Der Wildschütz – Kapitel 21
Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875
Einundzwanzigstes Kapitel
Der Freiknecht
Als Herr John das Zimmer verlassen hatte, fühlte Curt das Unbehagliche seiner Lage so heftig wie fast noch niemals. Er befand sich in einer Stimmung, die ihn fast zu Boden drückte. Endlich hielt er es nicht mehr länger aus, die Einsamkeit wurde ihm zu einer unerträglichen Last, und um sich zu zerstreuen, eilte er hinaus. Das Gewühl in den Straßen bot ihm genug Gelegenheit, um seinen inneren Kummer auf einige Zeit zu vergessen.
In dieser Absicht schlug er den Weg nach den belebteren Teilen der Hauptstadt ein. Das Geräusch rings um ihn herum nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und er betrachtete mit Staunen und Verwunderung die prachtvoll erleuchteten Läden, sowie die glänzenden Equipagen, welche schnell nach allen Richtungen hin an ihm vorüberrasselten.
Nachdem er längere Zeit vorwärts gegangen war, erreichte er einen großen freien Platz, umgeben von großen Gebäuden. In der Mitte desselben waren Wege für die Spaziergänger angelegt und ein zahlreiches Publikum war umher zerstreut. Curt konnte die Hälfte des Platzes durchwandert haben, da bemerkte er ein dichtes Menschenknäuel, welches sich zu einem Punkt zusammendrängte. Auf wiederholtes Fragen erfuhr er endlich, dass ein blindes Mädchen am Ende einer nach dem Platz mündenden Straße überfahren worden. Man habe sie bis hierhergetragen, wo sie besinnungslos niedergestürzt sei.
Diese Mitteilungen erregten die Neugierde sowie das Mitleid in dem jungen Mann. Er suchte durch die immer wachsende Menge hindurchzukommen, was ihm auch nach langen und anstrengenden Bemühungen gelang. Die neugierigen Gaffer umstanden die Unglückliche, ohne ihr Hilfe zu leisten. Curt stieß unwillig einige von den Zunächststehenden auf die Seite, dann beugte er sich über die Umgesunkene, um sie aufzurichten, und nachdem ihm dies gelungen war, bemerkte Curt, dass die Unglückliche sich zu regen begann.
»Sie atmet wieder!«, rief er den Umstehenden zu, »und sie würde sich gewiss bald wieder erholen, wenn man sie zu ihrer Wohnung bringen könnte. Weiß denn niemand, wem das Mädchen angehört?«
Auf diese Frage trat ein kleines Männchen näher an den Fragenden heran und nachdem er das blinde Mädchen aufmerksam betrachtet hatte, sagte er, gegen Curt sich wendend: »Ich kenne diese Person, sie wohnt in der Vorstadt; sie lebt mit ihrer Mutter, welche eine sehr rechtschaffene Frau ist, und beide müssen sich kümmerlich ernähren.«
Diese Bemerkung war hinreichend, das Mitleid der Anwesenden zu erwecken. Von allen Seiten vernahm man den lebhaftesten Anteil, und diejenigen, welche sich bisher gleichgültig gezeigt hatten, beeilten sich, der Blinden beizustehen. Der kleine Mann führte den Zug an, worauf man die Kranke emporhob, um sie zu ihrer Wohnung zu tragen.
Die alte Martha erschrak heftig bei dem Anblick der erscheinenden Menge, die sich in dem Gefolge ihrer Tochter befand, und sie entsetzte sich noch mehr, als sie vernahm, was sich ereignet hatte. Sie empfing die drei Männer, welche das Mädchen die enge Treppe hinauftrugen, mit einem lauten Schrei der Angst und eilte ihnen mit kummervollem Gesicht entgegen.
»Mein Kind, o mein armes Kind!«, rief sie, »was ist geschehen, o sprecht, Ihr guten Leute, was ist meinem armen Kind begegnet? Ich habe schon längst Unglück gefürchtet, wenn das gute Mädchen allein in der Stadt umberging, und jetzt – o, dass ich es befürchten muss – ist sie vielleicht eine Leiche!«
»Beruhigen Sie sich, gute Frau«, entgegnete Curt, welcher sich unter den Trägern befand, »Ihre Tochter befindet sich am Leben, wir wollen sie zu Bett bringen und dann will ich sogleich einen Arzt besorgen.«
Man trug die Kranke nach dem kleinen Zimmer und legte sie auf ein reinliches Bett. Hierauf eilte Martha, um den nächstgelegenen Chirurgen herbeizurufen.
Die Eile, mit welcher die alte Frau zu Werke ging, um für ihre Tochter zu sorgen, ließ sie die Vorsicht für sich selbst vergessen, und so geschah es, dass sie fast die ganze Treppe hinabstürzte und außerstande war, sich aufzurichten.
Ein Unglück kommt selten allein. Dieses Sprichwort bestätigte sich auch hier. Curt eilte sogleich herbei. Während seine Begleiter der alten Frau beistanden, verließ er die Wohnung, um Hilfe für die Unglücklichen zu schaffen. Nach einem raschen Gang langte er vor der Wohnung des Arztes an. Er fand denselben auch zu Hause, ein Umstand, der ihm sehr willkommen war. Curt nannte sein Anliegen, allein der Mann schützte dringende Angelegenheit vor und bemerkte, dass es ihm unmöglich sei, noch diesen Abend zu kommen. Curt fühlte sich durch den Ton beleidigt, in welchem der Doktor zu ihm gesprochen hatte, und er entgegnete daher ziemlich aufgebracht: »Ha, ha, ich bemerke es nur zu gut, mein Herr, was die Ursache sein mag, die Sie bestimmt, meine Bitte unberücksichtigt zu lassen! Sie glauben vielleicht, Ihren Beistand nicht belohnt zu sehen? O nein, da irren Sie sich sehr, und um jeden Zweifel deshalb zu entfernen, will ich Sie bezahlen, ehe Sie einen Fuß aus Ihrer Wohnung setzen.«
Mit diesen Worten zog er seine Börse heraus und warf sie dem Arzt zu, der nun unwillkürlich vor seiner Gemeinheit zu erröten begann. Er hob den Beutel, der einige Gulden enthalten mochte, auf und gab ihn dem Eigentümer zurück, indem er sagte: »Behalten Sie Ihr Geld, ich verlange keine Vorausbezahlung; aber«, fügte er hinzu, »ich werde mich auch durch diese Maßregel nicht bestimmen lassen, zu kommen.« Diese Worte brachten den jungen Mann in die größte Aufregung; er vergaß die Rücksichten, die er hier zu beobachten hatte, und im Gefühl seiner Entrüstung rief er, während seine Hand den dürren Arm des Arztes krampfhaft gefasst hielt.
»Wie, mein Herr, Sie wollen nicht? Bei Gott, Sie müssen!« Mit diesen Worten zerrte er den Sträubenden mit Gewalt nach der Tür zu.
Diese Behandlung reizte nun auch den Doktor, er spreizte die dürren Beine und stemmte die Hände in die mageren Seiten, indem er voll Wut kreischte: »Wer sind Sie, dass Sie sich so etwas unterstehen, mich in meiner Wohnung hin und her zu zerren wie einen Narren? Ich will Ihnen sagen, wer Sie sind, denn Ihr Benehmen zeigt es mir deutlich genug. Sie sind ein ungezogener Bengel, ein Grobi…«
Eine derbe Ohrfeige unterbrach den Sprecher, allein nun ging der Arzt in Feuer und Flammen auf; er fing an zu schreien und stürzte ans Fenster. »Diebe – Spitzbuben – Räuber!« Dies war der Hauptinhalt seiner Notsignale, welche sich jagten wie telegraphische Depeschen.
Der Hilferuf wurde bald vernommen und in wenig Minuten stürzten mehrere Männer mit Knitteln und anderen Waffen ins Zimmer herein.
Der Anblick von Hilfsmannschaft erweckte den Mut des Doktors; er fürchtete nun keine Gefahr mehr. Greift ihn, greift ihn!«, rief er, »ich will Euch, so wahr ich Neuntöter heiße, alle Beulen und Wunden umsonst heilen, die Euch vielleicht der Schurke im Handgemenge schlägt. Greift ihn«
,,Und ich«, rief Curt, ,,will Euch die Hälse brechen, wenn Ihr es wagt, mich anzurühren! Fort oder ich …«
»Ho, ho! Nur gemach mein Freund, du kommst so nicht fort und wir werden unsere Knochen zu bewahren wissen!«, schrie ein starker Bursche. »Greift an!« Mit diesen Worten drangen die Männer heftig auf ihn ein.«
»Hört mich«, rief Curt, »ich will und kann mich verteidigen, ich habe mein Recht!« »Mitnichten, wir nehmen dich, wie wir dich finden, magst du dein Recht wo anders beweisen.”
Der Streit begann nun mit erhöhter Heftigkeit. Man schrie und schimpfte; der Lärm erscholl bis auf die belebte Straße hinab, und bald darauf eilten eine Anzahl Menschen in das Haus des Doktors, dessen Stimme man deutlich von dort herab vernehmen konnte.
Unser Held befand sich nun in einer höchst kritischen Lage. Er sah es zu spät ein, dass ihn seine Gutmütigkeit in dieselbe gebracht und ihm wieder einen argen Streich gespielt hatte. Er sann nun auf ein Mittel, zu entkommen, allein es war nicht möglich. Seine Gegner umstanden dicht gedrängt den Eingang des Zimmers, während ihm die Übrigen hart zuzusetzen begannen. In dieser großen Not sah er nur noch einen Weg offen, obwohl ihm derselbe zweifelhaft genug erschien, um mit Gewissheit einen guten Erfolg hoffen zu dürfen, jedoch er musste alles versuchen, um seine Freiheit zu retten.
»Zurück, Ihr elenden Schufte!«, donnerte er. »Habt ihr keine Scheu vor dem Gehilfen des Henkers – wer wagt es, mich anzurühren?«
Ein Blitzschlag hätte kaum diejenige Wirkung hervorbringen können, als es diese wenigen Worte vermochten. Alle wichen von Abscheu erfüllt zurück, während der Doktor vor Schreck eine Lanzette auf den Boden fallen ließ, mit der er sich in der Eile bewaffnet hatte.
»Der Henker in meinem Haus?«, rief er voll Entsetzen. »Großer Gott, welch ein Unglück für mich! Elender!«, fuhr er gegen Curt fort, der mit verschränkten Armen und mit Vergnügen die Bestürzung seiner Umgebung beobachtete. »Was bewog dich, das Haus eines geachteten Mannes aussätzig zu machen?«
»Das können Sie noch fragen, was mich bewog, Sie aufzusuchen?«, entgegnete der Gefragte. »Habe ich es Ihnen nicht in der größten Bescheidenheit gesagt? Hätten Sie mir gefolgt, und es wäre alles unterblieben, was geschehen ist. Ich überlasse es Ihnen, ob Sie Gebrauch von den Umständen machen wollen, unter welchen ich hierhergekommen bin. Es wird Ihnen auf jeden Fall wenig Ehre machen, mir ist es gleichgültig, ob Sie mich gehen lassen oder noch ferner zurückhalten wollen?«
»Nein, nein, mache, dass du fortkommst«, rief der Doktor, »dein Anblick macht mich für meine geehrten Kunden beben; ich muss ihren Verlust befürchten, wenn man in der Stadt erfährt, dass der Henker über meine Schwelle geschritten ist.«
Curt begleitete diese Worte mit einem höhnischen Lächeln. »Nun wohl denn, so will ich gehen«, sagte er. »Vielleicht sehen wir uns bald wieder, denn der morgige Tag ist dazu bestimmt, dem Publikum meine Fertigkeit zu zeigen. Armer Henker!«, fuhr er in bitterem Ton fort, »wer ist wohl am meisten verachtet, du oder das Opfer, das deine Hand morgen erfassen und vernichten wird? Wird man mich nicht mehr verabscheuen als dich? Es ist so und ich muss es dulden!«
Dieses sprechend, ging er mit stolzen und langsamen Schritten zum Zimmer hinaus. Niemand wagte es, ihn zurückzuhalten, Alle schauten ihm, von gemischten Gefühlen ergriffen, nach. Es herrschte die größte Stille und man hörte, wie seine Tritte nach und nach verhallten.
»Gott sei Dank, er ist fort!«, sagte der Doktor, als einer der Ersten, der das herrschende Schweigen unterbrach. »Geht in Gottes Namen nach Hause, und wenn Ihr über den heutigen Vorfall schweigen könnt, so will ich im eintretenden Fall jedem unter Euch unentgeltlich ein Rezept schreiben und für Eure Frauen und Kinder gute Abführungsmittel verabreichen.«
Die Anwesenden verneigten sich dankbar und gingen, um das Ereignis zeitig genug ihren Ehefrauen mitzuteilen. Man kann überzeugt sein, dass die ehrbaren Frauen für eine gründliche Verbreitung Sorge trugen.