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Der Wildschütz – Kapitel 19

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Neunzehntes Kapitel

Der Flüchtling – ein alter Bekannter

Wir verließen den fliehenden Curt, als er von den Gaunern und Entsetzen ergriffen aus seinem Versteck in der Bärenschänke fort­eilte, und zwar, nachdem die drei entsetzlichen Verbrecher den Leichnam des gemordeten Pächters Andreas fortgeschleppt hatten.

Aus Furcht vor den Nachforschungen des Grafen Praßlin wagte er es nicht, die verlassen stehende Wohnung seiner Pflegemutter noch­mals aufzusuchen. Er setzte daher seine Flucht zum Wald fort, um in irgendeiner schützenden Felsenschlucht einen sicheren Aufent­haltsort ausfindig zu machen.

Sein Wunsch wurde ihm bald erfüllt. Nach etwa einer Stunde erreichte er eine düstere Felsenschlucht, in deren Bereich er sich vollkommen sicher halten konnte.

Erst hier vergönnte sich der Flüchtling einigermaßen Ruhe. Er legte sich unter den schützenden Felsen und fiel infolge der großen Ermattung bald in einen tiefen Schlaf, aus welchem er erst am folgenden Morgen spät erwachte.

Seine gesunde und kräftige Natur fühlte sich durch den genosse­nen Schlaf von Neuem gekräftigt und gestärkt, in gleichem Maße begann ihn aber auch nun der Hunger mit wachsender Gewalt zu peinigen. Er beschloss daher sofort, seine Reise fortzusehen, um in dem nächsten Ort das Bedürfnis seines mahnenden Magens zu stillen.

Nach etwa zwei Stunden war der Wald durchschritten, das Ende desselben lag vor ihm und aus der Entfernung erblickte er den hohen Turm einer Dorfkirche – eine Entdeckung, die seinen Mut wieder erhöhte.

Curt wanderte nun schnell dem Dorf zu und nachdem er bei den ersten Wohnungen desselben angelangt war, näherte er sich einem ansehnlichen Haus, um sich in den Besitz von Lebensmitteln zu setzen.

Die Bewohner des Hauses bewiesen sich auf das Freundlichste gegen den jungen Pilger und versorgten ihn mit Speise und Trank, ohne dafür etwas anzunehmen; ja sie gaben ihm noch einen Zehrpfennig auf den Weg und entließen ihn mit dem Wunsch, seine Reise glücklich fortsetzen zu können.

Der Hausbesitzer, von Profession Hufschmied, war ein kleiner, verwachsener Knirps, schaute dem Scheidenden mit einer geheimnis­vollen Miene nach, dann winkte er mit der Hand und sagte, gegen seine Frau und seine Kinder gewendet: »Frau, kanntest du diesen Menschen?«

Die Gefragte schüttelte mit dem Kopf. »Nein, er war mir fremd«, sagte sie hierauf, »ich hatte den Burschen noch niemals ge­sehen, außer am heutigen Tag. Wer war er?«, fügte sie hinzu. »Ich hätte geglaubt, dir könnte er nicht so ganz unbekannt sein.«

»Das war mir der Bursche auch nicht. O, ich kenne ihn nur zu gut und mochte ihm deshalb nichts sagen, um ihm eine unnötige Verlegenheit zu ersparen. Doch ich will es dir sagen, wem wir heute bewirtet haben; es war der berüchtigte Raubschütz, den der alte Graf von Praßlin auffangen und einstecken ließ, weil er ihm oft genug einen Schabernack spielte. Ja, ja, es ist nicht zu leugnen, er hat manchen fetten Bissen auf die Tafel des Armen geliefert und war der uneigennützigste Kerl von der Welt. Ich habe ihn während seiner Gefangenschaft oft genug bedauert, und da er, was sein Äußeres bewies, aus der Haft entwischt sein mag, so wünsche ich ihm von Herzen glückliche Reise. Vor mir wäre er sicher gewesen und hätte der alte Menschenfeind dort oben in seinem Felsenhorst eine Belohnung von tausend Talern auf des Burschen Kopf gesetzt.«

Unterdessen setzte der Wildschütz seine Reise ohne Zwischenfall weiter fort, bis er gegen Abend in der Nähe der Residenz anlangte. Er beschloss für diese Nacht nicht in die Stadt hineinzugehen, sondern womöglich in der nächsten Umgebung den Morgen zu erwarten. Vielleicht hoffte er, ein Obdach ausfindig zu machen. Um jeder unangenehmen Begegnung zu entgehen, verließ der Jüngling die Hauptstraße, auf einem Seitenweg zu einem mit Busch bewachsenen Tal einbiegend, in dessen Mitte die Gebäude einer ansehnlichen Meierei sichtbar wurden. Die Lage derselben war höchst einsam und hier glaubte der Verfolgte für die einbrechende Nacht sich sicher geborgen.

Die Meierei bildete mit ihren Gebäuden einen geschlossenen Hof und an der nördlichen Seite derselben befand sich ein festes Tor, neben welchem zwei große Bullenbeißer an der Kette lagen. Curt begab sich an den Eingang und bei seinem Anblick erhoben die Hunde ein wütendes Gebell, das noch von drei oder vier kleineren Pinschern unterstützt wurde, die sich klaffend dem Fremden näherten.

Endlich verstummte der Lärm auf das Geheiß eines bärtigen Mannes, welcher sich nun dem Tor näherte, um nach der Ursache des Gebelles zu sehen. Er hatte bald den harrenden Curt erblickt und sich ihm nähernd, fragte er mit barscher Stimme und finsterer Miene nach der Ursache seines Erscheinens.

Die Gestalt des Jünglings sprach zu seinen Gunsten, und nachdem ihn der Bärtige einige Minuten betrachtet hatte, befahl er ihm einzutreten.

»Ich suche einen Ort, wo ich für diese Nacht bleiben könnte«, sagte Curt, »und ich würde Euch sehr dankbar sein, wenn Ihr mir meine Bitte erfüllen wolltet!«

In demselben Moment wurde die Gestalt eines anständig ge­kleideten Mannes sichtbar, welcher über den Hofraum schritt, im Be­griff, sich zu dem Hauptgebäude zu begeben. Die Anwesenheit des Fremden erregte seine Aufmerksamkeit und auch er kam nun heran, um sich nach dem Verlangen des Bittstellers zu erkundigen.

Curt betrachtete den Angekommenen mit dem Ausdruck des Staunens und der Überraschung. Dieses Gesicht hatte er irgendwo gesehen, es erinnerte ihn an das Abenteuer jener Nacht, in welcher er mit dem Fremden zusammengetroffen war, dessen Wagen er mit Geschicklichkeit neben dem drohenden Erdsturz vorübergeführt hatte, ja er durfte keine Minute länger zweifeln, dass er den Gefährten von damals wiedergefunden hatte.

Der Besitzer der Meierei schien von gleichen Gedanken und Empfindungen ergriffen zu sein. Nachdem er den Wildschützen längere Zeit genau betrachtet hatte, rief er voll Verwunderung: »Was sehe ich, da ist ja wohl mein ehemaliger Reisegefährte? Nun, bei Gott, Bursche, du bist mir willkommen! Zögere nicht, herein­zutreten, dein Anblick erinnert mich daran, dass ich dir zu Dank verpflichtet bin!«

Mit diesen Worten reichte er dem erstaunten Curt die Hand und dann führte er ihn zu seiner Wohnung über den geräumigen Hof, in welchem die größte Ordnung herrschte, ein Beweis, dass der Besitzer ein tüchtiger Mann in seiner Sache sein musste.

Curt folgte, von Erwartungen erfüllt, seinem geheimnisvollen Reisegefährten aus jener bekannten ereignisvollen Nacht und er wünschte sich Glück zu dem Zusammentreffen, welches der Zufall herbeigeführt hatte. Er fühlte nun keine Furcht vor seinem Wirt.

»Ich habe ihm damals treulich aus der Not geholfen und er ist zu edel und dankbar, als dass er mich verraten könnte!«

»Hoho, mein Bursche!«, begann indessen der Mann mit lächelnder Miene und in gutmütigem Ton. »Du wunderst dich vielleicht über mich und nicht minder über meine Umgebung und doch wollte ich darauf wetten, dass du in dem nächsten Augenblick davonlaufen würdest, wenn ich dir sage, wo du dich befindest.«

»Mein Herr!«, versetzte Curt, »ich war, was ich einen jeden versichern kann, niemals ein Feigling, obwohl mir oft genug hart zugesetzt wurde. Ich habe es nicht gelernt, mich zu fürchten und glaube an diesem Platz umso weniger Ursache zu haben, besorgt zu sein. Ich vertraue der Gastfreundschaft und bin unbesorgt, denn hier finde ich keine Ursache zur Furcht.«

»Wie man es nimmt,« sagte der Hausherr, »es gibt genug Leute, welche mir und meiner Umgebung um keinen Preis nahekommen würden; die mich meiden, weil meine Nähe den Schwäch­ling sowie den mit Vorurteilen Erfüllten Schrecken einflößt. Doch genug davon; nun folge mir in mein Zimmer, ich will dir einen Becher Wein und ein gutes Abendbrot reichen lassen; beides Sachen, die ein gesunder Mensch in deinen Jahren selten ausschlägt.«

Sie langten hierauf in einem Zimmer an, dessen Inneres einfach, aber geschmackvoll möbliert war. An einem von den beiden Fenstern war eine noch junge Frau mit einer Arbeit beschäftigt und in der Mitte des Gemaches saß ein hübsches, blondgelocktes Mädchen von etwa 8 bis 9 Jahren. Die Kleine eilte dem Vater freudig entgegen und begrüßte ihn mit den Zeichen und Benehmen kindlicher An­hänglichkeit, die jener auf das Herzlichste erwiderte.

»Liebe Frau«, sagte der Hausherr, »ich bringe dir für diese Nacht einen Gast, bewirte ihn gut, denn er hat mir einst, während ich in Noth geriet, einen großen Dienst erwiesen. Es ist meine und deine Schuldigkeit, ihm dafür dankbar zu sein.«

Die Frau erhob sich und begrüßte den Gast mit Höflichkeit; ihr Wesen zeigte dabei die ungezwungenste Freundlichkeit. Hierauf ent­fernte sie sich, um ihre Anstalten in Betreff des angekündigten Gastes zu machen.

Nach einiger Zeit wurde das Essen aufgetragen. Curt musste teil an der Mahlzeit nehmen und unterhielt dabei seinen Wirt mit verschiedenen Mitteilungen aus seinem eigenen Leben, welche merkwürdig genug waren, um die Unterhaltung lebhaft zu machen. Nach Tisch führte der Hausherr seinen Gast in ein kleines Zimmer des oberen Stockwerkes. Hier angelangt, wandte er sich gegen Curt.

»Ich mochte dich während der Anwesenheit meiner Frau nicht nach der Ursache fragen, die dich hierherführte. Die beste Frau kann den Mund nicht halten und es ist besser, man geht vorsichtig um. Sprich nun, wohin willst du und dann will ich dir sagen, wer ich bin und wo du dich befindest.«

Curt schwieg einige Minuten. »Mein Los ist jetzt ein sehr trübes geworden«, sagte er dann, »der Graf von Praßlin hielt mich in seinem Schloss gefangen; ich entkam glücklich und jetzt bin ich hier, ohne zu wissen, was ich eigentlich anfangen soll. Ich bin vogel­frei, und zwar deshalb, weil ich das verdammte Jagdhandwerk nicht lassen konnte.«

»Ha ha!«, fiel ihm jener ins Wort, »habe ich es dir nicht im Voraus gesagt, wie es einst kommen wird und kommen muss. Du bist ein guter Kerl und ich nehme Anteil an deinem Schicksal und will dir helfen, wenn es in meinen Kräften steht. Sei daher offen und ehrlich gegen mich, wie gegen deinen besten Freund!«

Mit diesen Worten fasste er die Hand des Wildschützen und be­trachtete ihn einige Minuten mit ernsten Blicken.

»Ich will mich Ihnen gänzlich anvertrauen!«, versetzte Curt, »doch zuvor sagen Sie mir, wer und was Sie sind und wie ich mir die von Ihnen vorhin ausgesprochene Bemerkung zu deuten habe. Ich sehe nichts um mich her, das mich mit Furcht oder Argwohn erfüllen könnte und ich bin fast überzeugt, dasjenige für einen Scherz zu halten, was Sie mir in geheimnisvoller Weise andeuteten.«

»Nein, das sollst du nicht«, versetzte der Hausherr, während sich seine Miene schnell verdüsterte. »Ich bin weit davon entfernt, mit dir einen leichtsinnigen Scherz zu treiben und ich will es dir nicht länger verschweigen, wo du dich befindest. Ich bin ein Diener des Gesetzes und habe die härtesten Strafen desselben zu vollziehen. Vor mir zittert der gefühlloseste Verbrecher in seinen letzten Stunden und sein Gesicht erbleicht bei dem Anblick des Henkers.«

Curt stand wie am Boden gewurzelt bei diesen Worten, seine Augen hefteten sich mit dem Ausdruck des Entsetzens auf das blasse Gesicht des unheimlichen Mannes, der ihn mit seinem festen Blick ruhig betrachtete.

»Erschrecke nicht deshalb, mein Freund«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »vor mir darf der Rechtschaffene nicht beben und in meiner Brust schlägt ein Herz, das selbst mit denjenigen tiefes Mitgefühl empfindet, die mir anheimfallen – und was dich betrifft, so kann ich kaum glauben, dass dich irgendein Vorurteil bewegen wird, meine Hilfe zurückzuweisen, die du nach meinem Erachten nötig hast. Die Häscher des Grafen sind hinter dir und wie leicht geschieht es, dass sie dich morgen schon erwischen.«

»Es kann sein«, entgegnete Curt, »und ich nehme Ihren Rat, Ihre Hilfe mit dem innigsten Dank an. Ihre Stellung mag für andere eine grässliche sein, mich macht sie nicht befangen. Ich be­sitze Mut und zittere nicht vor Ihrem blutigen Handwerk.« »Bursche, das war gut gesprochen!«, sagte der Scharfrichter. »Deine Manieren gefallen mir immer mehr, und wenn du dich entschließen könntest, mein Diener zu werden, so sollte dir kein Teufel etwas anhaben. Wir besitzen noch eine alte Gerechtsamkeit, nach welcher derjenige unantastbar geworden ist, der in den Dienst des Henkers tritt, es sei denn, dass auf seinem Gewissen ein Mord oder irgendein anderes schweres Verbrechen lastet. Dein Vergehen ist minder schwer und niemand soll es wagen, auch nur einen Finger gegen dich zu erheben. Wenn es dein Wille ist, dich meiner Leitung zu überlassen. Dir bleibt jetzt die Wahl, entweder zu fliehen oder zu bleiben; tue, was dir als das Beste erscheinen mag.«

Curt befand sich in einer höchst bedenklichen Lage. Was sollte er tun? Schmachvoll erschien sein Los, mochte er auch von beiden Übeln das Leichteste erwählen, doch die Umstände drängten zu einem schnellen Entschluss.

»Ich will mich nicht länger besinnen, Ihrem Rat zu folgen«, rief er, »ich will von nun an Ihren Befehlen gehorchen unter der Bedingung, dass der alte Waldgraf auch das geringste Recht auf seine Beute verloren hat.«

»Ich gebe dir darauf mein Wort«, versetzte der Scharfrichter, ihm die Hand reichend. »Du bist jetzt als ein erklärter Jünger meiner Zunft zu betrachten, und das Gesetz hat seine Kraft gegen dich verloren.«

Bald darauf verließ der Hausherr den angeworbenen Gehilfen, und als er hinaus war, sank Curt, von einem unbeschreiblichen Ge­fühl hingerissen, auf einen Stuhl, sich das Gesicht mit den Händen bedeckend.

»Großer Gott, was bin ich, was ist aus mir geworden? Ach, du meine arme, alte Mutter, wird dein Herz nicht brechen bei der Nachricht, dass dein Pflegling Henker würde, und Käthchen, du mein einziger Schatz auf Erden, ach, du wirst, du musst für mich auf immer verloren sein!«