Das Gespensterbuch – Fünfte Geschichte Teil 1
Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913
Wenn wir gestorben sind …
von Frédéric Boutet
Wie eine Erinnerung an die Hitze des Sommers lag selbst in der Novembernacht eine laue, drückende schwere Luft über dem großen Friedhof. Der Himmel war durch bleifarbene Wolken verdüstert. Der Duft verwelkter Blätter erfüllte die Luft.
Ein feuchter, sich immer mehr verdichtender Nebel stieg von der Erde auf, er hing sich in fantastischen Formen in die verschnittenen Taxushecken, an die Spitzbögen der Leichensteine und die künstlerisch ausgestatteten Kapellen. Die Alleen waren sauber, die Rasen grün, die Bäume gut gepflegt und beschnitten. Der Friedhof machte einen so eleganten und reichen Eindruck, dass es wirklich Freude machen musste, ihn zu sehen. Nur wenige verlassene Gräber beleidigten das Auge durch ihren kläglichen Verfall.
Von einem durch das nächtliche Dunkel und den bleichen Nebel fast ganz verhüllten Glockenturm schlug die Uhr zwölfmal.
»Endlich kann man ausgehen«, murmelte ein großes Skelett, die Tür einer kleinen Kapelle mit lila Glasfenstern öffnend.
Mit der rechten, mit einem kostbaren Siegelring geschmückten Hand zog es sein Leichentuch fester um das Schlüsselbein und schritt dann langsam und mit diskretem Klappern seiner Knochen durch die Allee der Aristokraten, in der es wohnte.
»Ich hätte wohl Lust«, sagte es, sich behaglich streckend, »mal meinen lieben Freund St. Firmin zu besuchen; seit er bei Gelegenheit des in letzter Woche stattgefundenen Festes sein Darmbein verloren hat, ist er sehr verstimmt und man sieht ihn nirgends, mein Besuch … Aber halt! Was ist das?«
Es blieb bestürzt stehen. Es befand sich am Fuße der großen Umfassungsmauern, über die in diesem Augenblick ein mit einer schwarzen Hose bekleidetes Bein glitt, während daneben zwei sich festhaltende Hände sichtbar wurden. Im nächsten Augenblick hatte sich dann die ganze Gestalt eines jungen Mannes in Trauerkleidern über die Mauer geschwungen, an der er mit leisem Geräusch herunterrutschte und sachte unten auf den Boden fiel, ohne das Skelett zu bemerken, das zurückgewichen war und sich zu verbergen strebte. Der junge Mann war kaum wieder aufgestanden, als das Skelett, ohne sich zu besinnen, vorsprang und ihn am Kragen packte. Der Jüngling in Trauerkleidern bekam einen furchtbaren Schrecken – er wich zurück, riss die Augen weit und entsetzt auf – wollte schreien, konnte es jedoch nicht und fiel ohnmächtig zu Boden.
»Nun, was fällt dem dummen Jungen denn ein«, brummte das Skelett einigermaßen verlegen. »Ach, in jener Urne hat sich gottlob etwas Wasser gesammelt.«
Er benetzte ihn damit und schlug ihn ein paarmal kräftig auf die Hände. Der andere kam wieder zu sich, stand auf und wollte fliehen, aber die kräftige Faust des Skeletts hielt ihn fest.
»Nein, mein Herr«, sagte es in trockenem Ton, »Sie bleiben jetzt, wenn es Ihnen gefällig ist. Halten Sie es für anständig, in solcher Weise in Privatbesitzungen einzudringen? Was führt Sie hierher?«
Aber der junge Mann sah ihn mit offenem Mund an und war unfähig zu sprechen.
»Vorwärts, mein Herr, antworten Sie mir auf der Stelle«, befahl das Skelett, das sich seines guten Rechtes bewusst war, ein wenig die Ruhe verlierend. »Zwingen Sie mich nicht, Sie der Polizei zu übergeben. Gestehen Sie! Aus welchem Grund sind Sie wie ein Dieb über die Mauer geklettert? Geschah es, um die Ruhe der Toten zu stören? Ist es die Habsucht, die Sie an diesen geheiligten Ort führt und wollen Sie uns berauben? Oder sollte es pietätlose Neugierde sein, die Sie dazu drängt, alle Schicklichkeit zu vergessen und sich selbst in Gefahr zu begeben? So reden Sie doch? Sind Sie ein Spion? Das wäre allerdings infam! Ist es nicht genug damit, dass Sie und Ihresgleichen den ganzen Tag über die Freiheit haben, hierher zu kommen und uns zu langweilen, ohne zu bedenken, dass Ihre schmutzige Gegenwart uns verhindert, aus dem Grab hervorzugehen? Könnt Ihr uns nicht wenigstens des Nachts in Ruhe lassen. Seit wann sind die dickbäuchigen Barbaren dazu berechtigt, nachts die Mauern zu überklettern, um ästhetisch magere Leute zu beunruhigen? Sie, elender Fleischhaufen, was suchen Sie hier? Wollen Sie die Wohnungen der Toten schänden? Reden Sie, geben Sie Antwort! Schnell … oder … oder –… ich stoße Sie mit dem Kopf gegen jene Urne …«
Er schüttelte ihn kräftig.
»Gnade! Erbarmen! Haben Sie doch Mitleid mit mir, mein Herr«, stotterte der junge Mann in Trauer, sich dem Skelett zu Füßen werfend. »Jagen Sie mich nicht weg, seien Sie barmherzig! Ich wusste es nicht, haben Sie Mitleid mit einem Unglücklichen, einem Verzweifelnden! Ich hatte eine Braut, sie war der Stern meines Lebens, ich betete sie an …. Und sie starb, mein Herr, starb unmittelbar vor der Hochzeit. Ach, und ich blieb zurück, trunken vor Liebe und wahnsinnig vor Schmerz. Es drängte mich, fern von allen profanen Augen auf ihrem Grab zu knien und die Erde zu küssen, in der sie ruht. Seien Sie also barmherzig, gutes Skelett! Zu Ihren Füßen kniend, bitte ich Sie, mich zu ihr zu führen, um auf ihrem Grab zu weinen. O mein Gott, mein Gott!«
Er benetzte die Füße des Skeletts, das sichtlich gerührt war, mit heißen Tränen.
»Nun, nun, mein armer Junge«, sagte es in väterlichem Ton, »beruhigen Sie sich. Ich verzeihe Ihnen, ja, ganz gewiss, ich verzeihe alles denn die Liebe … Sehen Sie, im Grunde ist es ja nicht der Mühe wert, sich ihretwegen aufzuregen – aber die Liebe! Teufel auch, die Liebe. Kommen Sie, kommen Sie, junger Mann, ich werde Sie führen. Ja, ja, mein Freund, die Liebe.«
Er räusperte sich, als ob er seine Kehle reinigen wollte oder vielleicht auch, um seine Rührung zu verbergen.
»Danke, danke, mein Herr«, schluchzte der ganz in Tränen aufgelöste Jüngling.
»Beruhigen Sie sich also, beruhigen Sie sich.« Das Skelett zog ihn sanft vom Boden auf. »Ich willige ein, Sie zum Grab Ihrer Geliebten zu bringen, obwohl ich meine Pflicht dadurch verletze, denn es ist nicht erlaubt, Lebende in unsere Kreise einzuführen. Ich muss Ihnen nämlich gestehen und Sie dürfen mir meine Offenheit nicht übelnehmen, dass die Gesellschaft der Lebenden bei uns ziemlich verpönt ist und für nicht gerade fein gehalten wird. Was ihnen fehlt, ist die herbe Schönheit der Linien – es ist das viele Fleisch, das sie umgibt und sie so widerwärtig erscheinen lässt. Aber Ihr Kummer rührt mich und mit etwas List und Geschicklichkeit denke ich, wird es mir wohl gelingen, Sie für einen Neuangekommenen auszugeben.«
»Ein Neuangekommener?«, stotterte der junge Mann, »was wollen Sie damit sagen, gutes Skelett?«
»Nun für einen Toten, der eben erst begraben worden war, der seine leibliche Hülle, seine Schale, mit einem Wort, sein Fleisch noch nicht abgelegt hat. Gewöhnlich verhalten sich Leute, die sich in diesem Stadium befinden, besonders wenn sie auf einer höheren Bildungsstufe stehen, so still wie nur möglich und zeigen sich nicht. Es gilt nicht für sehr anständig, es zu tun. Man vermeidet es gern, einen hässlichen und grotesken Eindruck zu machen und wartet daher, bis der Läuterungsprozess vollendet ist und man in ebenso eleganter wie sauberer Gestalt sich den Kreisen der Unseren vorstellen kann. Indessen ist es immerhin gestattet, in den allerersten Nächten, wenn man noch präsentabel ist, aus dem Grab herauszugehen, um Bekanntschaften zu machen und seine Karte abzugeben. Nachher aber – Teufel auch, da ist es wirklich gescheiter, man bleibt hübsch zu Hause. Furchtbar langweilig ist das ja, das ist wahr. Die Stunden fließen langsam dahin, wenn man so still in seinem Sarg liegt, und wenn dann an langen Winterabenden der Regen unablässig tropft und langsam, langsam das Erdreich erweichend und den Deckel unseres Sarges durchdringend, sogar unser Leichentuch mit Feuchtigkeit erfüllt, während der Wind klagend durch die Äste der Bäume fährt. Nein, zum Teufel, das ist nicht lustig! Man wünscht dann wirklich, dass sie sich ein wenig beeilen möchten.«
»Wer? Sie?«, fragte der junge Mann.
»Sie – nun Sie wissen doch … Ich meine sie, die sich mit den Menschen beschäftigen, wenn kein anderer es mehr tut – ich meine jene kleinen fleißigen Arbeiter, die es sich angelegen sein lassen, unserer Figur ein elegantes Aussehen und feine schlanke Umrisse zu verleihen. Sie sind die richtigen kleinen Leichenräuber, die an uns herumknabbern und fressen, solange es etwas an uns zu knabbern und zu fressen gibt. Wie gern möchte man ihnen manchmal zurufen: Eilt euch doch ein wenig, aber das ist unmöglich. Langsam und unablässig vollbringen sie ihr Werk, ohne sich zu beeilen, aber auch ohne jemals zu rasten. Man fühlt es, wie sie unsere Muskeln aushöhlen, wie sie in unser Innerstes gleiten und wie sie sorgsam einen Knochen nach dem anderen des Fleisches entkleiden und blank herausputzen; oh, das kitzelt, aber man wagt es nicht, auch nur ein Glied zu rühren, aus Furcht, sie in ihrer Arbeit zu stören. Im Leben hat man keine Zeit, ihrer zu gedenken, aber, meiner Treu, wenn man erst begraben ist, dann lernt man ihre Dienste schätzen; man kommt sogar dazu, sie ordentlich gern zu haben und sich zu freuen, wenn sie groß und fett werden, weil das ein Zeichen ist, dass ihre Arbeit gute Fortschritte macht.«
»Mein Gott«, seufzte der junge Mann, »wie grauenhaft ist das!«
»Aber gar nicht«, sagte das Skelett, »sie sind es, die uns dieser unangenehmen Lage entheben, in der wir nicht wir selbst, wo – wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, wir weder Fleisch noch Fisch sind. Ohne ihre treue Hilfe würden wir niemals repräsentationsfähig werden. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist es daher ganz begreiflich, dass man rasch dazu kommt, ihnen gut zu sein, dass man ihre Arbeit mit Interesse verfolgt und berechnet, was ihnen zu tun noch übrigbleibt, den kleinen, ohne Hast und Rast arbeitenden Werkmeistern. Aber ich wiederhole Ihnen, dass uns wirklich viel daran gelegen ist, dass dieser Läuterungsprozess sich rasch vollziehe, weil die Sitte es erfordert, dass man während dieser ganzen Zeit das Grab nicht verlässt.
Es gibt leider immer noch ab und zu einige, die sich durch dieses ästhetische Gebot nicht gebunden erachten und selbst dann aus dem Grab hervorgehen, wenn sie sich in der allerbedenklichsten Verfassung befinden. Aber vor denen schließen wir die Augen, das kann ich Ihnen sagen. Gewöhnlich sind dies sehr leidenschaftliche Naturen, wie zum Beispiel Herr Honorus. Kennen Sie ihn vielleicht?«
»Nein«, sagte der junge Mann.
»Ich meine Honorus aus der großen Fabrik: Honorus Wey u. Co., einer der Gründer. Er wohnt unter einem sehr kostbaren Monument, einer Kapelle, die mit vergoldetem Zierrat überladen, aber sehr geschmacklos ist, obwohl sie sehr viel gekostet hat. Nun denn, dieser Herr Honorus ist vor kaum acht Monaten hergekommen, und schon ist er alle Abende draußen. Es ist das kein angenehmer Anblick, aber er hat sich in eine skandalöse Verbindung eingelassen, man begegnet ihm nur in der Allee der Freudenmädchen.«
»Was?«, fragte überrascht der junge Mann.
»Nun ja; das scheint Sie zu überraschen? Aber es ist wirklich so. Er gehört zu jenen Leuten, die es nicht abwarten können, bis sie in der geläuterten Gestalt erscheinen können, die hier in feinen Kreisen unerlässlich ist – sie suchen dann eben ihr Vergnügen anderswo … Ich beklage die Unglücklichen, die … Selbstredend schadet ein solches Treiben seinem Ruf, in der guten Gesellschaft wird er einfach kaltgestellt. Wir aber, wir der Aristokratie angehörenden Toten, sind es unserer Stellung schuldig, uns reserviert zu benehmen. Ganz gewiss sind auch wir dem Vergnügen nicht abhold, aber wir beobachten stets gewisse Formen … Aber ich sehe, mein lieber Herr, dass Sie sich etwas beruhigt haben, es war dies der einzige Zweck meines Plauderns. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir nun aufbrechen. Erlauben Sie jedoch vorher, dass ich mich Ihnen vorstelle: Baron La Rose, aus der zweiten Allee links; ich bewohne die mit lila Glasfenstern versehene Erbkapelle, die im Jahre 1820 wieder renoviert wurde … o, in ziemlich bescheidener Weise, denn die Revolution, Sie wissen … Ich werde Sie als einen meiner jungen Verwandten vorstellen.«
»Ich bin der Vicomte Adhémar de Léonce«, seufzte der junge Mann.
»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, freut mich sehr, lieber Herr; wenn ich nicht irre, besteht zwischen unseren Familien von mütterlicher Seite her eine Verwandtschaft? Die gut Gestorbenen – Verzeihung – zu Ihnen muss ich wohl sagen die vornehm Geborenen finden immer Beziehungen zueinander. Wenn es Ihnen also recht ist, wollen wir jetzt …«
»Auf ihrem Grab weinen, o ja, das will …« Und der arme Adhémar fing wieder zu schluchzen an.
»Gestatten Sie mir zunächst die Frage, um wen es sich eigentlich handelt«, unterbrach der Baron ihn sanft.
»Ach, Verzeihung, das ist wahr«, seufzte der junge Mann, »Louise … Louise de Rivière … o mein Gott, wenn ich denke, dass sie ein Raub der Schrecken des Grabes geworden ist.«
»Oh«, sagte das Skelett, »ich weiß, wo sie liegt, es ist in der Südallee, ganz nahe bei dem an den Taxushecken stehenden großen Kreuz. Sie ist von sehr guter Familie, die Grabkapelle besteht aus Granit und Porphyr und ist ebenso solide wie geschmackvoll hergerichtet. Brechen wir also auf …aber … zum Teufel … Ihre Haltung, mein Herr … Bah, so etwas kommt zuweilen vor. Eins aber möchte ich Ihnen doch raten: Halten Sie die Augen halb geschlossen. Ihr Blick ist zu lebhaft …«
Sie gingen die Hauptallee entlang, wandelten langsamen Schrittes durch diese stille Stadt, die durch den leichten auf und ab wallenden Nebel ein ganz heiteres, beinahe lebendes Aussehen gewann. Sie begegneten vielen anderen Skeletten, die irgendeinem Ziel zuzustreben schienen. Andere rauchten und schlenderten langsam und wie in Träume verloren dahin, oder sie ließen sich auch wohl auf alten eingesunkenen Grabplatten nieder, deren verwischte Inschriften sie zu enträtseln versuchten, während ihre blanken wie poliert aussehenden Schädel durch das ungewisse Licht schimmerten und die Silhouette ihrer grotesken Gestalt sich geisterhaft von dem bleifarbenen Nebel abhob. Hier und da waren Spielpartien arrangiert; man spielte Baccara, Poker und Bridge, und die Spielenden waren von einem Kreis von Zuschauern umgeben, die den Gang des Spieles aufmerksam verfolgten und Wetten eingingen, welche Partei gewinnen würde. Amateur-Wettläufer liefen um ein großes Gewölbe herum. An der Schwelle einiger der elegantesten Grabkapellen, die mit immergrünen Pflanzen reich geschmückt waren, empfingen die Herren des Hauses die elegante Welt ihrer eingeladenen Gäste. Ihre Schädel waren von Immortellenkränzen umgeben und köstliche Leichentücher umhüllten ihre Skelette. Vor einem eingesunkenen Gewölbe saß eine ganze Gesellschaft Spielender im Kreis, die mit einer runden Platte das damals bei den Lebenden beliebte Spiel des Deckeldrehens nachäfften. Hier und dort spielten von ihren Bonnen oder Müttern beaufsichtigte Kinder fröhlich umher. Ein Trupp munterer Gesellen ging, lustig mit den Knochen klappernd und ein Liedchen trällernd des Weges entlang, während sich zwischen den Bewohnern eines provisorischen Begräbnisplatzes ein sehr heftiger, lauter Wortwechsel entspann, um den sich rasch eine Gruppe neugierig Horchender bildete.
Weit ab von diesem Treiben, dort wo die alten Zypressen dichten Schatten spendeten und an den Gewölben entlang die schön gepflegten grünen Rasenflächen sich erstreckten, huschten hier und dort vorsichtig und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, verliebte Schatten hin und her, die sich rasch der eine zum anderen fanden. Die Leichentücher, in die sie gehüllt waren, trugen die Farbe der Mauern, und sobald sich ein Pärchen gefunden hatte, zog es sich mit verschlungenen Armen in das schützende Dunkel der Alleen zurück, oder sie verschwanden auch wohl hinter der verschwiegenen Tür einer noch unbewohnten Kapelle oder eines verlassenen Mausoleums.
Der junge Mann in Trauer schien offenbar sehr überrascht von allem, was er hier sah, aber das liebenswürdige Skelett, dem offenbar daran gelegen war, seinen Schützling so viel wie möglich in die hier herrschenden Verhältnisse einzuweihen, damit er die Rolle eines Neuangekommenen mit einiger Wahrscheinlichkeit durchzuführen vermöge, erklärte ihm alles in freundschaftlicher Weise, während es die ihm begegnenden bekannten Skelette stets höflich grüßte.
»Das Viertel, durch das wir jetzt kommen werden«, sagte es, »gilt für besonders schick, elegant und reich; hier befinden sich die schönsten Monumente, um derentwillen Fremde den Friedhof besuchen. Dort an der linken Seite hausen die Großkaufleute, die Herren von der Bank und der Industrie. Das Viertel, aus dem wir kommen und in dem ich wohne, ist das Hauptquartier der Aristokratie, und es ist daher nur natürlich, dass es dort sehr exklusiv hergeht. Es ist das Faubourg St. Germain unseres alten Friedhofes. Die Bewohner desselben erkennen sich sofort an einer gewissen Feinheit des Tones und der zurückhaltenden Vornehmheit ihrer Manieren. Wir legen besonderen Wert auf die zarte Schönheit unserer Extremitäten. Sie gilt für das Zeichen vollendeten Aristokratentums. Die Gräfin von Talk, die neben mir wohnt, ist wirklich berühmt wegen der göttlich schönen Feinheit ihrer kleinen Knöchelchen. Sie ist eine hervorragend reizende Dame, und sie hat die schönsten Zähne der Welt. Aber erst ihre Hände! Ach, mein Lieber, diese Hände, das ist ein Traum. Sie gleichen einem köstlich durchbrochenen Kunstwerk von grünlich weißem Elfenbein. Wir sind sehr intim miteinander, und ich bin stolz darauf. Die liebe Gräfin hat mir gestanden, dass das Interesse, das sie für mich empfindet, zuerst beim Anblick meines Fußes in ihr erwacht sei. Ja, mein Lieber«, hier lächelte das Skelett mit verschmitzter Miene, »es ist nur die Wahrheit, mein Fuß ist wirklich sehr schön. Teufel auch! Daran erkennt man die feine Herkunft! Der Fuß eines Kavaliers, wissen Sie!« Er streckte einen tadellos gebildeten Fuß unter seinem Leichentuch hervor, der außerordentlich elegante und hübsche Zehknöchelchen hatte.
»Ja, ja«, sagte der junge Mann in Trauer, der seinen Augen nicht traute und zu träumen wähnte.
»Hier«, so fuhr das Skelett fort, »ist überhaupt der Rang alles. Wir nehmen hier dieselbe gesellschaftliche Stellung ein, die wir früher im Leben bekleideten. Ein Edelmann ist und bleibt eben für alle Zeit ein Edelmann, ein Reicher bleibt auch hier ein reicher Mann. Der Demokratie ist es bis jetzt noch nicht gelungen, festen Fuß bei uns zu fassen, das heißt, ich spreche hier nur von den vornehmen Kreisen angehörenden Leuten. Bei den Plebejern jedoch, die dort hinaus wohnen …«, es deutete ein wenig verächtlich mit dem Daumen über sein Schulterbein weg und zu der nördlichen Seite des Friedhofes hin, »werden, wie man sagt, anarchistische Versammlungen abgehalten, in denen erklärt wird, die Rechte der vornehmen Geburt und einer hohen gesellschaftlichen Stellung verfielen mit dem Leben, im Tod seien alle Menschen gleich und ähnliche Dummheiten. Aber das ist ganz belanglos, denn diese Art von Individuen zählt überhaupt nicht mit. Oh, wenn man die nur ansieht, bekommt man genug davon. Sie sehen einfach scheußlich aus, so scheußlich, dass man ihnen sogar die Lebenden vorzuziehen geneigt wäre. Sie haben nicht einmal so viel erreicht, dass jeder ein besonderes Logis hat, und sie hausen in gemeinschaftlichen Wohnungen, hocken haufenweise in wahren Löchern, in deren Schmutz und Unrat sie sich jedoch gefallen. Es ist kaum zu glauben, aber nichtsdestoweniger wahr, dass sie nicht den geringsten Anstand beobachten, sich betrinken und untereinander raufen und schlagen, vor allem aber, dass sie die üble Gewohnheit haben, einer dem anderen die Knochen wegzustehlen, um das eigene Skelett zu komplettieren. Es gibt alte Skelette dort, die sich so viel herumgebalgt haben, dass ihnen schließlich auch kein einziger ihrer eigenen Knochen übriggeblieben ist. Es gibt da kein wohl konserviertes Skelett mehr, jedes einzelne besteht aus einem Sammelsurium von wenigstens zwanzig verschiedenen Knochenarten, man weiß einfach nicht, mit wem man redet, jeder Knochen hat einen anderen Ursprung. Sie verbringen ihre Zeit damit, sich gegenseitig zu beschuldigen, zu zanken, sich gegen die bestehende Ordnung aufzulehnen und dagegen zu protestieren. Von ihren schmutzigen Grabhügeln herab lieben sie es, prahlerische Reden zu halten, die Souveränität des Volkes zu proklamieren, zu erklären, dass wir sie unterdrücken, zu viel Raum einnehmen, dass ihre Existenz dadurch unmöglich geworden und es für sie besser gewesen wäre, wenn sie niemals gestorben wären.
Unterdessen prostituieren sich ihre Töchter in den dunklen Ecken, ihre Kinder spielen Ball mit Schädeln, die vielleicht ihren Ahnen angehört haben. Wie profan ist ein solches Treiben! Freilich, es ist ja wahr, dass solche Leute keine Ahnen haben. Glücklicherweise sind sie durch den Willen einer starken Autorität an ihr Revier gefesselt, wenn das nicht wäre, könnten wir das Schlimmste befürchten. Ab und zu machen wir inkognito und tief verhüllt Ausflüge in jene Regionen, es geschieht meistens, um unsere Damen zu begleiten – sie wissen ja, hübsche Frauen haben oft seltsame Gelüste und Einfälle, aber es herrscht dort wirklich ein zu gemeiner Ton, ich für meine Person werde nicht mehr hingehen. Es ist außerdem ein so beschämendes Gefühl, sich sagen zu müssen, dass unsere wohlgepflegten eleganten Knochen doch im Grunde aus derselben Materie bestehen, wie die dieser Plebejer … Ach, guten Abend, mein lieber Saint-Firmin, nun, haben Sie sich endlich entschlossen, wieder auszugehen?«
Der Baron blieb stehen, um einem großen, sehr sympathisch aussehenden Skelett herzlich die Hand zu drücken. Es war in ein sehr elegantes Leichentuch gehüllt und folgte, behaglich seine Zigarre rauchend, mit sichtbarem Interesse den Spuren eines anderen weiblichen und offenbar jungen Skelettes, dessen kokett aufgeschürztes Grablinnen feingebildete Wadenknochen enthüllte.
»Aber ja doch, ja doch«, antwortete das große Skelett. »Ich habe glücklicherweise mein verloren gewesenes Darmbein wiedergefunden; denken Sie nur, die kleine Schelmin, die Clara, hatte es versteckt, um mich zu necken. Aber wie warm es heute Abend ist«, fügte es hinzu, mit dem Zipfel seiner Umhüllung das Scheitelbein fächelnd.
»Und dabei welch ein Nebel! Gut, dass wir keine Luftröhren mehr haben, was?«, bemerkte munter der Baron, worauf sein Freund so herzlich lachte, dass ihm alle Knochen klapperten.
»Erlauben Sie, lieber Freund«, nahm La Rose dann das Gespräch wieder auf, »erlauben Sie, dass ich Ihnen einen Neuangekommenen vorstelle; es ist Herr Adhémar de Léonce, einer meiner Verwandten und ein hervorragend liebenswürdiger junger Mann.«
»Freut mich, freut mich wirklich sehr«, sagte das große Skelett verbindlich, sich höflich vor dem jungen Mann verneigend und ihm die rechte Hand reichend, die Adhémar nicht ohne einen gelinden Schauder drückte. »Ich bin entzückt, Sie in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Lieber Baron, Sie müssen unbedingt Ihren jungen Freund mit zu dem Zwölf-Uhr-Tee der Gräfin von Talk nehmen; er wird dort die Elite der Gesellschaft versammelt finden, und wir werden uns dort wiedersehen.«
»Zweifellos«, antwortete der Baron, »ich will Sie nicht länger aufhalten, lieber Freund.«
»Ach, ich würde mich Ihnen mit Vergnügen anschließen, aber – Sie müssen mich heute schon entschuldigen – ich habe nämlich einen Fund gemacht, ich sage Ihnen, mein Lieber, ich habe eine ganz entzückende Kleine aufgetan; sie ist zweifellos eine Plebejerin – aber so fein und leichtfüßig; ihre Knochen erscheinen wie poliert, und dabei tut sie so spröde. Wirklich, ich fürchte, sie entschlüpft mir.«
Und sich mit höflicher Verneigung verabschiedend, nahm er eilig die Verfolgung der reizenden Gestalt wieder auf, die übrigens keineswegs so unerreichbar und spröde zu sein schien, wie Herr von Saint-Firmin glauben machen wollte.
»Es ist wirklich ein famoser Mensch«, sagte der Baron, »immer noch jugendfrisch, verliebt und stets mit irgendeinem galanten Abenteuer beschäftigt. Dabei stets vornehm und ritterlich. Oh, er nimmt den Tod von der heiteren Seite, und er hat recht, es zu tun. Kommen Sie, mein Lieber, wir wollen seinen Rat befolgen und zu der Gesellschaft der Gräfin von Talk gehen. Sie werden sehen, dass Sie sich dort nicht langweilen werden. Aber ich vergaß: Verzeihen Sie, dass ich Ihnen von Vergnügungen sprach, während Ihr Herz unter der Last eines großen Schmerzes seufzt.«
Sie gingen eine kleine Weile schweigend nebeneinander her. Das Skelett schien mit seinem Los sehr zufrieden zu sein, obwohl es volles Verständnis für das Leid seines Schützlings hatte. Dieser schien ganz in Gedanken verloren zu sein, die aber offenbar nicht sehr heiterer Natur waren.
»Verzeihung«, fragte ihn plötzlich das Skelett, »wenn ich Sie an Ihren Kummer erinnere, aber ich möchte gern wissen, wie lange es her ist, dass Ihre Braut in das Reich der Toten eingetreten ist, ich erinnere mich dessen nicht mehr ganz genau?«
»Vor zwölf Tagen«, seufzte der junge Mann. »Ich war verreist, als das Unglück passierte, und habe es erst bei meiner Rückkehr erfahren. Ich war so verstört davon, dass man für meinen Verstand fürchtete und mich keinen Augenblick unbeobachtet ließ. Erst heute Abend ist es mir geglückt, mich unbemerkt zu entfernen. Aber weshalb stellten Sie mir diese Frage?«
»O – aus keinem besonderen Grund – aber Sie wissen doch, die Frauen … und da Ihre Braut doch unmöglich hoffen konnte, Sie so bald wieder zu sehen …«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Adhémar in gequältem Ton.
»Mein Gott, das ist eine delikate Angelegenheit – ich kann mich ja irren – aber ich möchte Ihnen unter allen Umständen neuen Schmerz und möglicherweise eine Enttäuschung ersparen. Sehen Sie, es ist doch nur ganz natürlich, dass das junge Mädchen denkt, wenn Sie ihr überhaupt zu folgen beabsichtigen, würden Sie dies gleich getan haben – da dies nun nicht geschehen ist, wird sie wohl annehmen, dass Sie früher oder später bei einer Lebenden Trost finden würden. Da könnte es also gut sein – man langweilt sich, wenn man nichts zu tun und kein Interesse hat – und es fehlt hier wirklich nicht an Tröstern, die ihr Handwerk von Grund aus verstehen, ganz besonders, wenn es sich um hübsche Neuangekommene handelt.«
»Das ist unmöglich! Ich bin ihrer sicher«, erklärte schnell der junge Mann.
»Umso besser, umso besser«, sagte der Baron mit skeptischem Lächeln. »Jedenfalls hielt ich es für richtig, Sie auf eine solche Möglichkeit aufmerksam zu machen. Halt«, sagte er dann, seinen Begleiter auf ein melancholisch aussehendes junges Skelett aufmerksam machend, das eine in einer einsamen Allee gelegene festgeschlossene Kapelle umstreifte. »Das ist auch ein Unglücklicher, der um seiner Liebe willen leidet.«
»Oh«, sagte Adhémar, teilnahmsvoll den ihm bezeichneten Unglücklichen ansehend, »hat seine Braut ihn verlassen?«
»Nein, wenigstens nicht so ganz; aber das ist wirklich eine traurige Geschichte, die wieder mal klar zeigt, wie sehr selbst das wärmste Gefühl durch eine längere Trennung beeinflusst werden kann. Er ist es, der seine Braut verlassen hat, indem er schon vor ein paar Jahren gestorben ist. Er ist hier immer traurig gewesen und hat bitterlich darüber geklagt, dass er das Mädchen, das er so heiß liebte, in dem entwürdigenden Kerker zurücklassen musste, den man die Welt der Lebenden nennt. Er war eifersüchtig und litt namenlose Qualen bei dem Gedanken, dass sie ihn vielleicht vergessen und einen anderen lieben könne. Sehen Sie, solche Gefühle sind hier schrecklich, weil sie zwecklos sind … Ich bin gewiss, wenn er es nur gekonnt hätte, würde er seine Braut ermordet haben, um sie hier für sich haben zu können.
Glücklicherweise erfuhr er dann durch einige Neuangekommene, zu denen er Beziehungen hatte, dass seine Braut ihm treu geblieben sei; sie hatte der Welt entsagt und war in ein Kloster eingetreten. Das war eine große Erleichterung für den armen Jungen, er harrte der Geliebten mit heißer Sehnsucht, ohne jedoch so viel dabei zu leiden, wie im Anfang. Es dauerte nicht so sehr lange, denn nach kurzer Zeit starb auch sie. Als der Begräbniszug sich näherte und er erfuhr, dass es seine Braut sei, die der Erde übergeben werden sollte, da kannte seine Freude keine Grenzen mehr. Aber das junge Mädchen hat, wie es scheint, ihre religiösen Pflichten allzu ernst genommen, denn als sie ihren Freund hier wiederfand, wollte sie seine Liebe nicht erwidern. Sie liebe ihn wie eine Schwester, sagte sie, aber in keiner anderen Weise. Seitdem ist nun der arme Junge der Raub einer schrecklichen Verzweiflung geworden, und er will sich durch nichts von seinem Kummer ablenken lassen. Alle Tage, wieder und immer wieder irrt er in der Nähe ihrer Kapelle umher. Sie öffnet ihm niemals – es kann ja sein, dass sie fürchtet, wenn sie ihn hereinließe, würde sie sich dennoch von seiner Liebe rühren lassen – jedenfalls gewährt sie ihm nicht mehr als eine gelegentliche kleine Unterhaltung durch das Gitterfenster ihrer Wohnung. Er bestürmt sie mit leidenschaftlichen Liebeserklärungen, fleht sie an, doch Mitleid mit ihm zu haben und auch ihn ein wenig, ach nur ein klein wenig lieb zu haben. Sie aber lässt sich nicht rühren und ermahnt ihn, seine Leidenschaft zu besiegen und einen resignierten tugendhaften Tod zu führen … Aber still, er kommt auf uns zu.«
Das junge Skelett, das, ohne auf seine Umgebung zu achten, traurig seinen Weg fortsetzt, kam wirklich gerade auf die beiden zu.
»Nun, mein armer junger Freund«, sagte der Baron teilnahmsvoll und leicht mit den Fingerknöcheln sein Armbein berührend, »wie geht es? Sind Sie immer noch so unglücklich?«
»Ach! Ich werde noch meinen Schädel darüber verlieren«, sagte das junge Skelett in gequältem Ton. »Ich liebe sie zu sehr! Ich verehre und bete sie an, ich liebe sie bis zum Wahnsinn! Ganze Stunden verbringe ich vor dieser verfluchten und mir doch so unendlich teuren Tür, die sich mir nicht öffnen will. Ich verzehre mich in Sehnsucht – aber ich flehe sie vergebens an, sich meiner zu erbarmen. Sie ist unerbittlich, bleibt immer ruhig, kalt und gefühllos, oh, und dabei ist sie so hübsch, so hübsch! Manchmal, wenn der Mondschein durch die Glasscheiben ihrer Kapelle fällt, erkenne ich deutlich ihre schlanke, elegante und stolze Gestalt, und ich sehe, wie die Strahlen des Mondes zärtlich ihre blankpolierten elfenbeinweißen Knochen umschmeicheln und küssen. Ach, ich würde die Welt darum geben, wenn ich nur den Saum ihres Leichentuches berühren dürfte! Ihre Zähne schimmern blendend weiß und mit berückender Schönheit, und das geheimnisvolle Dunkel ihrer großen leeren Augenhöhlen erscheint mir wie ein göttlicher Abgrund, in den meine Leidenschaft sich versenken möchte, um mit immer erneuter Kraft und Glut daraus hervorzugehen. Ich kann sie nicht vergessen und ich versuche vergebens, ihr zu entfliehen oder sie zu erweichen! O diese Qual! Ich sage Ihnen, sie hat kein Herz, während ich, ich«, und er schlug sich verzweifelnd auf die linksseitigen Rippen. »Ach, ich wollte, es wäre alles noch wie früher, als ich allein hier war und ihrer harrte, damals besaß ich wenigstens das Glück der Hoffnung. Vorgestern habe ich einen missglückten Versuch gemacht, mich zu erhängen. Ach, ich sehne mich in das Leben zurück, da konnte man sich doch im schlimmsten Fall den Tod geben.«
Die Aufregung des Unglücklichen hatte sich durch diese Aussprache doch einigermaßen gelegt; er entfernte sich ruhig, wenn auch tief niedergeschlagen. Er setzte sich auf ein düster aussehendes Grab, löste sein linkes Schienenbein, das er durchbohrt und wie eine Flöte hergerichtet hatte und begann darauf eine melancholische und einschmeichelnd zärtliche Melodie zu blasen.
»Das ist das Lied, das beide zur Zeit ihres Lebens und Liebens am liebsten hörten«, sagte der Baron leise zu seinem bis zu Tränen gerührten Begleiter.
Sie entfernten sich langsam und den allmählich verklingenden klagenden Tönen lauschend.