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Deutsche Märchen und Sagen 163

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

213. Die weiße Frau auf dem Schloss Neuhaus

Die weiße Frau hatte sich zumeist und vor allem gezeigt in den Schlössern der Herren von Rosenberg und Neuhaus. In dem letzteren Schloss sah man sie einmal gegen Mittag aus dem Fenster eines wüsten, unbewohn­ten Turmes schauen, zu dem Niemand mehr hinaufklettern konnte, weil die hölzernen Treppen vor Alter mürbe waren. Sie war weiß gekleidet, hatte auf dem Haupt einen weißen Witwenschleier mit weißen Bändern, war lang von Person und eines sehr sittsamen Äußeren. Als nun jeder auf dem Markt mit Fingern nach ihr wies, wich sie zwar nicht, wurde aber immer kleiner und kleiner und verschwand endlich ganz. Man sagt, dass sie so lange umwandeln muss, wie das Schloss Neuhaus steht. Fällt es in sich zusammen oder wird es abgerissen, dann ist sie erlöst.

Sie lässt sich nicht nur beim Absterben eines aus dem Geschlecht von Neuhaus sehen, sondern auch, wenn ein neuer Sprössling demselben geboren wird oder einer aus der Familie heiratet oder wenn dem Geschlecht eine besondere Ehre bevorsteht. Die Vorbedeutungszeichen sind aber jedes Mal verschieden. So trägt sie, wenn jemand sterben soll, schwarze Handschuhe, sonst stets weiße. Oft sah man sie mit einem Schlüsselbund am Gürtel schnell durch das Schloss eilen, die eine Zimmertür auf und die andere zuschließend, und das sowohl bei hellem Tage als auch mitten in der Nacht. Wenn ihr jemand begegnet und sie grüßt, dann grüßt sie wieder, doch mit sonderlicher Würde und großem Ernst, gepaart mit Anmut, Ehrbarkeit und einem züch­tigen Blick, wie es einer Witwe geziemt. Beleidigt hat sie noch keinen, der ihr nicht Widerstand bot und sie ungehindert schalten und walten ließ.

Auch in anderen hochfürstlichen Häusern hat sie sich sehen lassen. So erzählt der brandenburgische Hofprediger und Professor der Theologie, Herr Johann Wolfgang Rentsch in seinem Brandenburgischen Ceder-Hain.

Am 16. August des Jahres 1678 ritt der Herr Markgraf Erdmann Philipp von der Rennbahn zu Bayreuth in das Schloss, stürzte aber im Vorhof, wenige Schritte von der Treppe so stark mit dem Pferd, dass er zwei Stunden später den Geist aufgab. Einige Zeit zuvor hatte man die weiße Frau in des Fürsten Leibstuhl gesehen.

In dem alten Gebäude des Schlosses Neuhaus steht ein Bild, welches sehr alt ist, und soll dasselbe nach Aussage aller, welche die weiße Frau sahen, dieser sehr ähnlich sein. Man sagt aber, dass dieses Bild Frau Perchta von Rosenberg sei, welche im Jahre 1449, sonntags vor Martini, Herrn Johann von Lichtenberg geheiratet hat.