Das Gespensterbuch – Vierte Geschichte Teil 2
Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913
4. Juli. Ich bin wirklich von neuem krank, das alte Alpdrücken kehrt wieder. Diese Nacht habe ich gefühlt, wie jemand auf mir saß, seinen Mund an den meinen gepresst hatte und mir zwischen den Lippen heraus das Leben sog. Ja, er sog es mir aus der Brust wie ein Blutegel. Dann stand er auf gesättigt. Ich bin aufgewacht, so kaputt, zerbrochen, zerschlagen, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Wenn es so noch ein paar Tage fortgeht, reise ich bestimmt wieder ab.
5. Juli. Habe ich denn den Verstand verloren? Was ist nur geschehen? Ich habe die letzte Nacht etwas so Seltsames entdeckt, dass mir ganz schwindlig wird, wenn ich nur daran denke.
Wie nun jeden Abend schloss ich die Tür zu, dann trank ich, da ich Durst hatte, ein halbes Glas Wasser und bemerkte dabei zufällig, dass meine Wasserflasche voll war bis oben zum Stöpsel hinauf.
Da legte ich mich zu Bett und fiel in meinen fürchterlichen Schlaf, aus dem ich nach etwa zwei Stunden durch einen noch furchtbareren Schreck in die Höhe gejagt wurde. Denkt euch, dass jemand im Schlaf überfallen wird, der dann aufwacht mit dem Messer in der Brust, der, Blut bedeckt, röchelt, nicht mehr atmen kann und stirbt, ohne zu wissen, was geschehen war – so habt ihr meinen Zustand.
Als ich endlich die Besinnung zurückgewonnen hatte, war ich wieder durstig. Ich steckte ein Licht an und ging zum Tisch, wo die Wasserflasche stand. Ich hob sie, neigte sie zum Glas, es floss kein Tropfen heraus, – sie war leer, sie war völlig leer. Zuerst verstand ich das nicht, dann plötzlich überfiel mich eine so wahnsinnige Angst, dass ich mich setzen musste oder vielmehr, ich fiel in einen Stuhl, dann sprang ich mit einem Satz wieder auf, um mich umzublicken und setzte mich wieder, ergriffen von Staunen und Angst, vor die leere Flasche. Mit starren Augen blickte ich sie an, um zu erraten, was da geschehen war. Meine Hände zitterten. Jemand hatte also das Wasser getrunken. Wer? Ich? Wahrscheinlich ich, es konnte niemand anders sein als ich.
Ich war also ein Nachtwandler? Ich lebte, ohne es zu wissen, dieses geheimnisvolle Doppelleben, das uns Zweifel erwecken muss, ob es nicht in uns zwei Wesen gibt oder ob nicht zeitweise ein anderes, fremdes unbekanntes und unsichtbares Wesen in uns lebt, in Augenblicken, wo unsere Seele schlummert, unser Leib in Banden liegt, der diesem anderen Wesen gehorcht wie uns selbst, ja mehr als uns selbst.
O, wer kann meine furchtbare Angst fassen, wer kann die Erregung eines Menschen fassen, der bei gesunden Sinnen, vollkommen wach und bei klarer Vernunft mit Entsetzen sieht, wie aus einer geschlossenen Flasche, zu der niemand kann, etwas Wasser verschwunden ist, während er geschlafen hat! Bis zu Tagesanbruch blieb ich so und wagte nicht wieder zu Bett zu gehen.
6. Juli. Ich werde verrückt. Diese Nacht hat wieder jemand meine ganze Wasserflasche ausgetrunken oder vielmehr ich habe sie ausgetrunken! Aber bin ich es? War ich es? Wer sonst? Wer? O mein Gott! Ich bin wahnsinnig! Wer wird mich retten!
7. Juli. Ich habe wundersame Entdeckungen gemacht.
Ja, ich muss verrückt sein! … Und dennoch …
Ich habe am 6. Juli, ehe ich zu Bett gegangen bin, auf meinen Tisch Wein, Milch, Wasser, Brot und Erdbeeren gestellt.
Jemand hat – ich habe – alles Wasser getrunken und ein bisschen Milch; der Wein war unberührt, ebenso das Brot und die Erdbeeren.
Am 7. Juli habe ich denselben Versuch wiederholt mit dem gleichen Ergebnis.
Am 8. Juli habe ich Wasser und Milch fortgelassen, es war nichts berührt.
Endlich habe ich am 9. Juli auf meinen Tisch wieder nur Wasser und Milch gestellt, habe sorgfältig die Flaschen in weißen Mousselin eingewickelt und die Stöpsel zugebunden. Dann habe ich mir Lippen, Bart, Hände mit Grafit vom Bleistift eingerieben und mich zu Bett gelegt.
Der bleierne Schlaf hat mich überfallen und bald kam das fürchterliche Erwachen. Ich hatte mich nicht bewegt, sogar meine Betttücher zeigten keine Spuren, dass der Grafit abgefärbt. Ich stürzte auf den Tisch zu, der Mousselin, in den ich die Flaschen gewickelt hatte, war unverletzt. Ich knüpfte den Bindfaden auf, zitternd vor Angst. Das ganze Wasser war ausgetrunken und die ganze Milch. O, mein Gott!
Ich werde sofort nach Paris reisen.
12. Juli. Paris. Ich hatte also diese letzten Tage völlig den Kopf verloren. Ich muss der Spielball meiner nervös überreizten Einbildungskraft gewesen sein, oder ich müsste wirklich Nachtwandler sein oder einer jener, übrigens wissenschaftlich durchaus festgestellten Einwirkungen unterlegen sein, die man bisher nicht hat erklären können und die man Suggestion nennt. Jedenfalls näherte sich meine verrückte Stimmung dem Wahnsinn und vierundzwanzig Stunden in Paris haben mich wieder zur Vernunft gebracht.
Gestern habe ich, nachdem ich nachmittags Besuche und Besorgungen gemacht hatte, die mir frische, belebende Luft in die Seele trugen, den Tag im Theater Français beschlossen. Man spielte ein Stück von Alexander Dumas dem Jüngeren, und der muntere, lebenskräftige Geist, der daraus wehte, hat mich vollkommen wieder geheilt. Die Einsamkeit ist eben gefährlich für einen Grübler! Wir brauchen Menschen um uns, die denken und sprechen. Wenn wir lange allein sind, bevölkern wir die Einsamkeit mit Spukgestalten.
Ich bin sehr fröhlicher Laune über die Boulevards ins Hotel zurückgekehrt. Im Menschengewühl dachte ich mit einiger Ironie an meine Schrecknisse zurück, an die Gedanken, denen ich vorige Woche nachgehangen habe. Denn ich dachte wirklich, jawohl, ich habe es gedacht, dass ein unsichtbarer Geist neben mir unter meinem Dach lebte. Wie schwach ist unser Verstand! Wie schnell verliert er sich, sobald uns irgendein kleines, nicht gleich fassbares Ereignis begegnet!
Statt den Schluss zu ziehen, ich verstehe nicht, weil ich die Ursache nicht kenne, denken wir sofort an grässliche Wunder und übernatürliche Mächte.
14. Juli. Fest der Republik. Ich bin auf den Straßen spazieren gegangen. Die Kanonenschläge und Fahnen machten mir Spaß, wie einem Kind. Es ist doch eigentlich zu töricht, zu einem bestimmten Termin auf Befehl der Regierung lustig zu sein. Das Volk ist eine Herde von Dummköpfen, manchmal unglaublich geduldig und manchmal empört wie wilde Tiere. Man spricht zu ihm: Lache! Und es lacht; man sagt zu ihm: Schlage dich mit deinem Nachbar – es zieht in den Kampf. Man sagt: Wähle den Kaiser – es wählt den Kaiser, und dann sagt man ihm wieder: Gib für die Republik deine Stimme ab, und es stimmt für die Republik.
Die Menschen, die das Volk leiten, sind ebenso dumm, nur dass sie, statt Menschen zu gehorchen, Grundsätzen folgen, die doch nicht anders als töricht und falsch sein können, gerade, weil sie eben Grundsätze sind, das heißt, versteinerte, feststehende Gedanken, die allgemein anerkannt sind in dieser Welt, wo man nichts sicher weiß, wie Licht und Schall nur Vorstellungen von uns sind.
16. Juli. Ich habe gestern Dinge erlebt, die mich tief ergriffen haben.
Ich aß bei meiner Cousine, Frau Sablé, deren Mann Kommandeur der sechsundsiebzigsten Jäger in Limoges ist. Ich traf bei ihr mit zwei jungen Frauen zusammen, deren eine einen Arzt geheiratet hat, Dr. Parent, der sich vielfach mit Störungen des Nervensystems und jenen außergewöhnlichen Manifestationen der Nerven beschäftigt, zu denen augenblicklich die Erfahrungen auf dem Gebiet des Hypnotismus und der Suggestion Veranlassung geben.
Er erzählte uns ausführlich wundersame Ergebnisse, die englische Gelehrte und Ärzte in Nancy erzielten.
Die Tatsachen, die er mitteilte, erschienen mir so seltsam, dass ich meiner Ungläubigkeit Ausdruck gab.
»Wir sind eben dabei«, sagte er, »eines der wichtigsten Geheimnisse der Natur zu ergründen, ich meine eins ihrer wichtigsten Geheimnisse auf unserer Erde, denn in der Sternenwelt da oben gibt es sicher noch viel wichtigere. Seitdem der Mensch denkt, seitdem er seine Gedanken ausdrücken und niederschreiben kann, fühlt er ein Geheimnis um sich, das er mit seinen unvollkommenen und viel zu grob empfindenden Sinnen nicht zu durchdringen vermag. Mit Anspannung aller Verstandeskräfte sucht er dem Unvermögen seiner Organe zu Hilfe zu kommen. Als dieser Verstand noch im rudimentären Zustand war, nahmen diese unsichtbaren Erscheinungen lächerliche schreckliche Formen an. Damals entstanden der Volksglaube an das Übernatürliche, Märchen von umherspukenden Geistern, von Feen, Gnomen Gespenstern, ich meine sogar das Märchen von Gott, denn unsere Vorstellung vom Schöpfer der Welt, sei es nun in dieser oder jener Religion, ist eigentlich nichts weiter als eine recht mittelmäßige Erfindung und der törichteste unannehmbarste Ausfluss des geängstigten Hirnes der Kreatur. Es gibt kein wahreres Wort, als was Voltaire einmal gesagt hat: Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, doch der Mensch hat es ihm wohl vergolten.
Aber seit länger als einem Jahrhundert meint man etwas ganz Neuem auf der Spur zu sein. Mesmer und einige andere haben uns einen ganz unerwarteten Weg gewiesen und wir sind wirklich, besonders seit vier oder fünf Jahren, zu ganz erstaunlichen Ergebnissen gelangt.«
Meine Cousine lächelte auch sehr ungläubig, Dr. Parent sprach zu ihr: »Gnädige Frau, soll ich einmal versuchen, Sie einzuschläfern?«
»Meinetwegen.«
Sie setzte sich in einen Lehnstuhl und er begann sie starr anzublicken. Ich fühlte mich plötzlich erregt, das Herz schlug mir, die Kehle war mir wie zugeschnürt, ich sah, wie Frau Sablés Augenlider schwer wurden, wie ihr Mund sich verzog, ihre Brust sich hob und senkte.
Nach zehn Minuten schlief sie.
»Stellen Sie sich hinter sie«, befahl der Arzt.
Und ich blieb hinter ihr. Nun gab er ihr eine Visitenkarte in die Hand und sagte: »Dies ist ein Spiegel. Was sehen Sie darin?«
Sie antwortete: »Ich sehe meinen Vetter.«
»Was tut er?«
»Er dreht sich den Schnurrbart.«
»Und jetzt?«
»Jetzt zieht er eine Fotografie aus der Tasche.«
»Was ist das für eine Fotografie?«
»Seine eigene!«
Es war in der Tat so und diese Fotografie war mir eben erst ins Hotel abgeliefert worden.
»Welche Stellung hat er auf dem Bild?«
»Er steht aufrecht und hat den Hut in der Hand.«
Sie sah also in dieser Visitenkarte, in diesem weißen Kartonblättchen wie in einem Spiegel.
Die jungen Frauen waren entsetzt und riefen: »Genug! Genug!«
Aber der Arzt befahl: »Sie werden morgen früh um acht Uhr aufstehen, dann werden Sie Ihren Vetter im Hotel aufsuchen und ihn anflehen, Ihnen fünftausend Franc zu borgen, um die Sie Ihr Mann bittet und die er von Ihnen zu seiner nächsten Reise verlangen wird.«
Dann weckte er sie auf.
Als ich ins Hotel zurückkehrte, dachte ich über diese wunderliche Sitzung nach und mich überkamen Zweifel, nicht an der absoluten, über allen Argwohn erhabenen Ehrlichkeit meiner Cousine, die ich wie eine Schwester von Kindheit an kannte, aber ich glaubte an einen möglichen Betrug des Arztes. Versteckte er nicht vielleicht in seiner Hand einen Spiegel, den er der eingeschläferten Frau gleichzeitig mit seiner Visitenkarte zeigte? Die Taschenspieler machen noch ganz andere Sachen.
Ich kehrte also heim und ging zu Bett. Da wurde ich am nächsten Morgen gegen ein halb neun Uhr von meinem Diener geweckt, der mir sagte: »Frau Sablé möchte den gnädigen Herrn sofort sprechen.«
Ich kleidete mich eilig an und empfing sie.
Sie setzte sich in großer Verlegenheit, mit niedergeschlagenen Augen und sagte, ohne ihren Schleier abzulegen:
»Lieber Vetter, du musst mir einen großen Dienst leisten.«
»O, bitte, was denn?«
»Es ist mir sehr unangenehm, dir das zu sagen, aber ich muss es dir sagen: Ich muss durchaus fünftausend Franc haben.«
»Was, du?«
»Jawohl, ich, oder vielmehr mein Mann, der mich beauftragt hat, sie aufzutreiben.«
Ich war so erstaunt, dass ich nur irgendetwas stammelte. Ich fragte mich, ob sie sich nicht mit Dr. Parent über mich lustig mache, ob das nicht ein Scherz sei, den sie zusammen vorbereitet und den sie nun gut spielte.
Aber wie ich sie aufmerksam anblickte, verschwanden alle meine Zweifel, sie zitterte vor Angst, so schmerzlich war ihr der Schritt und ich merkte, dass sie den Tränen nahe war.
Ich wusste, dass sie sehr reich war und sagte: »Was, dein Mann hat nicht einmal fünftausend Franc zur Verfügung? Denk doch einmal nach, weißt du denn ganz bestimmt, dass er dir das aufgetragen hat?«
Sie zögerte ein paar Sekunden, als koste es sie große Anstrengungen in ihrem Gedächtnis zu suchen und antwortete dann: »Ja, das weiß ich ganz bestimmt.«
»Hat er es dir geschrieben?«
Sie zögerte wieder und dachte nach. Ich merkte, welche Qual es ihrem Gehirn verursachte, sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie fünftausend Franc für ihren Mann von mir borgen sollte. Sie wagte es also, zu lügen.
»Ja, er hat es mir geschrieben.«
»Wann denn? Du hast mir doch gestern nichts davon gesagt.«
»Ich habe seinen Brief erst heute früh bekommen.«
»Kannst du ihn mir nicht zeigen?«
»Nein, nein, er enthielt intime Dinge, ganz persönliche Dinge, ich habe – ich habe ihn verbrannt.«
»Da macht Dein Mann also Schulden?«
Sie zögerte wieder und sagte darauf: »Ich weiß nicht.«
Ich erklärte energisch: »Es tut mir sehr leid, liebe Cousine, aber in diesem Augenblick stehen mir fünftausend Franc nicht zur Verfügung.«
Sie stieß einen schmerzlichen Schrei aus.
»Ach, ach ich bitte dich, ich bitte dich, treibe sie auf!«
Sie wurde ganz erregt, rang die Hände, als wollte sie mich bitten und ich hörte, wie ihre Stimme den Ton wechselte. Sie fing an zu weinen und stammelte, gequält und beherrscht von dem unerbittlichen Befehl, den sie bekommen hatte.
»Ach, ich bitte dich, ich bitte dich, wenn du wüsstest, wie schlimm das für mich ist! Ich muss sie heute haben.«
Ich hatte Mitleid mit ihr.
»Du wirst sie nachher bekommen, ich verspreche es dir.«
Sie rief: »O, ich danke dir, du bist gut!«
Ich begann wieder: »Weißt du noch, was gestern Abend bei dir geschehen ist?«
»Ja.«
»Weißt du noch, dass Dr. Parent Dich eingeschläfert hat?«
»Jawohl.«
»Nun, er hat dir befohlen, heute früh von mir fünftausend Franc zu borgen und in diesem Augenblick gehorchst du seiner Suggestion.«
Sie dachte ein paar Sekunden nach und sagte dann: »Aber mein Mann schickt mich doch.«
Eine Stunde lang versuchte ich sie zu überzeugen, aber es gelang mir nicht.
Als sie fort war, lief ich zum Doktor. Er wollte eben ausgehen. Er hörte mich lächelnd an und sagte: »Glauben Sie mir nun?«
»Ja, ich muss schon.«
»Kommen Sie, wir wollen zu Ihrer Cousine gehen.«
Sie ruhte auf einer Chaiselongue, ganz erschöpft und abgespannt. Der Arzt fühlte ihr den Puls, sah sie einige Zeit an, streckte eine Hand gegen ihre Augen aus, die sie allmählich unter dem zwingenden Einfluss seiner magnetischen Kraft schloss.
Als sie eingeschläfert war, sagte er: »Ihr Mann braucht die fünftausend Franc nicht mehr. Sie werden also vergessen, dass Sie Ihren Vetter gebeten haben, sie Ihnen zu borgen, und wenn er mit Ihnen darüber spricht, werden Sie ihn nicht verstehen.«
Dann weckte er sie auf. Ich zog meine Brieftasche hervor und sprach: »Hier, liebe Cousine, ist, um was du mich heute früh gebeten hast.«
Sie war so erstaunt, dass ich es nicht noch einmal zu sagen wagte. Da versuchte ich ihr Gedächtnis aufzufrischen, sie jedoch leugnete standhaft, meinte, ich wollte mich über sie lustig machen und war endlich nahe daran, böse zu werden.
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