Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 1 – 4. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 1
Das Geheimnis der jungen Witwe
4. Kapitel
Ein Dieb, der die Polizei alarmiert

Die Situation war für Sherlock Holmes ziemlich unangenehm, denn wenn er nun als Einbrecher entdeckt und abgefasst wurde, so konnte das für ihn zwar keine schweren Folgen haben, immerhin aber doch einige unangenehme Erörterungen im Polizeihauptquartier, denn sein Beginnen war doch zweifellos eine ziemlich gewaltsame Art, sich über gewisse Dinge Gewissheit zu verschaffen.

Wenn Sherlock Holmes trotzdem nicht den Versuch machte, demjenigen, der nun so geheimnisvoll das Kontor der Firma Paul Estrade betrat, auszuweichen, und sich, anstatt in ein besseres Versteck zu flüchten, damit begnügte, hinter dem grünen Vorhang Aufstellung zu nehmen, so geschah dies, weil Sherlock Holmes unbedingt wissen wollte, wer zu dieser ungewöhnlichen Zeit in den Geschäftsräumen noch etwas zu tun hatte.

War es vielleicht der Prokurist Benson, der aus irgendeinem Grund zur Nachtzeit ins Kontor zurückkehrte, oder war es gar ein wirklicher Einbrecher?

Da Sherlock Holmes in demselben Augenblick, in welchem ihm Harry das Warnsignal gegeben hatte, die Blendlaterne auf dem Tisch gelöscht und in die Tasche gesteckt hatte, so herrschte nun sowohl im Privatkontor wie im großen Kontor Dunkelheit, die nur durch einen ganz schwachen Lichtschimmer, den der Mond hineinsandte, gemildert wurde.

In dieser unbestimmten Beleuchtung sah Sherlock Holmes, wie die große Tür, die vom Hausflur ins Büro führte, leise geöffnet wurde. Dann fiel der Schatten einer dunklen Gestalt über die Schwelle, darauf trat die Gestalt ein und schloss hinter sich die Tür.

Sie blieb wie beobachtend eine halbe Minute lang auf der Schwelle stehen.

Sherlock Holmes musste die Lippen fest zusammenpressen, um nicht einen Schrei des Erstaunens auszustoßen. Denn er sah einen alten, graubärtigen Matrosen vor sich; eine echte Teerjacke schien es zu sein, ein Mann, der sich lange Zeit hindurch auf allen möglichen Meeren herumgetrieben haben mochte, wenn seine Kleidung und sein Aussehen nicht trogen.

Er war hoch gewachsen und hätte sogar, in gute Kleider gesteckt, eine recht elegante Figur gemacht.

Aber die blaue Jucke, die er trug, und die von Teer und Fettflecken starrte, die breiten, dunkelblauen Hosen, die in plumpen Stiefeln steckten, der breite Schifferhut auf dem Kopf, der zweifelhafte Hemdkragen, unter dem ein Halstuch nachlässig geknotet war, das alles trug nicht dazu bei, seine Gestalt hervorzuheben, sondern eher, dieselbe zu verbergen.

Das Gesicht des Mannes war kaum zu erkennen. Die Krempe des breiten Hutes beschattete die Stirn und einen Teil des Gesichtes. Der untere Teil desselben wurde von einem grauen Bart eingerahmt, der nach Matrosenart kurzgehalten war.

Der Matrose schritt nun langsam ins Gemach hinein. Seine Blicke streiften lauernd durch den ganzen Raum. Er blieb stehen und lauschte. Als er aber kein Geräusch hörte, setzte er seinen Weg fort.

Nun streckte er die Hand aus.

Sherlock Holmes zuckte leicht zusammen, denn er bemerkte die Absicht des Matrosen, das Privatkontor zu betreten und zu diesem Zweck den grünen Vorhang zurückzuschlagen.

Erfasste der Matrose jenen Flügel des Vorhanges, hinter welchem Sherlock Holmes stand, dann blieb dem Detektiv nichts anderes übrig, als dem Versteckspiel ein Ende zu machen und sich zu stellen.

Glücklicherweise aber schob der Matrose den anderen Flügel des grünen Vorhanges zurück, schritt dicht an Sherlock Holmes, der sich fest an den Türstock presste, vorüber und eilte dann, ohne auch nur einen Moment zu überlegen oder auch nur zu suchen, auf den Schreibtisch zu.

Sherlock Holmes hätte den Mann in dem Augenblick, in dem dieser an ihm vorübergeglitten war, leicht fassen können. Aber dem Detektiv war es wichtiger, zu sehen, was der Mensch hier zu so ungewöhnlicher Zeit wollte.

Er beobachtete ihn daher weiter und sah, wie der Matrose auf dem Schreibtisch mit beiden Händen herumtastete und offenbar irgendetwas suchte.

Dann flammte ein Streichholz auf – der Matrose hatte es angezündet. Doch nur etwa zwanzig Sekunden brannte dasselbe, dann erlosch es wieder. Der Matrose hatte gefunden, was er suchte. Und Sherlock Holmes hatte deutlich gesehen, dass er nichts anderes aus dem Schreibtisch genommen hatte als das Geheimbuch.

»Das ist kein wirklicher Matrose«, sagte sich der Detektiv in diesem Augenblick, »denn er würde sich den Teufel um das Geheimbuch der Firma Estrade scheren! Oder aber, der Mann ist von einem anderen geschickt worden, das Buch hier zu stehlen. Im Übrigen werden wir es sogleich erfahren, denn der Matrose wird das Zimmer nicht mehr verlassen.«

Sherlock Holmes hob seinen Revolver mit der rechten Hand ein wenig empor und hielt ihn schussbereit. Die Linke führte der Detektiv bis zur Höhe seines Kopfes, damit sie blitzschnell in demselben Augenblick, in dem der Matrose die Tür passieren würde, auf ihn niederfahren könnte.

Der Matrose schritt langsam auf Sherlock Holmes zu. Nun war er nur noch drei Schritte von ihm entfernt.

Der Detektiv duckte sich zu einem Tigersprung. Seine Blicke hefteten sich nun an die Gestalt des graubärtigen Seemannes.

Da blieb der Matrose plötzlich stehen.

Er schnippte mit den Fingern, als hätte er etwas vergessen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und schritt zum Schreibtisch zurück.

Sherlock Holmes warf seinen Körper zurück. Er bezwang sich.

Noch musste er warten. Denn offenbar hatte der geheimnisvolle Matrose noch einen zweiten Gegenstand auf dem Schreibtisch oder in dessen Fächern zu suchen, und es lag dem Detektiv alles daran, zu sehen, wofür dieser seltsame Mensch sich im Privatkontor des ermordeten Estrade interessierte.

Da sah er, wie der Matrose sich über den Schreibtisch beugte, wie er auf demselben mit den Händen umhertastete und dann ruhig auf demselben Sessel Platz nahm, auf welchem Sherlock Holmes vorher selbst gesessen hatte.

Was machte er nun? Sherlock Holmes konnte es nicht deutlich erkennen. Denn die schwache Beleuchtung des Raumes durch den Mond genügte nicht, jede Bewegung sogleich scharf zu kontrollieren.

Aber offenbar tat der Matrose gar nichts. Er saß da wie ein Wartender.

Fünf Minuten vergingen. Sherlock Holmes kämpfte mit sich.

Sollte er nun schon hervorbrechen, sollte er nun schon auf den Matrosen zuspringen, den Revolver gegen ihn anschlagen und ihm zurufen: »Rührt Euch nicht! Ihr seid mein Gefangener! Oder …«

Da krachte plötzlich die Tür im großen Kontor – ein Lichtschein fiel in dasselbe hinein – Tritte erschallten, und im nächsten Moment packten zwei kräftige Arme Sherlock Holmes, und eine Stimme rief ihm zu: »Rührt Euch nicht, Sir, oder ich jage Euch eine Kugel durch den Kopf! Ihr seid mein Gefangener! Ich bin Captain Morris von der Ludgate Station. Hierher, Leute, einen habe ich schon!«

»Seid Ihr wahnsinnig geworden, Captain!,« brüllte Sherlock Holmes, »erkennt Ihr denn Euren besten Freund nicht? Lasst mich los, sage ich.«

»Teufel, welch eine Stimme!«, rief Captain Morris, ohne jedoch Sherlock Holmes sogleich freizugeben, »ich glaube beinahe, ich kenne diese Stimme!«

Da hörte Sherlock Holmes, wie hinter ihm ein Fenster geöffnet wurde. Er wandte das Haupt um und sah, wie der Matrose vom Sessel des Schreibtisches aus sich durch das Fenster des Privatkontors ins Freie hinaus schwang.

In demselben Moment wurde Sherlock Holmes alles klar. Er hatte sich überlisten, zum ersten Mal in seinem Leben gröblich düpieren lassen!

Dieser Schurke von einem Matrosen hatte gemerkt, dass hinter dem grünen Vorhang eine Gestalt stehe und dass ihn jemand belauere. Er hatte es gemerkt in demselben Augenblick, in welchem er das Privatkontor hatte verlassen wollen, nachdem er das Geheimbuch an sich genommen hatte.

Da war er ruhig an den Schreibtisch zurückgekehrt und hatte den telegrafischen Alarmapparat, welcher das Büro Estrade mit der Polizeistation verband, in Bewegung gesetzt.

Dabei hatte er darauf gerechnet, dass durch das Eindringen der Polizei, wenn auch nur für eine einzige Minute, ein Wirrwarr entstehen würde, in dem es ihm gelingen müsste, sich aus dem Fenster hinaus zu schwingen und zu entfliehen.

Und das war ihm geglückt. Denn als Sherlock Holmes nun den amtsbeflissenen Captain von sich abschüttelte und sich ihm, die fuchsige, braune Perücke vom Kopf reißend, zu erkennen gab, da war es schon viel zu spät, den Matrosen einzuholen.

Er hatte einen gewaltigen Vorsprung erlangt und hatte sich längst im Gewirr der City-Gassen und -Gässchen verloren.

»Ja, ist es denn möglich, Sherlock Holmes?«, rief Captain Morris, indem er dem Detektiv ins Gesicht leuchtete. »Ihr seid es? Ihr seid es wirklich?«

»In Lebensgröße!«, schnaubte Sherlock Holmes wütend, »wahrhaftig, Ihr hättet besser daran getan, zu Hause zu bleiben, Captain, als mich hier in einem sehr wichtigen Geschäft zu stören.«

»So habt Ihr Euch als Einbrecher hier eingeschlichen?«

»Das habe ich getan, denn ich arbeite einen sehr wichtigen Fall auf!«, gab Sherlock Holmes zur Antwort. »Sagt Euren Leuten, dass sie meinen Jungen loslassen, den sie unter dem Sofa hervorgezogen haben; es ist Harry Tacon, mein Gehilfe.«

»Einen Dritten haben wir auch!«, rief der Captain, »aber diesen Mann werden wir nicht so ohne Weiteres freilassen können, denn er hat einem meiner Leute beinahe ein Auge ausgeschlagen. Wahrhaftig, er hat sich gewehrt wie ein Bär, und nur, indem wir ihm die Kehle zudrückten, haben wir ihn am Schreien gehindert.«

»Das ist Jonny, der Fährmann«, erwiderte Sherlock Holmes lachend.

»Seid zufrieden, dass er Euch nicht den Schädel eingeschlagen hat. Ihr müsst Euch herangeschlichen haben wie Indianer, denn hätte er oder David es gemerkt, so hätte es Blut gegeben.«

»Und wer war der Mann, der zum Fenster hinaussprang?«

»Der eigentliche Einbrecher«, antwortete Sherlock Holmes, »der auf diese Weise sich einen guten Abgang gesichert hat. Aber da ist nichts mehr zu tun, Captain, wir müssen beide zufrieden sein: Ihr mit den Triumphen, die Ihr heute Nacht gefeiert habt, indem Ihr drei unschuldige Menschen gepackt habt, und ich mit der Erkenntnis, dass irgendein geheimnisvoller Mensch ein Interesse daran hatte, das Geheimbuch der Firma Estrade zu besitzen. Der Mann, der sich hier als Matrose eingeschlichen hat, ist meiner Ansicht wahrscheinlich noch niemals weitergefahren als über die Themse.«

»Sollte es so schwer sein, zu ermitteln, wer dieser Matrose war?«, meinte Captain Morris, »es käme doch nur darauf an, festzustellen, wer ein Interesse daran hatte, sich des Geheimbuches des ermordeten Estrade zu bemächtigen. Und wer das getan hat, der dürfte wohl dem Mord selbst auch nicht fernstehen.«

»Das ist so ziemlich auch mein Gedanke, Captain Morris«, gab Sherlock Holmes lächelnd zur Antwort, »doch wir werden sehen. Gute Nacht, Captain, ich gehe nach Hause. Harry, komm, mein Junge, wir haben hier nichts mehr zu schaffen!«

»Ein Tölpel, dieser Policecaptain!«, murmelte Sherlock Holmes vor sich hin, als er sich mit Harry und Jonny auf der Straße befand, denn es war seinem Einfluss gelungen, den gewalttätigen Fährmann ebenfalls aus den Händen der Polizei zu befreien. »Wenn dieser Morris mir nicht dazwischenkam, gehörte der Matrose mir, und wir befänden uns bereits am Ziel. Nun, wir werden morgen von Neuem anfangen!«