Nach Amerika! – Zweiter Band – 04
Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Zweiter Band
Leipzig, Berlin, 1855
In See
So ungeduldig die Passagiere aber schon vorher gewesen waren, das Schiff nun endlich einmal in vollem Lauf seinem Ziel entgegengehen zu sehen, so peinlich wurde ihnen nun jeder Augenblick, den sie, mit dem Bewusstsein unter den Kanonen des Bremerhavener Forts zu liegen, und noch im leichten Bereich einer neuen Durchsuchung zu sein, hier untätig, angeschlossen an die Ankerkette, verbringen mussten. Sie zählten die Minuten, die noch bis zum Einsetzen der Ebbe verlaufen mussten, und tausendmal sahen sie nach allen Richtungen über Bord, ob sich die Strömung nicht endlich stauen würde.
Endlich kam auch der Augenblick, die Zeit flog mit nur zu raschen Schwingen über uns hin, und wie bald lag die Stunde weit, weit hinter uns, die wir so lang herbeigesehnt, so heiß erhofft hatten. Das Wasser stand, die Brise wurde frischer, und wenn sie wenigstens erst den Ellbogen hinter sich hatten, den die Weser bei Bremerhaven macht, günstiger und nun – die Tatsache war außer jedem Zweifel – schwang das Schiff vor der rückkehrenden Flut vor seinem Anker herum und lag, den Bug stromauf, dem immer stärker strömenden Wasser die scharfe Stirn bietend. Aber noch keine Anstalt wurde an Bord gemacht, Flut und Wind zu benutzen, noch lagen die Segel festgeschnürt auf ihren Rahen, und selbst die Matrosen blickten verwundert zu ihren Offizieren hin, den Kopf schüttelnd über den unbegreiflichen Aufenthalt. Wenn sie noch lange hier zögerten, kamen sie in dieser Nacht gar nicht mehr in offene See und konnten nur gleich da vor Anker liegen bleiben; zwölf volle Stunden länger.
Der Kapitän ging indessen mit auf dem Rücken gekreuzten Armen, selbst wie ungeduldig, mit raschen Schritten an Deck auf und ab und beantwortete alle an ihn gerichtete Fragen der Kajütspassagiere gar nicht, oder so kurz abgebrochen und mürrisch, dass ihnen zuletzt die Lust verging ihn weiter zu behelligen. Fortwährend sah er dabei nach der Sonne hinüber, die sich mehr und mehr dem Horizont neigte, und dann wieder nach seiner Uhr, als ob er der ersteren nicht glaube, dass es so früh noch sei. Endlich halb sechs Uhr, früher als gewöhnlich, kam der Koch nach hinten mit seiner stereotypen Frage: »Captein, beleeft tu schaffen?«1
»Ja Kock, schaff man!«, lautete die Antwort; und »Schaffen« brüllte der Koch, wie er sich kaum von dem Kapitän abgewandt hatte, über Deck, dass es von einem Ende bis zum anderen dröhnte.
Einer der Matrosen hatte indessen schon die riesige blecherne Teekanne aus der Kombüse (Schiffsküche) geholt und nach vorn auf die Back getragen, auf der die Schiffsmannschaft lagerte. Die Jungen brachten nun in großen hölzernen Schüsseln den Schiffszwieback und Schwarzbrot, wie kaltes, von Mittag übriggebliebenes Fleisch, und die Leute langten tapfer zu, ihr einfaches Mahl zu beenden.
Auch die Zwischendeckspassagiere waren durch den Ruf beordert worden, ihren Tee zu fassen. Noch hatte aber nicht die Hälfte derselben der Aufforderung genügt, und selbst Einzelne der Matrosen kauten noch ihren kaum aufgeweichten Zwieback, als der willkommene Ruf ertönte, die Ankerwinde zu bemannen. Im Nu war das geschehen, wenigstens zwanzig Passagiere hingen sich mit daran, und der Anker kam rasselnd empor, wie die Kette nur aus dem Weg geholt und wieder umgeschlagen werden konnte. Zu gleicher Zeit war ein Teil der Matrosen nach oben geschickt worden, die leichten Segel zu lösen, die Rahen flogen herum, die Schoten auf, die frische Brise legte sich hinein, und mit dem scharf aufgeholten Ruder fiel der Bug vor dem Wind ab. Die Leute hingen nun sämtlich an den Brassen, den rasch auf einander folgenden Befehlen zu gehorchen, und zehn Minuten später schoss das wackere Fahrzeug an Bremerhaven vorbei in das breite Fahrwasser hinein, und vor dem Wind dahin, dass der Schaum – ein willkommener und lang ersehnter Anblick – sich vorn am Bug kräußte.
Noch aber waren lange nicht alle Segel gesetzt; nichtsdestoweniger machten sie trefflichen Fortgang, und bald lag Bremerhaven mit seinem darüber hinausdehnenden Mastengitter sowie das runde Fort mit seinen drohenden Kanonen weit, weit hinter ihnen.
»Aber der Deserteur?« Wo war der junge Bursche geblieben und warum kam er nicht zum Vorschein, die Gratulationen seiner Mitpassagiere zu empfangen? Oder wusste der Kapitän wirklich nichts von ihm und musste er noch versteckt gehalten werden, dass dieser nicht etwa noch umkehre und ihn an die Behörden abliefere? Sonst war doch wahrlich keine Gefahr mehr für ihn vorhanden. Die Passagiere fragten das unzählige Mal unter sich, wagten aber nicht, selbst den Untersteuermann deshalb anzureden. Der wusste doch wohl am besten, was er zu tun oder zu lassen hatte, und dass er dem armen Teufel freundlich gesinnt war, brauchte er nicht mehr zu beweisen.
Der Lotse, der erst wieder an Deck gekommen war, als die Leute anfingen, den Anker zu lichten, stand nun vorn auf der Back des Schiffes, dicht am Bugspriet, und rief von da seine Befehle dem Mann am Steuerruder zurück, die dieser, zum Beweis, dass er sie richtig verstanden habe und damit kein Irrtum möglich sei, laut zu wiederholen hatte.
Die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden, und die Haidschnucke hielt in der nun merklich einbrechenden Dämmerung gerade auf das Feuerschiff zu, das in der Mündung der Weser vor Anker liegt, aus- oder einsegelnden Schiffen die Richtung anzudeuten, die sie zu nehmen haben. Auf dem Vortopp der Haidschnucke wurde aber eine kleine rote Flagge, irgendein verabredetes Signal, aufgehisst, und gleich darauf kam von dem Leuchtschiff, das eben sein rotes Licht entzündet hatte, ein Boot ab, in dem zwei Mann ruderten, zwei hinten im Stern des Bootes, und drei vorn im Bug saßen.
Die Zwischendeckspassagiere hatten indessen meist das obere Deck verlassen, vor völliger Dunkelheit ihre Schlafstellen unten in Ordnung zu bringen, was nachher immer mit einiger Schwierigkeit verbunden war. Nur Einzelne standen noch oben, die mit gespanntem Interesse den Bewegungen des neu anrudernden Bootes entgegensahen, in dem sie kaum etwas anderes erwarteten als eine zweite Visitation.
»Verdammt will ich sein«, brummte dabei der Mann mit den kurzen Haaren, der bis dahin besonders aufmerksam das Manöver mit den Flaggen und dem abkommenden Boot betrachtet hatte, »wenn uns die nicht nochmals ihre Spürhunde herüberschicken. Hol sie der Teufel, sie bekomplimentieren uns wohl so hinaus bis in die offene See.«
»Nun, wenn sie am hellen Tag nichts gefunden haben, werden sie wohl diesmal auch mit langer Nase abziehen«, sagte Steinert, der dicht neben ihm stand. »Jetzt kann ich mir aber auch denken, weshalb der Kapitän mit der Abfahrt von unserem letzten Ankerplatz so lange gezögert hat.«
»Nun?«, sagte der finstere Bursche und sah ihn von der Seite an.
»Er hat gewusst, dass ihm die Rotkragen hier noch einmal an Bord steigen würden«, flüsterte Steinert geheimnisvoll, »und deshalb gewartet, dass er hier erst mit Schummrig werden einträfe – so ist es.«
»Für so gescheit hätte ich ihn gar nicht gehalten«, brummte der Erste wieder, »aber da sind sie«, setzte er dann hinzu, indem er sich vom Bord abdrehte und zum Eingang des Zwischendecks zu ging. »Hol sie der Teufel, ich mag sie nicht sehen; wenn sie etwas von uns wollen, können sie zu uns herunterkommen.«
»Mag wohl seine Ursache haben, dass er die Polizei nicht leiden kann«, raunte der Untersteuermann leise dem einen Matrosen zu, der neben ihm stand und ein zusammengerolltes Tau in der Hand hielt, es dem nahenden Boot zuzuwerfen.
»Futter für Amerika«, sagte der Mann, verächtlich den Kopf auf die Seite werfend, »der kommt durch …«
»Ja Hans, wenn er nicht mit dem Kopf darin stecken bleibt«, meinte der Untersteuermann, dem Passagier nachsehend, wie er eben in das Deck hinunterstieg. Das Gespräch der beiden wurde aber in diesem Augenblick durch das Boot selbst abgebrochen, das langseits kam. Des Lotsen Ruf hatte indessen die Fock und die Vormarssegel backbrassen lassen, dass das Schiff in diesem Augenblick keinen Fortgang weiter als mit der Strömung selbst machte, und wenige Minuten später kletterten fünf Männer an Deck und wurden, auf die Frage des einen von ihnen, zum Kapitän auf das Quarterdeck gewiesen.
»Steht bei hier und nehmt die Kisten herauf!«, tönte indessen der Ruf des Steuermanns, und Taue wurden in das Boot hinuntergelassen, drei gewöhnliche Seemannskisten an Bord zu heben, die indessen oben an Deck stehen blieben.
Der Kapitän stand mit Professor Lobenstein und dem Lotsen allein auf dem Quarterdeck, als die fünf Männer die kleine Treppe, die dahin hinaufführte, erstiegen. Auf ein paar Worte des Ersten blieben drei von ihnen, denen der Vierte fast wie zur Bewachung beigegeben war, an der Treppe stehen, während jener auf den Kapitän zuging und mit militärischem Gruß an sein Mützenschild griff. Der Mann war in Zivil gekleidet und trug einen dunklen langen Rock und eine einfache Tuchmütze, aber mit steifem großem Deckel, die etwas Uniformmäßiges an sich hatte.
»Habe ich das Vergnügen mit dem Kapitän dieses Schiffes zu sprechen?«, fragte er artig, als er sich ihm näherte.
»Ich bin der Schiffer, ja«, sagte Siebelt, den Gruß sehr kurz erwidernd. »Sie bringen mir die bewussten Passagiere?«
»Jawohl, Herr Kapitän, hier ist meine Legitimation. Dürfte ich Sie bitten, mir die Quittung für richtige Ablieferung zu schreiben.«
»Auch noch«, brummte Siebelt mürrisch, »kommt einmal her, Ihr Burschen!«
»Ihr sollt vortreten; habt ihr es nicht gehört?«, sagte der andere, der bei den drei stehen geblieben war, barsch, und die Leute folgten rasch dem Befehl. Es waren drei kräftige untersetzte Gestalten, zwei von ihnen, von etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahren; der Dritte nur schien älter zu sein, doch ließ sich das in dem ungewissen Dämmerlicht kaum noch erkennen. Sie waren alle in graue kurze, neue Röcke von grobem Tuch und in ebensolche Hosen gekleidet und trugen Mützen von derselben Farbe in der Hand; ihre stark markierten und eben nicht einnehmenden Züge waren aber bleich, und die Augen, die scheu den Boden suchten oder unruhig über Deck umherschweiften, lagen ihnen tief in den Höhlen.
Der Kapitän sah sie, einen nach dem anderen, still und forschend an und sagte endlich: »Hört einmal, ich habe euch hier an Bord bekommen, um euch mit nach Amerika hinüberzunehmen. Ich hoffe, dass ihr Euch an Bord gut betragen werdet. Wenn ihr es nicht freiwillig tut, ist es euer eigener Schade, denn tun müsst ihr es. Übrigens werdet ihr wohl wissen, was euch selbst gut ist, und nun nehmt eure Sachen und macht, dass ihr damit unter Deck kommt; der Untersteuermann wird euch eure Koje anweisen. Dass ihr die Mäuler haltet, brauche ich euch wohl nicht erst zu sagen – schon gut, ich weiß schon, macht jetzt, dass ihr nach vorn kommt« Und dem Fremden den Zettel aus der Hand nehmend, ging er in die Kajüte hinunter.
»Können wir aufbrassen, Kapitän?«, rief der Lotse hinter ihm her, als er hinunterging. »Es wird zu spät, wenn wir noch länger hier Zeit vertrödeln.«
»Brasst nur auf, Lotse«, rief der Kapitän zurück, »ich bin gleich wieder oben.«
Die Rahen fuhren herum, die Vorsegel fassten den Wind wieder, und das Schiff bewegte sich rascher vorwärts auf seiner Bahn.
»Hallo«, sagte der eine Mann, der den Oberbefehl über das Boot zu führen schien, indem er über Bord sah, »nehmen Sie uns nicht etwa mit.«
»Habt keine Angst, Kamerad«, sagte der Untersteuermann, der eben an ihm vorüberging, den Neugekommenen ihre Plätze anzuweisen. »Da blieben wir eher hier die ganze Nacht liegen.«
»Danke«, sagte der Mann.
»Keine Ursache, ist gern geschehen«, erwiderte der Untersteuermann, als er seinen Tabaksaft – die Seeleute kauen größtenteils – über Bord spritzte und langsam die kleine Quarterdeckstreppe hinunterstieg.
Der Kapitän kam nach sehr kurzer Zeit schon wieder zurück und übergab dem Mann seinen Zettel – die Quittung für die ordnungsgemäße Ablieferung von drei Verbrechern, denen im Boot erst die Eisen abgenommen waren, und die sich in Amerika bessern oder doch jedenfalls allein versorgen sollten.
»Danke, Kapitän«, sagte der Mann, indem er das Papier zusammenfaltete und in die Tasche schob. »Nichts für ungut – Sie wissen wohl …«
»Schon gut«, entgegnete der Seemann mürrisch, »das ist das letzte Mal, dass ich derlei Geschichten besorge, und wenn ich mein Schiff verlieren sollte … Sie können das den Herren meinetwegen sagen.«
»Derlei Bestellungen bringen nichts ein«, meinte aber der Mann trocken, »so, gute Fahrt, Kapitän, wir sind wahrhaftig schon ein ganz Stück am Leuchtschiff vorbei und werden tüchtig gegen den Strom rudern müssen.«
Der Kapitän drehte sich ab und ging auf die andere Seite des Schiffs hinüber, während die Fremden rasch in ihr Boot hinunterkletterten.
Der Lotse zeigte aber nun, dass es ihm Ernst war, aus der Weser zu kommen; Segel auf Segel wurde gesetzt vor der immer frischer und kräftiger einsetzenden Brise, bis sich das Schiff unter der Last derselben bog und schäumend seine Bahn dahinschoss. Im Osten hob sich indessen der Mond und goss sein funkelndes Licht über den weiten Strom, bei dem sich eben noch die ausgelegten Tonnen erkennen ließen, das Fahrwasser zu halten. Das Wasser war ebenfalls noch vollkommen ruhig, aber der Strom doch hier schon so breit, dass die Brise ihren Einfluss darauf ausüben konnte. Das Schiff begann sich mit der schwellenden Dünung leicht zu heben.
Bei dem wundervollen Abend, der warm und licht auf dem Wasser lag, hatten sich indessen die meisten Passagiere wieder auf Deck gesammelt und in kleinen Gruppen erst eine lange Weile das Geheimnis des zweiten Bootes, aus dem sie nicht klug geworden waren, besprochen. Auch neue Passagiere, von deren Ankunft man schon in Brake gewusst und eine Koje für sie zurückgehalten hatte, waren damit gekommen. Niemand konnte sagen woher, noch sich, solange es dunkel blieb, über ihr Aussehen ins Klare stellen. Die Leute selbst aber standen niemandem Rede; Steinert hatte das schon lange versucht. Des glücklich durchgebrachten Deserteurs Erscheinen lenkte zuerst den Strom der Unterhaltung wieder in einen anderen Kanal. Der junge Bursche war aber noch scheu und schüchtern; er konnte es sich noch gar nicht denken, dass er der für ihn furchtbaren Gefahr so glücklich entgangen sei, und forschte durch die Dunkelheit nach allen Seiten hin, bei dem schwachen Licht des Mondes ein irgendwo nahendes Boot zu erkennen. Die in der Weser vor Anker liegenden Tonnen, die das Fahrwasser bezeichnen und zum Teil weiß angestrichen sind, hielten ihn dabei fortwährend in Alarm. Er fragte die Matrosen unzählige Male, ob er denn nun wirklich nicht mehr zu fürchten hätte, dass in der Nacht ein Boot mit Polizeibeamten an Bord kommen könne.
Steinert zeigte sich indessen unter den Lebhaften als den Lebhaftesten. Das Gespräch war durch das Polizeischiff auf ähnliche Fälle gekommen, wo diesem achtbaren Institut eine Nase gedreht worden war, und sprang dann, in einem natürlichen Ideenflug auch auf das Pasch- und Schmuggelwesen hinüber, in dem der Weinreisende, wenn sich alles so verhielt, wie er es erzählte, seiner Zeit Außerordentliches geleistet hatte. Er wurde nicht müde, davon zu erzählen. Mitten in einer prachtvollen Anekdote aber schwieg er plötzlich und sah sich nach allen Seiten um.
»Suchen Sie wen, Herr Steinert?«, fragte ihn der junge Literat, der ein eifriger Zuhörer der Geschichten gewesen war und sich immer dann und wann gegen den Mond drehte, auf ein kleines Zettelchen mit Bleistift einzelne Worte – wahrscheinlich die Pointen der Erzählungen – zu notieren.
»Ich? Nein … ich weiß nur nicht«, sagte Steinert, »das Schiff fängt an, sich so fatal zu bewegen – immer so auf und nieder; ich glaube … ich glaube, die Leute haben zu viele Segel aufgesetzt.«
»Ja, irgendwo ist es doch wohl nicht in Ordnung«, bemerkte auch nun Herr Mehlmeier mit seiner feinen Stimme, der schon seit einigen Minuten ganz still gesessen war, nicht mehr gelacht, oft die Augen geschlossen und dann auf einmal sehr tief Atem geholt hatte.
»Oh, es fängt ein wenig an zu schaukeln«, sagte Herr Theobald, der sich durch die Bewegung noch nicht inkommodiert fühlte, »bitte erzählen Sie nur weiter.«
»Ja, wo war ich doch gleich stehen geblieben?«
»Wie Sie mit dem Mautbeamten in der Schenke saßen und die Wette mit ihm machten«, unterstützte ihn der junge Literat.
»Ach ja so … ja da … das schaukelt wirklich unangenehm«, sagte aber Herr Steinert, der den Faden nicht wieder finden konnte. »Ich sitze auch hier auf einem höchst fatalen Fleck – viel zu hoch; das ist doch ein göttlicher Abend. Wir wollen ein wenig auf Deck spazieren gehen.«
Das Spazierengehen half aber auch nichts, die Bewegung des Schiffs wurde merklicher, je mehr sie sich der offenen See näherten und je weiter sie vom Land abkamen, wo der Wind mehr Gewalt auf das Wasser hat und die Wellen weiter rollen können und größer werden. Schon standen hie und da Einzelne über Bord gelehnt und taten, als ob sie hinaus aufs Wasser sähen, immer aber in einer sehr verdächtigen Stellung, dem belästigten Magen Luft zu machen, bis sich bei manchem das Faktum nicht mehr verheimlichen ließ und die ersten Seekranken durch einen Jubelruf der noch Gesunden proklamiert wurden.
Es ist dabei eine sonderbare Tatsache, dass sich die meisten Menschen schämen, seekrank zu werden, und es so lange verheimlichen, wie nur irgend möglich; wie denn auch niemand weniger an Bord eines Schiffes auf Mitleid zu rechnen hat, als eben ein von diesem Feind Befallener. Was auch sein Leiden sein mag, wie ihn die Krankheit mitnimmt und nach und nach entkräftet und herunterbringt, ja, während er daliegt und den Tod herbeiwünscht, um nur endlich von seinem entsetzlichen Jammer befreit zu werden, die Gesunden stehen dabei und lachen und spotten über den armen Teufel. Das einzig Gute nur dabei ist, dass er sie nicht hört, oder wenn er es hört, sich nichts daraus macht. Gegen alles abgestumpft auf der Welt, wo es ihm selbst gleichgültig wäre, wenn man ihn bei den Beinen fasste und über Bord zöge – was macht er sich da aus dem Hohn irgendeines anderen.
Seekrank, für den es betrifft, ein entsetzliches Wort, und doch eine Krankheit, an der noch kein hundertstel Prozent der Leidenden gestorben ist. Was für Mittel sind nicht schon dagegen empfohlen worden, wie viel tausend Ärzte haben nicht schon getan, als ob sie das Heilmittel dagegen gefunden und dies und das angeraten haben, den furchtbaren Gegner entfernt zu halten. Aber es gibt kein Mittel dagegen; wer etwas braucht und sie nicht bekommt, hat nicht nötig, das Heilmittel weiterzuempfehlen, denn er selbst hätte die Krankheit auch ohnedies nicht bekommen, und dessen Magen ihn in den Bereich derselben bringt, mag sich nur getrost in sein Schicksal ergeben. Er muss durchmachen, was über ihn verhängt ist, und hat nur die einzige Genugtuung später, wenn er dem tückischen Gott sein Opfer gebracht hat, ebenso über andere lachen zu dürfen, wie andere früher über ihn gelacht haben.
Das Schiff bewegte sich nun allerdings noch sehr wenig, doch aber genug, den meisten der daran gar nicht gewöhnten Passagiere, wenn sie auch nicht alle krank wurden, Unbehaglichkeit zu verursachen, und trotz des herrlichen Abends wurde das Deck bald von ihnen geräumt. So fatal ihnen die Luft unten im Zwischendeck war, fanden sie doch im Niederlegen einige Erleichterung und suchten früh das Lager auf. Was kümmerte sie nun der Lotse, den sie hatten von Bord gehen sahen, was der Mondschein auf dem zitternden wogenden Wasserspiegel. Es zitterte und wogte eben und das mochten sie nicht sehn, und schon der Gedanke daran war ihnen fatal.
Noch vor zehn Uhr erreichten sie indessen die letzte Wesertonne, die Grenze der Nordsee, auf ein Zeichen von Bord aus, durch aufgehängte Lichter gegeben, kam der dort kreuzende Lotsenkutter heran, seinen Lotsen an Bord zu nehmen. Als ob der Wind nur darauf gewartet hätte, sich nun einmal recht voll und ernstlich in die Segel legen zu können, nahm er beide Backen voll und kam so scharf und heulend von Nordost herunter, dass der Kapitän die Oberbramsegel nieder und die schon zu Steuerbord gesetzten Leesegel wieder einnehmen ließ. Die See wurde dabei nur immer unruhiger, und die kleinen kurzen Schlagwellen der Nordsee, die überhaupt die unangenehmste Bewegung machen, überstürzten sich schon mit ihren weiß schäumenden Kämmen und jagten wie im tollen Spiel hinter und neben dem durch sie hinbrausenden Schiffe her.
Arme Passagiere – und in der Kajüte sah es nicht besser aus als im Zwischendeck. Wenn Schiffe bei vollkommen ruhigem Wasser in See gehen und der Wind erst allmählich wächst, dass sie an die Bewegung so nach und nach gewohnt werden und die Körper es lernen, derselben nachzugeben, so bleiben oft viele Reisende von der Krankheit ganz verschont. Der Magen gewöhnt sich an das Schaukeln, und selbst ein kleiner Sturm bringt sie später nicht mehr aus dem Gleichgewicht; wo aber der Wind, so wie hier, gleich am ersten Tag, wenn auch gar nicht gerade scharf einsetzt, wenn nur die kleinen kurzen Wellen erst einmal einen Kamm bekommen, dann bleiben wenige verschont, und der Koch darf ein paar Tage lang die Schweine mit den Erbsen und Bohnen füttern, die er für die Passagiere in den Kessel getan hatte; die Leute denken gar nicht daran, sich ihr Essen zu holen, und schon das Wort Schaffen verursacht ihnen Ekel.
In der Kajüte war nur der junge Henkel, der schon mehre Seereisen gemacht hatte, verschont geblieben, jedenfalls der Einzige, der mit dem Kapitän und den Steuerleuten am Frühstückstisch erschien und tapfer zulangte. Die anderen ließen sich unwohl melden, und nur der Herr von Hopfgarten, ein kurzer, kleiner Mann, aber sonst voll Feuer und Leben, behauptete einzig und allein keinen Appetit zu haben, sonst aber sich vollkommen wohl zu befinden.
Einzelne Charaktere entwickelten sich auch in dieser Krankheit im Zwischendeck auf wunderbare Weise. Herr Mehlmeier zum Beispiel lag ausgestreckt auf dem Gepäck mit von sich geschobenen Armen und Beinen, als ob er so wenig wie möglich von seinem Körper um sich herum haben möchte. Er ließ sich dabei schütteln und stoßen und rufen und schimpfen, wenn er irgendjemandem im Wege lag, und verhielt sich so vollkommen regungslos, dass er einmal schon zu dem Gerücht Veranlagung gab, der Schlag hätte ihn gerührt. Aber auch das war wieder den anderen gleichgültig, und nur Herr Theobald, der bisher noch verschont geblieben war, notierte sich den Fall und ging dann hin, sich selbst zu überzeugen.
Steinert war nach ihm das beklagenswerteste Subjekt, die Familien Rochheimer und Löwenhaupt lagen in einem Zustand, der sich kaum denken, auf keinen Fall aber beschreiben lässt.
Theobald hielt sich, wie gesagt, noch ziemlich tapfer und lachte die Kranken aus nach Herzenslust; das viele Umhergehen im Zwischendeck aber vielleicht, mit der doch stärker werdenden Bewegung des Schiffes, übte auch auf ihn zuletzt seine Wirkung aus. Er steckte auf einmal sein Taschenbuch dahin, wohin es gehörte, schob die Hände nach und stellte sich ganz still an die Reling, bis auch diese ihm nicht mehr Stütze genug schien und er nun, in der Angst, dass seine Mitpassagiere merken könnten, wie ihm zumute würde, auf eine eigene Idee fiel, den traurigen und nicht mehr wegzuleugnenden Zustand zu verbergen. Er band sich sein Halstuch um die Ohren, hielt die Hände an den Backen und legte sich endlich, nicht mehr imstande, auf seinen Füßen zu bleiben, mit dem Kopf auf eine der Notspieren mitten in den Gang hin, wo die Matrosen fortwährend vorüber und nun über ihn wegsteigen mussten.
Der Erste, der über ihn wegfiel, war der kleine Löwenhaupt, dem er noch vor kaum einer halben Stunde einen Teller mit fettem Fleisch unter die Nase gehalten und dadurch den armen Teufel fast zur Verzweiflung, dessen Krankheit aber jedenfalls zu vollem Ausbruch gebracht hatte.
»O, sehen Sie mal an, bester Herr Theobald«, sagte dieser, als er sich wieder aufrappelte und mit totenbleichem Gesicht seinen Arm auf eines der Wasserfässer stützte, das Gleichgewicht zu halten, »sehen Sie mal an, jetzt werde ich Ihnen wohl können en Tellerche mit Fleisch unter die Nasen halten und fragen, ob Sie Appetit hätten, he? Das kommt davon, wenn man andere Leute kugginiert.«
»Ich habe furchtbare Zahnschmerzen«, sagte aber Theobald, die Nase fester an die Notspiere drückend. »Lassen Sie mich zufrieden.«
»Zahnschmerzen? So?«, sagte der kleine Mann mit einem verunglückenden Versuch, über ihn zu lachen, »vielleicht hilft Ihnen dagegen en Stückchen Speck.«
»Halten Sie’s Maul!«, rief aber Theobald, dem der Ekel über die angebotene Mahlzeit den Mund breit zog.
»Jawohl!«, sagte aber der unverwüstliche Löwenhaupt, der nach vollständiger Ausleerung einige Erleichterung verspürte, »der Zahn wird wohl gleich mit der Wurzel herauskommen, ganz von selbst, kann ich mir etwa denken – nur a kleines Stückle fettes Fleisch.«
Er konnte nicht weiterreden, denn Theobald sprang in die Höhe und war kaum imstande, den Schiffsrand zu erreichen und über Bord zu sehen. Bei dem Anblick wurde es aber Löwenhaupt auch wieder weh und weich ums Herz. Er leistete dem Dichter treue Gesellschaft.
Die Einzigen, die im Zwischendeck vollständig, wenigstens bisher von der Seekrankheit verschont blieben, waren Maulbeere, seines Gewerkes ein Scherenschleifer, wie es sich endlich herausgestellt, Georg Donner, des Pastors Sohn aus Waldenhayn, der mit einem der Oldenburger Bauern und einem langen Schneider eine Koje bekommen hatte, der Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren, und vier oder fünf von den Frauen, unter ihnen Hedwig. Die anderen mussten alle mehr oder weniger davon leiden, und selbst von den Gesunden bewahrte der Scherenschleifer fast allein seinen unverwüstlichen Appetit und saß entweder an Deck und rauchte seinen nichtswürdigen Tabak, dass es niemand unter dem Wind von ihm aushalten konnte, oder er hockte, zusammengedrückt wie ein großer ungeschlachter Affe, in seiner Koje und knapperte den halben Tag lang an dem trockenen Schiffszwieback. Dabei sprach er kein Wort und schnitt allen, die an ihm vorübergingen, solche Gesichter, dass sich die Frauen schon vor ihm fürchteten und ihm auch später immer scheu aus dem Wege gingen.
Dass unter solchen Umständen selbst Frau von Kaulitz nicht an ihre Partie dachte, versteht sich von selbst, und die nächsten Tage bekam sie nur der Kajütjunge, ein Mulatte von zwölf oder dreizehn Jahren, zu sehen, der immer kopfschüttelnd die verschiedenartigsten Waschbecken aus und ein schleppte, und jedes Mal, wenn er die Kajüte verließ, dem Steward mit den merkwürdigen Grimassen eine Menge Geschichten erzählte, über die sich dieser dann totlachen wollte. Der Steward hatte dabei eine so sonderbare Art zu lachen, dass er immer die Augen schloss und es einmal auch richtig möglich machte, mit einem ganzen Korb voll Teegeschirr die halbe Treppe in die Kajüte hinunterzufallen. Der Reeder musste das Geschirr später wieder ersetzen und der Mulatte bekam indessen dafür die Prügel.
Mit einem prachtvollen Nordoster brauste das wackere Schiff seine Bahn entlang, durchschnitt die grünen Fluten unseres vaterländischen Meeres, der Nordsee, und lief dann, mit Leesegeln an beiden Borden zwischen Dover und Calais hindurch in den Kanal ein. Wohl glühten an dem Abend die Leuchtfeuer der englischen und französischen Küste wie Meteore durch die Nacht herüber und der nordische Himmel funkelte seinen schönsten Glanz in Myriaden Sternen nieder, aber niemand achtete darauf. Die Seeleute hatten das alles schon oft gesehen, und die Passagiere lagen in ihren Kojen, viele ihren Blechtopf im Arm und stöhnten und ächzten, wie mancher mit bitterer Reue im Herzen, dass er je töricht genug gewesen war, das feste Land zu verlassen, selbst Amerikas wegen. Die wenigen Gesunden hatten mit ihren kranken Freunden zu tun und nur der junge Arzt, Georg Donner, lag vorn zwischen den Lauftauen des Bugspriets und schaute träumend hinaus in die Stille der Nacht, der Lieben daheim gedenkend.
Das Licht, was dort herüberblinkte vom fernen fremden Ufer, glich es nicht dem Schein der Abendlampe, die in des Vaters Zimmer brannte? O, wie oft hatte er, abends heimkehrend, den freundlichen Strahl sich entgegen leuchten sehen und dort, das Haupt in die Hand gestützt, saß der Vater und arbeitete an seiner Predigt, und die Mutter da drüben, auf dem Sofa dicht neben dem Ofen, mit der kleinen grünen Lampe dicht herangerückt, las in der Bibel und folgte den so wohl bekannten Zeilen mit dem Finger die ganze Seite nieder – Aber nein, sie las nicht. Die Brille legte sie ins Buch, wischte sich die Augen mit der Hand und schaute still und seufzend über das Buch hinaus. Ihre Gedanken waren nicht dabei – sie flogen weit, weit hinaus über das Meer dem fernen Schiff nach, das ihr den Sohn entführte, das Kind – das liebe, liebe Kind.
Matter und immer matter glühte das ferne Licht herüber. Georg sah es schon lange nicht mehr und die Augen mit der Hand bedeckt, im Dunkel der Nacht, nur mit den Sternen über sich, weinte er still. Ihm war, als ob er die Tränen niederfallen hörte auf das vergriffene Buch, in dem die Brille lag.