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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 1 – 7. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 1
Das Geheimnis der jungen Witwe
7. Kapitel

Der Leichenhändler von London

Barneby hielt Wort.

Der Gelehrte war kaum einige Minuten in der Straße auf und nieder gegangen, als er sich schon zu ihm fand.

Er hatte seine zerrissene Mütze auf das graue Stoppelhaar gedrückt und einen alten Schal um den Hals gebunden.

»Welchen Weg schlagen wir denn ein?«, fragte der Doktor.

»Fragt nicht, folgt mir nur. Ihr werdet eine Gegend sehen, in welche Ihr sicherlich noch niemals gekommen seid; aber habt nur keine Furcht, es geschieht Euch nichts.«

»Das glaube ich auch«, gab der Gelehrte zur Antwort, »wirklich, mein Freund, ich kenne keine Furcht!«

Gegen den Sturm ankämpfend, welcher nun mit noch größerer Heftigkeit die Straßen durchheulte, schritten sie die Savile Row entlang, dann ging es seitwärts durch den Bezirk Bromley. Sie kreuzten den Schienenstrang der London Tilbury Railway, dann ging es am Ufer des Limhouse Canal entlang.

»Wo sind wir denn setzt eigentlich?«, fragte der Gelehrte, nachdem er mit seinem Führer drei Viertelstunden lang durch die Nacht marschiert war.

»Wenn ich nicht irre, höre ich ein Rauschen, und ich vermute, dass wir uns in der Nähe der Themse befinden müssen.«

»Das ist in der Tat der Fall«, gab Barneby zur Antwort. »Seht Ihr dort die Brücke auftauchen?«

»Ganz recht, eine Brücke«, erwiderte der Gelehrte, »da müssen wir wohl über die Themse hinweg?«

»Nein!«

»So befindet sich die Wohnung Mr. Simon Rudges diesseits des Flusses?«

»Nein!«

»Ihr sprecht in Rätseln, mein Freund, nicht diesseits und nicht jenseits?

Wo wohnt denn also der Leichenhändler?«

»Das werdet Ihr sogleich sehen, gegenwärtig befinden wir uns auf der Hundeinsel. So wird nämlich dieser Teil Londons genannt, den die Themse in der Form einer Lyra umschließt. Und seht, hier geht die breite Greenwich Bright über den Fluss, und da – da sind wir an Ort und Stelle!«

Als Barneby diese Worte sprach, befanden sie sich in der Mitte der Brücke. Unter ihnen rauschte die Themse und trieb ihre dunklen Wogen dahin, die wie krächzende Ungeheuer sich um die Brückenpfeiler wanden und von Zeit zu Zeit eine Schaumwelle heulend emporsandten.

Barneby beugte sich über das Geländer, legte zwei Finger unter die Zunge und stieß einige gellende Pfiffe aus.

Wie erstaunte aber Dr. Guliver Perkins, als sich nun langsam aus der Tiefe eine Leiter aufrichtete, welche stehen blieb, nachdem sie die Höhe des Brückengeländers erreicht hatte.

»Ich sage Euch, Sir«, wandte sich Barneby an seinen gelehrten Begleiter, »Angst dürft Ihr nicht haben, denn jetzt handelt es sich darum, die Leiter hinunterzusteigen!«

»Wohin?«

»In die Wohnung des Leichenhändlers Simon Rudge.«

»Aber um Himmelswillen, der Mann kann doch nicht in der Themse hausen, wenn er kein geschwänzter Meeresbewohner ist!«

»Seht Ihr den breiten, riesigen, eisernen Brückenpfeiler gerade unter uns?«, fragte Barneby. »Der ist hohl, und in demselben hat sich Simon Rudge häuslich eingerichtet. Hier hält er sein wohlassortiertes Lager männlicher und weiblicher Leichen.«

»Ah, jetzt verstehe ich! Das ist höchst interessant, und ich danke Euch, Barneby, dass Ihr mir die Bekanntschaft mit dieser seltsamen Wohnung verschaffen wollt. Steigen wir also hinunter. Ihr zuerst, wenn es Euch gefällig ist, ich will Euch folgen!«

Barneby sprang, ohne ein Wort zu erwidern, über das Geländer.

Sogleich berührte er mit den Füßen die Sprossen der Leiter und begann langsam hinabzugleiten.

Auch der Gelehrte hatte sich mit großer Gewandtheit über die Brüstung geschwungen, betrat die Leiter und stieg nun hinunter, wobei er krampfhaft seinen Regenschirm unter dem linken Arm hielt.

»Zum Teufel, der Schirm behindert Euch«, rief Barneby Crane, »Ihr hättet das Ding oben lassen sollen!«

»Bedaure lebhaft«, antwortete Guliver Perkins, »ich trenne mich aber niemals von meinem Schirm, es könnte ja regnen!«

Barneby hatte nun den Fuß der Leiter erreicht. Er befand sich nur noch drei Zoll über dem Wasserspiegel. Da packte er eine der Sprossen mit der linken Hand, und die rechte ließ er gegen das Eisen des Brückenpfeilers dreimal niederfallen.

»Mach auf, Simon Rudge!«, rief er. »Ich bin es, Barneby Crane!«

»Allein?«, fragte eine näselnde Stimme aus dem Inneren des Brückenpfeilers.

»Nein, ich bringe Besuch, eine Kundschaft. Ich bürge, Simon Rudge!«

»So tretet ein«, antwortete die näselnde Stimme, und im selben Moment öffnete sich die Tür im Eisenpfeiler und Barneby schlüpfte durch dieselbe ins Innere der seltsamsten Behausung der Erde hinein.

Dr. Guliver Perkins ließ sich nicht lange bitten, auch er verschwand in der dunklen Öffnung, und hinter ihm krachte die Tür ins Schloss.

Vorläufig befand er sich nun in einem Raum, in welchem tiefe Finsternis herrschte.

Nur schattenhaft sah er die Gestalt eines kleinen gebückten, ein wenig verwachsenen Mannes, der einen rotblonden Kinnbart trug und in einen Mantel gehüllt war, wie ihn etwa die Ärzte beim Sezieren tragen.

»Macht Licht, Simon!«, rief Barneby, »ich will Euch meinen Freund vorstellen. Es ist ihm an frischer Ware gelegen, und er wird sie gut bezahlen.«

Im nächsten Moment drehte der Rotbärtige einen Hahn um, und zum größten Erstaunen Gulivers flammte ein Gaslicht auf.

»Außerordentlich praktisch eingerichtet«, sagte Dr. Perkins mit der ganzen einfältigen Bewunderung des Gelehrten, »sogar mit Gaslicht versehen ist diese unterirdische Wohnung.«

»Er zapft das Gas von dem großen Rohr ab, das sich unter der Brücke hinzieht und die Laternen speist«, gab Barneby lachend von sich, »mein Freund Simon ist ein praktischer Kopf.«

Freund Simon war von abschreckender Hässlichkeit. Der rote Ziegenbart, der völlig kahle Schädel, die scharf im spitzen Winkel hervorspringende Nase, die hohl liegenden, graugrünen Augen gaben dem Mann ein abscheuliches Aussehen.

»Herr Doktor, treten Sie gefälligst ein!«

Dr. Perkins reichte Simon die Hand und sagte: »Dr. Guliver Perkins ist mein Name, habe schon vieles von Ihnen gehört. Ich wünsche zum Zweck wissenschaftlicher Forschungen eine Leiche zu kaufen.«

»Und wer bürgt mir dafür, dass Sie mich nicht verraten?«

»Das Geheimnis müsste ich ebenso gut bewahren, wie Sie, mein Freund, denn auch ich darf nicht laut werden lassen, woher ich eine Leiche beziehe; ich wäre ebenso strafbar wie Sie.«

Die Antwort schien Simon Rudge zu gefallen und er ging nun, wie man zu sagen pflegt, in das Meritorische der Sache ein.

»Brauchen Sie einen Mann oder ein Frauenzimmer?«, fragte er. »Alter, Größe – soll sie an einer besonderen Krankheit gestorben sein oder …«

»Ich brauche einen Mann«, antwortete Dr. Perkins. »Vorläufig einen Mann, zu den Damen werden wir später übergehen. Am besten in dem Alter zwischen 25 und 36 Jahren, und wenn möglich, einen solchen, der überhaupt an keiner Krankheit gestorben ist.«

»Ah, Sie wollen einen Ertrunkenen? Schade!«

Als Simon Rudge dieses schade hervorstieß, blitzte es unter den Brillengläsern des Gelehrten eigentümlich auf.

»Das Gewünschte ist wohl gegenwärtig nicht zu haben«, fragte er dann. »Gewiss hatten Sie es noch vor Kurzem am Lager gehabt?«

»Allerdings«, antwortete Simon verdrießlich, »da hatte ich einen männlichen Leichnam, etwa dreißig Jahre alt, groß und schlank, und an einer Krankheit war er auch nicht zugrunde gegangen.«

»So, so, nicht an einer Krankheit zugrunde gegangen?«

»Er hat sich in die Themse gestürzt«, fuhr Simon fort.

»Der Arme«, sagte Guliver mit tief bedauerndem Ton, »was mag ihn wohl zu diesem schrecklichen Entschluss gebracht haben? Wahrscheinlich war er ein Mann der niederen Klasse, gewiss ein Arbeiter, den das Leben recht rau angefasst hat?«

»Wer der Mann gewesen ist, weiß ich nicht«, stieß Simon hervor, »aber das eine ist gewiss, er war einer von den Vornehmen.«

»Das haben Sie wohl an der Kleidung gesehen?«

»O nein, denn der Mann hatte sich, um die Identität zu verwischen, völlig entkleidet, bevor er sich in die Themse gestürzt hat. Aber das sieht man doch an den weißen Händen, denen man es sofort anmerkte, dass sie niemals schwer gearbeitet haben. Doch nun sagen Sie mir, was ich Ihnen im Augenblick bieten kann«, sprach Simon Rudge. »Vielleicht finden Sie etwas Passendes unter dem, was ich gegenwärtig auf Lager habe.«

Mit einer schnellen Bewegung riss der Leichenhändler einen Vorhang beiseite. Es gehörte die ganze Kaltblütigkeit Dr. Guliver Perkins dazu, bei dem Anblick, der sich ihm nun bot, nicht vor Entsetzen zusammenzuschrecken oder einen bangen Schrei auszustoßen.