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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 1 – 2. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 1
Das Geheimnis der jungen Witwe
2. Kapitel
Sohlenlänge 37

Das Haus Paul Estrades, welches der Detektiv nun an der Seite der schönen jungen Witwe betrat, war mit solidem Komfort eingerichtet.

Der Verstorbene schien ein großer Freund guter Gemälde gewesen zu sein, denn Sherlock Holmes bemerkte, dass schon das Vestibül mit einigen hervorragenden Originalen geschmückt war.

Über eine teppichbelegte, hell erleuchtete Treppe führte ihn Ellen Estrade hinauf in das erste Stockwerk.

Dann öffnete sie eine Tür, und auf einen Diwan deutend, rief sie schluchzend: »Dort … dort liegt er! Ach, … ich kann seinen Tod nicht überleben, denn mit ihm habe ich alles verloren, was auf Erden Reiz für mich hatte!«

Sherlock Holmes war in das Zimmer getreten, in dem die Leiche des Ermordeten lag.

In dem Gemach herrschte ein gedämpftes Licht, welches von einer Ampel herkam, die von der Decke herabhing.

Über die Leiche selbst war eine seidene Bettdecke gebreitet.

Sherlock Holmes schlug sie leise zurück.

Paul Estrade musste bei Lebzeiten das gewesen sein, was die Frauen einen wunderschönen Mann nennen.

Er war von stattlicher Größe, sein nun schon wachsgelbes Gesicht zeigte feine Züge und über die Lippen wölbte sich ein seidenweiches Schnurrbärtchen.

Dunkle, lockige Haare fielen in seine bleiche Stirn. Eine gütige Hand hatte dem Unglücklichen die Augen geschlossen, sodass das Antlitz nun den Ausdruck friedlicher Ruhe zeigte.

»Ihr Gatte war wohl für den Ball angekleidet?«, fragte Sherlock Holmes, auf den Frackanzug, in welchem sich die Leiche befand, deutend.

»Sie sagten mir jedoch, Madam, Ihr Gatte hätte erst vom Büro aus zu Ihnen kommen wollen?«

»In solchen Fällen pflegte Paul sich in seinem Kontor zum Ball fertig zu machen, damit keine Zeit verloren gehe«, antwortete Mrs. Ellen Estrade, »das hat er auch heute getan. Wie er zum Hydepark gekommen ist, das weiß ich nicht.«

Sherlock Holmes beugte sich nun tief auf die Leiche hinab und betrachtete die Todeswunde.

»Darf ich um eine Kerze bitten, Madam? Ach, hier steht eine solche auf dem Kamin; ich danke, ich habe schon Licht.«

Dann eilte der Detektiv wieder zum Diwan zurück, zog sein Vergrößerungsglas hervor und unterzog die Wunde durch dasselbe einer genauen Untersuchung.

»Ihr Gatte ist mittels eines italienischen Stiletts getötet worden«, sagte er. »Es war eine außerordentlich dünne, schlanke Waffe, die ihm in die Brust gestoßen wurde. Der Tod ist augenblicklich eingetreten, denn ohne Zweifel, wie auch wohl später die Obduktion ergeben wird, ist das Herz durchbohrt worden. Ich habe in meiner ganzen Praxis niemals einen solchen Dolchstoß gesehen, der mit so großer Sicherheit geführt worden ist. Die Klinge ist weder nach rechts noch nach links abgewichen, sondern ist gerade in die Mitte des Herzens eingedrungen.

Es sieht gar nicht so aus, als ob der Stoß von vorn nach hinten in waagerechter Linie, sondern als ob er senkrecht von oben herabgeführt worden wäre.«

»Ich verstehe von all diesen Dingen nichts«, erwiderte Ellen mit leiser, weinender Stimme, »ich weiß nur, dass mir das Teuerste geraubt worden ist.«

»Die Leiche liegt in demselben Zustand vor mir, wie sie gebracht wurde?«, fragte Sherlock Holmes.

»Genau so, wie sie gebracht wurde. Als ich fortging, habe ich die Tür abgeschlossen, und ich bin sicher, dass niemand das Gemach betreten hat.«

»Ihr Gatte war Freimaurer?«

»Woher wissen Sie das?«, stieß Ellen Estrade betroffen hervor.

»Nun, das ist nicht schwer zu entdecken«, versetzte der Detektiv mit einem kurzen lautlosen Lachen. »An seiner Uhrkette ist ja noch das Freimaurerzeichen befestigt. War er in dieser Beziehung enragiert? Ich meine, interessierte er sich für die Freimaurerlogen?«

»Außerordentlich, er versäumte keine Sitzung, und wenn ich nicht irre, bekleidete er sogar unter den Freimaurern ein hervorragendes Amt!«

»Er war vielleicht Meister vom Stuhl?«

»Wohl möglich. Aber mein Gatte hat mir nie Mitteilungen hierüber gemacht, obwohl ich ihn oft bat, mir die Geheimnisse der Freimaurer zu enthüllen. Dann wurde er immer sehr ernst und konnte sogar ungemütlich werden, wenn ich allzu viel in ihn drang.«

»Uhr und Kette sind bei der Leiche vorhanden. Hier eine Brieftasche, welche den Betrag von – lassen Sie sehen, Madam – einen Betrag von 67 Pfund Sterling enthält. Das ist ein Beweis, dass es nicht auf einen Raubmord abgesehen war. Und nun, Madam, eine Frage: »Wer war der Erste Gehilfe Ihres Gatten in seinem Geschäft?«

»Mr. Charley Benlon, ein Herr von etwa sechzig Jahren, der, seitdem mein Gatte das Geschäft eröffnet hat, seine rechte Hand war.«

»Können Sie mir diesen Mr. Benson herbeischaffen?«

»Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt!«

»Ist es Ihnen möglich, sich nach seiner Wohnung zu erkundigen? Ich lege Wert darauf, ihn sofort zu sprechen. Vielleicht weiß es der Hausmeister, der ja im Auftrag Ihres Gatten mitunter zu Benson gegangen sein dürfte.«

»Ich werde fragen«, antwortete die schöne Witwe und verließ das Zimmer.

»So, das wollte ich nur vor allen Dingen haben«, murmelte Sherlock Holmes vor sich hin und überzeugte sich durch einen schnellen Blick, dass Mrs. Ellen Estrade die Tür hinter sich verschlossen hatte.

Dann trat er nochmals an die Leiche heran und unterzog sie einer neuen, gründlichen Untersuchung.

Zuerst hob er die Hand empor und betrachtete sie genau.

Es waren zwei feine, gepflegte aristokratische Hände, denen man es sofort ansah, dass sie niemals grobe Arbeit verrichtet hatten.

»Kurz gefeilte Nägel«, murmelte Sherlock Holmes zwischen den Zähnen. Dann zog er ein Zentimetermaß hervor und legte es um den Hals des Ermordeten.

»Halsweite 41. Gehen wir jetzt zu den Stiefeln über: Sohlenlänge 37. Auffallend groß – alles Übrige werde ich bei der Obduktion sehen, der ich beiwohnen werde. Und nun die Taschen!«

Sherlock Holmes ließ seine Hände schnell in den Taschen des Toten verschwinden. Er zog ein Taschentuch, welches mit P. E. gezeichnet war, hervor, aus dem dasselbe Parfüm entstieg, welches Mrs. Ellen zu gebrauchen schien. Dann fand er zwei Schlüssel, eine Nagelfeile und einen Zigarrenabschneider in der einen Hosentasche, während die andere völlig leer war. Schon wollte Sherlock Holmes seine Nachforschungen einstellen, als er sich erinnerte, die Westentaschen noch nicht beachtet zu haben.

In der rechten Westentasche fand er nichts; in der linken fiel ihm ein kleiner zusammengefalteter Zettel in die Hände.

»Ah, ein Zettel!«, stieß Sherlock Holmes hervor. »Beschrieben … einige Worte mit Bleistift. Das könnte wichtig sein … ah … eine Spur!«

Sherlock Holmes hielt den Zettel dicht an die Kerze und las ihn. Er enthielt die Worte:

Verschwinden Sie für einige Zeit aus London. Man hat Sie zum Tode verurteilt. Sie wissen, dass noch jeder Verräter unseres Geheimnisses zu dieser Strafe verurteilt wurde und dass ihn die rächende Hand immer erreichte. Mir haben Sie immer Gutes getan, ich will nicht, dass Sie sterben.

Ein dankbarer Freund.

Kopfschüttelnd betrachtete Sherlock Holmes den Zettel noch immer, während er das Haupt zur rechten Seite neigte, um zu hören, falls die Schritte Ellens sich der Tür nähern sollten.

»Ganz gut«, glitt es über seine Lippen mit leiser Stimme, und ein Lächeln stahl sich an seinen Mundwinkeln hervor.

»Eigentlich ist die Sache jetzt ganz klar. Zum Tode verurteilt … durch die Freimaurer natürlich, deren Geheimnis er verraten hat. Schade nur, dass dieser Zettel, wie wir Detektive sagen, eine sogenannte Brummfliege ist, die uns durch ihr lästiges Brummen und Summen auf eine falsche Fährte führen soll, sonst hätte ich ihn nicht so leicht in der Westentasche entdeckt! Der Mörder hätte sich, da er Zeit dazu hatte, davon überzeugen können, ob sein Opfer keinerlei Papiere in der Tasche trüge, welche die Spur auf die Freimaurer leiten könnte, und er hätte diesen Zettel in der Westentasche ebenso sicher gefunden wie ich! Übrigens stecken wir uns das Ding ein, es kann in anderer Weise uns wichtig werden.«

Im selben Moment, in welchem sich die Tür öffnete und Mrs. Ellen Estrade eintrat, ließ Sherlock Holmes den Zettel in seine Taschen gleiten.

»Mr. Benson«, rief Ellen, »wohnt 333 City Road; soll ich ihn durch einen Boten herbeirufen lassen?«

»Nicht nötig, Madam«, antwortete Sherlock Holmes, »ich habe es mir überlegt, sein Verhör kann auf morgen verschoben werden. Jetzt aber muss ich fort, denn ich habe heute noch in einer anderen Angelegenheit Recherchen zu unternehmen.«

»Und ich soll mit der Leiche allein bleiben?«, rief Ellen. ,,O, mein Gott, das wird eine fürchterliche Nacht werden! Aber ich trenne mich von dem geliebten Körper nicht eher, bis sie kommen, ihn mir zu entreißen!«

»Fassen Sie sich, Madam; denken Sie daran, dass wir den Tod Ihres Gatten wenigstens rächen müssen, da wir die traurige Tatsache selbst nicht zu ändern vermögen. Leben Sie wohl!«

Sherlock Holmes drückte teilnahmsvoll die Hand Ellens, verbeugte sich und verschwand.

Er ging zu Fuß, immer am Ufer der Themse entlang, bis zur Westminster Abbey.

Hier befand sich hart am Wasser ein kleines Fährhaus, dessen Inhaber davon lebte, dass er im Sommer Boote verlieh.

»He, Jonny, Jonny, mach auf!«, rief Sherlock Holmes, indem er an ein kleines Fenster des Hauses klopfte. »Ich bin es – gut Freund!«

Nach einigen Minuten wurde das Fenster geöffnet und ein nur mit Hose und Hemd bekleideter, vierschrötiger Mann, dessen Arm- und Halsmuskeln bewunderungswürdig ausgebildet waren, blickte heraus.

»Mr. Sherlock Holmes – ah, kommt nur herein!«

»Ist David da?«, fragte Sherlock Holmes, als er das niedrige, fast armselige Gemach betrat. »Sieh, da sitzt ja der Junge drin in der Kammer am Tisch und verzehrt, wie es scheint, sein Nachtmahl. Bist wohl spät nach Hause gekommen, David?«

Ein Junge von etwa zwölf Jahren sprang auf, eilte auf Sherlock Holmes zu und reichte ihm die Hand.

»Ich habe heute vor dem Drury Lane Theater Stiefel geputzt«, antwortete er, »da hat es eine Menge Arbeit gegeben!«

»Umso besser das Geschäft«, erwiderte Sherlock Holmes lachend.

»Dein Sohn ist tüchtig, Jonny, er bringt schon ein schönes Stück Geld nach Hause, und fünf Schilling könnte er jetzt noch schnell verdienen, wenn er nicht zu müde ist, zu meinem Haus zu laufen.«

»Ich bin niemals müde,« versicherte der kleine Stiefelputzer.

»Gut, dann überbringe Harry diesen Zettel«, antwortete Sherlock Holmes, indem er ein Notizbuch aus der Tasche zog, ein Blatt Papier herausriss und auf dasselbe mit Bleistift folgende Worte schrieb:

Komm sofort zu Jonnys Fährhaus. Bring Einbruchswerkzeuge mit, Verbrecheranzüge, eine Blendlaterne. Wir wollen heute in ein Bankhaus einbrechen, ich erwarte dich – Sh. H.

Er faltete den Zettel fünfmal zusammen und verschloss ihn mit einer Oblate, die er einer kleinen Büchse entnahm, und die fester hielt als jedes andere Siegel.

»Wenn du den Brief verlierst, hänge ich dich auf«, sagte Sherlock Holmes zu dem Jungen.

»Ist er denn sehr wichtig?«, forschte Jonny.

Als Sherlock Holmes durch ein Neigen des Hauptes die Frage bestätigte, wandte sich der Fährmann an seinen Sohn mit den Worten: »Schieb den Zettel zwischen Oberlippe und Zähne, du weißt, da verlierst du ihn sicher nicht.«

»Haha, er hat wohl eine Art Backentasche?«, prustete Sherlock Holmes lachend hervor. »Gehört also zur Familie der Affen? Aber umso besser, Junge, so wirst du den Zettel sicher an seinen Bestimmungsort bringen – mach fort!«

David nahm sich nicht einmal Zeit, zur Tür hinauszuschlüpfen, sondern er sprang durch das geöffnete Fenster mit einer Gewandtheit, die wirklich die Vermutung aufkommen ließ, dass er zur Familie der Affen gehöre.