich herein, »Tränen werden deinem armen Kinderherzen, das durch die Grausamkeit einer Frau gebrochen ist, Erleichterung verschaffen. Ach, es ist lange her, seit ich wahre Tränen vergießen sah. Wenn sehr lange schlechtes Wetter ist, schwitzen wir ja eine klebrige Feuchtigkeit aus – aber das ist doch nicht dasselbe. Sein Weinen erscheint mir sehr rührend, obwohl es ja dabei wirklich ein wenig lächerlich ist.«
Adhémar weinte sehr lange.
Der Baron blieb bei ihm. Er setzte sich ruhig zu ihm hin, ohne ein Wort mit ihm zu reden, bis er bemerkte, dass sein Begleiter sich allmählich zu beruhigen anfing. Dann erst erhob er sich und zwang Adhémar mit sanfter Festigkeit, ebenfalls aufzustehen und seinen Worten Gehör zu schenken.
»Mein Freund«, sagte er zu ihm, »es ist zum ersten Mal, dass Sie von einem ungeheuren Schmerz heimgesucht worden sind, es ist daher nur natürlich, dass Sie das Bedürfnis empfanden, sich auszuweinen. Ich respektiere Ihren Schmerz. Aber nun raffen Sie sich auch auf und geben Sie sich nicht wie ein energieloses Kind Ihrem Schmerz hin. Machen Sie sich Ihre Lage klar und finden Sie sich mit dem Unvermeidlichen ab. Dieses junge Mädchen liebt Sie nicht mehr, und ich möchte sogar behaupten, dass sie Sie überhaupt wirklich niemals geliebt hat, selbst als sie noch unter den Lebenden wandelte. Übrigens hat sie selbst das auch offen eingestanden.«
»Mein Gott«, seufzte Adhémar.
»Nein, wirklich«, fuhr der Baron energisch fort, »mit Tatsachen muss man sich abzufinden wissen, und es wäre töricht, wenn Sie sich noch Illusionen hingeben wollten. Wir wollen ohne Zögern diesen öden und unbehaglichen Ort verlassen. Ich denke, wir unternehmen zunächst mal einen kleinen Spaziergang, damit Sie Zeit haben, sich zu sammeln, und dann werde ich Sie mit zu der Gräfin von Talk nehmen.«
»Auf ein Fest? Nein, nie wieder«, sagte Adhémar.
»Doch, das müssen Sie schon mir zu Gefallen tun«, sagte der Baron, »es wird Sie auf andere Gedanken bringen und Sie werden sehr bald das seelische Gleichgewicht zurückerlangen. Lassen Sie sich außerdem von mir sagen, dass ich Sie für einen echten Edelmann halte und dass das Interesse, das ich für Sie empfinde, so lebhaft ist, dass ich mich glücklich schätzen würde, Sie als Freund zu gewinnen.«
»Ich liebe Sie ebenfalls sehr, und ich will alles tun, was Sie von mir verlangen«, seufzte Adhémar matt, die Handknochen des guten Skeletts drückend.
»Nun denn, keine Klagen mehr«, sagte der Baron. »Seien Sie traurig – aber zeigen Sie es nicht … Und dann, zum Teufel, wenn man in Ihrem Alter eine Frau verliert, gewinnt man zehn andere dafür.«
»O nein, nein«, protestierte Adhémar, »ich hasse die Frauen jetzt …«
»Das meinen Sie nur, weil Sie sie zu sehr lieben«, sagte der Baron, »oder vielmehr, weil Sie nur eine Einzige lieben. Lieben Sie mehrere auf einmal, dann werden Sie anders sprechen lernen. Aber brechen wir auf. Wir wollen den Weg über den großen Markt nehmen, weil der wirklich einen sehr interessanten Anblick gewährt, dann wollen wir ganz um den Friedhof herumgehen, in unser Quartier zurückkehren und zu der lieben Gräfin gehen. Wir werden gerade zu der Zeit ankommen, wo die Festesfreude ihren Höhepunkt erreicht hat.«
Sie machten sich auf den Weg. Der Baron pfiff einen munteren Trauermarsch und machte hier und da eine geistreiche Bemerkung, warf ein Wortspiel oder einen Witz hin, um seinen Gefährten zu erheitern, der gesenkten Hauptes und in gebeugter Haltung neben ihm her schritt.
Bei einer Wendung des Weges kamen sie wieder in die Nähe der Umfassungsmauer und sahen dort auf einem ziemlich verlassenen Platze mehrere Skelette, die ernst miteinander zu beraten schienen, während etwas von der Gruppe und voneinander getrennt zwei andere mit beinahe fieberhafter Ungeduld das Resultat der Konferenz erwarteten. Ein anderer maß die Distanz des Bodens aus. Auf der Erde lagen einige lange harte, sorgsam mit grüner Serge umhüllte Gegenstände.
»Sehen Sie«, sagte der Baron leise, »hier wird ein Duell vorbereitet. Der eine dieser Herren, der große linksstehende, mit dem gestickten Leichentuch, ist von seinem Gegner des falschen Spieles angeklagt worden. Er hat beim Baccarat die Bank gehalten und mit großem Glück gespielt – mit etwas zu viel Glück – wie es scheint. Er gehört zu jener berüchtigten Sorte brasilianischer Hochstapler, die als Lebemänner auftreten, denen man aber von Rechts wegen in einen so feinen Klub wie den der Wurzeln überhaupt gar keinen Eintritt gewähren sollte. Sein Gegner hat ein paar fatale Jugendstreiche begangen und ist nicht viel mehr wert als der andere. Das Duell wird ein sehr ernstes werden, denn sie haben sich vor Zeugen ordentlich gerauft, und niemand ist eifersüchtiger auf seine Ehre, als wer keine zu verlieren hat. Aber gehen wir rasch weiter. Ich sehe Reporter, Zeugen und Fotografen kommen, und ich möchte nicht gerne hier gesehen werden, weil ich es abgeschlagen habe, Zeuge zu sein. Es ist eine hässliche Affäre, aus der ein wirklicher Edelmann sich am liebsten heraushält.«
»Mit welchen Waffen schlagen sie sich?«, fragte Adhémar, dessen Gedanken weit abzuirren schienen. »Mit der Latte«, antwortete der Baron, ihn mit sich ziehend. »Aber jetzt bitte ich Sie nochmals allen Ernstes, mein Lieber, eine Kraftanstrengung zu machen und Ihre Traurigkeit abzuschütteln. Sie versenken sich immer mehr hinein. Es ist allerdings wahr, dass dies alles noch sehr neu für Sie ist, und dass, ehe Sie Ihre Geliebte wieder gesehen oder vielmehr reden gehört haben, Sie nur mit Ihrem Herzen litten, während jetzt auch Ihre Eigenliebe angegriffen worden ist.«
»Sie haben vielleicht recht«, antwortete Adhémar. »Gewiss ist, dass ich meinen Schmerz jedenfalls intensiver empfinde als vorher. Bisher habe ich ohne jeden bitteren Hintergedanken meine verlorene Liebe und dieses angebetete Mädchen beweint, das ich für so treu, so rein und aufrichtig hielt. Aber jetzt ist mein Leid ein viel tieferes geworden, es ist, als ob ein tödliches Gift in die Wunde meines Herzens geträufelt worden sei. Nicht genug damit, dass mir die Geliebte entrissen wurde, musste ich sie nun in den Armen eines anderen sehen; ich weiß jetzt, dass sie mich nie wirklich geliebt hat, und die Scham, die Verachtung und Bitterkeit, die ich empfinde, erfüllen mich mit namenlosem Schmerz.«
»Das ist zwar alles richtig«, bemerkte der Baron, »indessen vergessen Sie nicht, dass Sie bisher geglaubt, ein Ausnahmewesen verloren zu haben, ein Ihnen wirklich, aufrichtig und treu ergebenes Mädchen, während Sie sich nun davon überzeugt haben, dass die Seele Ihrer Geliebten stets die einer koketten, launenhaften und käuflichen Frau gewesen ist, die Ihres Herzeleides lacht und die ihrer Gelübde spottet. Verurteilen wir sie jedoch nicht allzu hart. Sie war zu der Zeit, als Sie sie kennen lernten, wirklich noch sehr jung und unerfahren, und vielleicht ist ihr in Henry de Livry wirklich der für sie prädestinierte Liebhaber erschienen.«
»Ach«, rief der junge Mann, »ich hätte mir, als ich ihren Tod erfuhr, sofort auch das Leben nehmen und ihr nachfolgen sollen, dann wären wir gleichzeitig hierhergekommen. Unser Läuterungsprozess wäre zur selben Zeit vollendet gewesen … und sie würde mir treu geblieben sein – es ist alles nur meine eigene Schuld.«
»Zweifellos«, meinte der Baron lächelnd. »Sie scheinen mir auch der Art wahrer Liebenden anzugehören, die sich eher selbst anklagen und alle Schuld auf sich nehmen, ehe sie das Unrecht ihrer Schönen eingestehen würden. Aber vergessen Sie dies alles, es ist wirklich Zeit dazu. Sie können das, was Sie eben gehört, doch unmöglich aus Ihrem Gedächtnis austilgen, und es ist nur zu gewiss, dass sie ihre Liebe einem anderen geschenkt hat. Suchen Sie Ihre Gedanken von dieser traurigen Episode abzulenken. Schicken Sie sich in das Unvermeidliche – seien Sie ein Mann.«
»Sie haben recht«, sagte Adhémar. »Entschuldigen Sie meine Schwäche, ich werde sie zu beherrschen versuchen. Ich bin glücklich, dass ich in all meinem Elend einen Freund gefunden habe, wie Sie es mir sind.«
»Sehr gut, so höre ich Sie gern sprechen. Nun kommen Sie mit mir, wir wollen uns zu zerstreuen suchen.«
»Ja«, sagte Adhémar, der sich gewaltsam zu fassen suchte, »wir wollen uns zerstreuen. Aber bitte, erklären Sie mir, was Sie vorhin damit meinten, als Sie sagten, Sie hätten Reporter gesehen? Gibt es denn hier so etwas wie Zeitungen?«
»Ei freilich«, antwortete der Baron. »Wir haben sogar drei Zeitungen, natürlich vertritt jede von ihnen eine andere Richtung. Die einzelnen Nummern werden mit Kreide auf Schiefertafeln geschrieben. Wir haben, um von unten anzufangen, da zunächst das Organ der Plebejer, ein wahres Schandblatt, das prätentiös und gallig, unter dem Vorwand, Missbräuche enthüllen zu wollen, ein schamloses Erpressungssystem verfolgt. Es hat sich den albernen Namen Leichenwagen der Armen zugelegt, und es gefällt sich darin, den Ruf der bedeutendsten Toten mit Schmutz zu besudeln. Der Herausgeber dieses Blattes ist eine minderwertige Persönlichkeit, die mit der magere Tod unterzeichnet. Es ist dies ein in besseren Kreisen allgemein verachteter Renegat, der das Volk durch die törichtsten Vorspiegelungen aufzuwiegeln versteht und abends vor den gemeinsamen Gräbern steht und große Reden schwingt, in denen er dazu auffordert, sich in Massen zusammenzurotten und gegen uns zu marschieren, um ihr Totenrecht von uns zurückzufordern. Bah!
Eine diesem Blatt gerade entgegengesetzte Richtung vertritt der Anzeiger der weißen Knochen. Es ist das zweifellos eine anständige, aber leider auch eine unerträglich langweilige Zeitung. Eigentlich lesen sie nur die Stockkonservativen. Sie wird von einer Art historischer Ruine geleitet, die der alten Mode angehört und die langweiligsten Geschichten breittritt, um seinen Abonnenten, die aus Stiftfräuleins und Pfarrern bestehen, die hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind, zu gefallen.
Dann kommt noch das Echo der Mitternacht, es ist dies die einzige lesbare und anständig redigierte Zeitung, die die Ereignisse, Feste und Neuigkeiten der Nacht sowie die Namen der bemerkenswerten Neuangekommenen mitteilt. In ihrem Beiblatt Der Tod für alle veröffentlicht sie auch Chroniken, die von den bedeutendsten literarischen und politischen Berühmtheiten, die wir hier haben, unterzeichnet sind und die sich eine Ehre daraus machen, Mitarbeiter dieses Blattes zu sein. Diese Zeitung ist sehr interessant, und ihr Direktor, mit dem ich befreundet bin, ist ein feiner Kopf, der wirklich viel von Kunst und Wissenschaften versteht. Er denkt daran, ein Theater zu gründen und das große öffentliche Mausoleum, das den Verschwundenen gewidmet ist, dazu einzurichten, aber dazu müsste er Unterstützung haben. Wir haben eine ganze Reihe der größten Künstler in unserer Mitte, die wirklich alle bereit wären, ihre Kraft der guten Sache zu widmen, trotz der Eifersucht, die sie einer auf den anderen selbst jetzt noch empfinden.«
Der Baron unterbrach sich, denn man hatte die kleinen geschützten Alleen verlassen, in denen es sich so gut plaudern lässt, und war in einen der Hauptwege gekommen, wo reger Verkehr herrschte.
»Mischen wir uns darunter«, sagte der Baron, »und beobachten Sie alles, soviel wie möglich. Es herrscht heute Nacht hier ein ungewöhnliches Leben.
Die meisten der Kaufleute, die Sie hier sehen, sind Juden. Ihr Friedhof liegt hinten an der Nordseite. Ich kann Ihnen versichern, dass sie es verstehen, die merkantilen Traditionen ihrer Rasse intakt zu bewahren. Da kommt uns gleich ein richtiger Vertreter dieser Sorte entgegen, sehen Sie nur dies alte, in ein schmutziges Leichentuch gehüllte Skelett, das mit einem Wadenbein den trockenen Schmutz von seinen Fußknöcheln schabt, das ist einer der größten Kapitalisten, die hier sind. Er hat sich ein bedeutendes Vermögen dadurch zu erwerben gewusst, dass er Metallstücke verkaufte, die er selbst zurechthämmerte. Es war nämlich vor einigen Jahren hier Mode, sich in dieser Weise die untere Kinnlade zu verstärken. Es war dies eine wahre Leidenschaft geworden. Man verwendete, je nach den Vermögensverhältnissen, Gold, Silber oder Blei dazu. Die unteren Klassen, die sich immer eine Ehre daraus machen, die Lächerlichkeiten der Vornehmen nachzuäffen, verwendeten mit besonderer Vorliebe die Deckel von Sardinenbüchsen zu diesem Zweck. Diese Mode ging vorüber wie alle Moden, indessen haben sich viele Kaufleute dadurch bereichert.«
Adhémar horchte diesen Erklärungen, während er und sein Begleiter langsam durch die dichte sie umwogende Menge schritten. Zu beiden Seiten der Allee befanden sich Buden, hinter denen die Händler in hockender Stellung saßen, die ihre Waren in lebhaftester Weise anpriesen und über den Preis der kleinsten Gegenstände in aufgeregter Weise hin- und herstritten. Die zum Kauf angebotenen Waren waren mit ein paar sehr seltenen Ausnahmen sehr wenig anziehend und würden von den Bewohnern der lebenden Welt für kaum mehr als armselige Überreste angesehen werden, die man in die Katakomben oder in die Kloaken wirft. Indessen schien der Handel damit ein sehr reger zu sein.
Adhémar stellte mit Bedauern fest, dass die Geschäfte durchaus nicht immer in ehrlicher Weise abgeschlossen wurden. Er bemerkte, wie ein Skelett, das etwas angetrunken zu sein schien und von einem zweideutigen Mädchen begleitet wurde, auf das Abscheulichste von einem jungen Händler mit Knochen betrogen wurde. Dieser Halunke stibitzte nämlich dem anderen geschickt das eigene Schlüsselbein und verkaufte es ihm dann zu einem ganz enormen Preis; dieser abscheuliche Handel vollzog sich offenbar im Einverständnis mit dem Mädchen, denn es versicherte seinem angetrunkenen Begleiter, dass es ihn unmöglich lieben könne, solange sein Skelett unvollkommen sei. Adhémar war so empört darüber, dass er im Begriff war, dazwischenzutreten, aber der Baron hielt ihn davon zurück.
»Hüten Sie sich wohl, sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen, was es auch immer sein möge«, sagte er zu ihm. »Sie befinden sich unter der Hefe der Bevölkerung, die Ihnen in solchem Falle sehr übel mitspielen könnte. Die Klugheit fordert hier, nur ruhig zu beobachten, und es ist sogar sehr empfehlenswert, nicht zu lange zu bleiben, sondern uns bald zurückzuziehen. Wir sind ein wenig spät gekommen. Zu dieser Stunde wird die Kanaille übermütig, und die Prostitution macht sich ohne Scheu breit und triumphiert über alle guten Sitten. Gehen wir also. Ich wollte Ihnen eigentlich noch ein reizendes Kind zeigen, das man gewöhnlich hier findet und das Irrlichter und Leuchtkäferchen feilhält, die die Damen gern kaufen, um sie als Schmuck zu verwenden. Aber ihr Stand ist schon leer, ich werde sie Ihnen ein anderes Mal zeigen.«