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Deutsche Märchen und Sagen 164

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

214. Gespenst erscheint dem Attila

An dem Kloster der Minnen-Brüder zu Augsburg wird an einem Turm ein Gemälde gesehen, welches eine Geschichte vorstellt, die zu Augsburg durch eine mündliche Erzählung von alten Zeiten hergebracht ist. Als nämlich Attila, der Hunnenkönig, mit seiner Armee bei Augsburg über den Lech gehen wollte, ist eine Frau in fürchterlicher Gestalt und auf einem Pferd reitend ihm entgegengestürzt und hat ihm mit grimmiger Stimme dreimal zugerufen: »Zurück Attila! Zurück Attila! Zurück Attila!« Dadurch war er dermaßen erschrocken, dass er auf der Stelle mit seiner Armee umkehrte.

215. Die Frau im Wald

In Westfalen lebte ein edler und tapferer Ritter, der ritt eines Nachts durch einen Wald, hörte dort die Stimme einer Frau, welche in der Nähe sang, und sprach zu den seinen: »Wer unter euch will mit mir gehen, jene singende Frau zu sehen?«

Als keiner sich dazu erbot, ging er allein hin und fand eine Frau, wie eine schwarze Nonne gekleidet, unter einem Baum stehen, welche mit zum Himmel erhobenen Armen mit lauter Stimme sang. Als er sie fragte, was sie da täte, sprach sie: »Ich lobe meinen Gott.«

Da er nun glaubte, es sei irgendeine Heilige, fragte er sie: »Sage mir, ich beschwöre dich, wie wird es mit mir noch ergehen?«

Darauf entgegnete sie: »Du hast viel Böses getan und tust es noch. Nachdem du deine Feinde besiegt hast, wirst du das Kreuz nehmen, zum Heiligen Land fahren und auch in Christi Dienst sterben.«

Erfreut ob der Vorhersagung, entfernte sich der Ritter und schlug auch in einer bald folgenden Schlacht seine Feinde. Darauf aber die Zeichnung mit dem Kreuz erwartend, fiel er in eine sehr schwere Krankheit. Seine Freunde und die meisten rieten ihm, er solle beichten, denn sein Leben sei in großer Gefahr, aber er achtete dessen nicht und sprach stets, er werde nicht sterben. Als diese nun sahen, dass sie nichts bei ihm ausrichten konnten, wandten sie sich an einen seiner Brüder, der geistlich war, einen Mann von großer Weisheit, und baten diesen, dass er komme, damit sie mit ihm Rat pflegen könnten.

Nach langem Reden erzählte der Kranke diesem von der Erscheinung der Frau.

Da sprach der Bruder: »Der Teufel hat dir Fallstricke gelegt, o Bruder; zaudere nicht und sorge für dein Seelenheil.« Das tat der Ritter und wenige Zeit danach gab er den Geist auf.