Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 11. – 14. Bändchen – Kapitel VIII
Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Elftes bis vierzehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.
VIII. Unterredung
Mordaunt war so unvermutet überrascht worden, er war unter dem Eindruck eines so verwirrten Gefühls die Treppe hinaufgestiegen, dass er noch zu keiner vollständigen Überlegung hatte kommen können. Seine erste Empfindung war nur ein unüberwindlicher Schrecken, eine Bestürzung gewesen, wie sie jeden Menschen ergreift, den ein an Kraft überlegener Todfeind in dem Augenblick, wo er diesen Feind an einem anderen Ort und mit ganz anderen Dingen beschäftigt glaubt, am Arm fasst. Sobald er aber merkte, dass ihm, gleichviel in welcher Absicht, eine Frist gegönnt war, so raffte er alle seine Gedanken und Kräfte zusammen. D’Artagnans feuriger Blick elektrisierte ihn gleichsam, statt ihn einzuschüchtern, denn dieser Blick war, so drohend er ihn anflammte, wenigstens ehrlich in seinem Hass und in seinem Zorn.
Mordaunt sprach nichts. Er kreuzte nur, als er sich versichert hatte, dass sein Degen stets zu seiner Verfügung stand, ganz gelassen seine Beine und wartete.
Dieses Schweigen konnte nicht länger andauern, ohne lächerlich zu werden. D’Artagnan begriff dies und begann das Gespräch.
»Es scheint mir, mein Herr«, sagte er mit seiner tödlichen Höflichkeit, »Ihr wechselt die Trachten beinahe so rasch, wie ich dies bei den italienischen Schauspielern gesehen habe, die der Kardinal von Mazarin aus Bergamo kommen ließ und Euch ohne Zweifel bei Eurer Reise nach Frankreich zeigte.«
Mordaunt antwortete nicht.
»Soeben«, fuhr d’Artagnan fort, »wart Ihr als Mörder verkleidet oder vielmehr gekleidet, und nun …«
»Und nun sehe ich im Gegenteil aus, als trüge ich das Gewand eines Menschen, den man ermorden will, nicht wahr?«, erwiderte Mordaunt mit seinem ruhigen, kurzen Ton.
»Oh! mein Herr«, versetzte d’Artagnan, »wie könnt Ihr so etwas sagen, da Ihr Euch in Gesellschaft von Edelleuten befindet und einen guten Degen an Eurer Seite habt?«
»Kein Degen ist so gut, mein Herr, dass es vier Degen und vier Dolchen gleichkäme, die Degen und Dolche Eurer Spießgesellen, die Euch vor der Tür erwarten, nicht zu rechnen.«
»Verzeiht, mein Herr«, sprach d’Artagnan, »Ihr seid im Irrtum; die Menschen, welche uns vor der Tür erwarten, sind nicht unsere Spießgesellen, sondern unsere Lakaien.«
Mordaunt antwortete nur mit einem Lächeln, das seine Lippen ironisch verzog.
»Doch es handelt sich nicht darum«, versetzte d’Artagnan, »und ich komme auf meine Frage zurück. Ich gebe mir also die Ehre, Euch zu fragen, warum Ihr Euer Äußeres verändert habt; die Larve war Euch ziemlich bequem, wie es mir scheint. Der graue Bart stand Euch vortrefflich, und was das Beil betrifft, mit dem Ihr einen so ausgezeichneten Streich geführt habt, so glaube ich, dass es Euch in diesem Augenblick auch nicht schlecht lassen würde. Warum habt Ihr also gewechselt?«
»Ich erinnerte mich der Szene von Armentières und dachte, ich würde vier Beile statt eines finden, da ich unter vier Henker geraten sollte.«
»Mein Herr«, antwortete d’Artagnan mit der größten Ruhe, obwohl eine leichte Bewegung seiner Augenbrauen andeutete, dass er warm zu werden anfing, »damals lag die Sache ganz anders als hier. Wir konnten Eurer Mutter keinen Degen anbieten und sie bitten, mit uns zu fechten. Aber von Euch, mein Herr, von einem jungen Kavalier, der mit dem Dolch und der Pistole spielt, wie wir dies gesehen haben, und ein Degen von solcher Länge an der Seite trägt, kann man wohl die Gunst eines Zweikampfs erwarten.«
»Ah, ah!«, sagte Mordaunt, »Ihr verlangt also ein Duell?«
Er erhob sich mit funkelnden Augen, um die Herausforderung sogleich anzunehmen.
»Stets zu solchen Abenteuern bereit«, stand Porthos ebenfalls auf.
»Verzeiht«, sprach d’Artagnan mit derselben Kaltblütigkeit, »übereilen wir uns nicht, denn jeder von uns muss wünschen, dass die Dinge in aller Ordnung vor sich gehen. Setzt Euch also wieder, Porthos, und Ihr, mein Herr Mordaunt, wollt gefälligst ruhig bleiben. Wir werden diese Angelegenheit auf das Beste ordnen, und ich will offenherzig gegen Euch sein. Bekennt, Herr Mordaunt, dass Ihr große Lust habt, den einen oder den anderen von uns zu töten?«
»Einen und die anderen«, antwortete Mordaunt.
»Lieber Herr Mordaunt, ich habe Euch zu sagen, dass diese Herren Eure guten Gefühle für sie erwidern und sehr erfreut wären, Euch zu töten. Ich sage noch mehr, sie werden Euch wahrscheinlich töten. Doch es soll in der Weise redlicher Edelleute geschehen, und ich gebe Euch den besten Beweis für meine Worte.«
Damit warf d’Artagnan seinen Hut auf den Boden, rückte seinen Stuhl an die Wand zurück, winkte seinen Freunden dasselbe zu tun, begrüßte Mordaunt mit französischer Artigkeit und sprach: »Ich stehe zu Euren Befehlen, mein Herr, denn wenn Ihr nichts gegen die Ehre, die ich fordere, einzuwenden habt, so fange ich an. Mein Degen ist zwar kürzer als der Eurige, aber basta, ich hoffe, der Arm wird den Degen ergänzen.«
Es bedurfte aber erst der entschiedensten Willensäußerung d’Artagnans, ehe er seine Freunde bestimmen konnte, ihm das Erstlingsrecht der Rache zu überlassen.
Hierauf wandte er sich wieder Mordaunt zu und sagte: »Mein Herr, ich erwarte Euch.«
»Und ich, meine Herren, bewundere Euch. Ihr streitet, wer von Euch sich zuerst mit mir schlagen soll, und fragt mich nicht um meine Ansicht, während doch die Sache mich auch ein wenig angeht, wie mir scheint. Ich hasse Euch alle, das ist wahr, aber in verschiedenen Graden. Ich hoffe, Euch alle zu töten, habe aber mehr Hoffnung, den Ersten als den Zweiten, den Zweiten als den Dritten, den Dritten, als den Letzten zu töten. Ich nehme also das Recht in Anspruch, meinen Gegner zu wählen. Verweigert Ihr mir dieses Recht, so tötet mich, ich schlage mich nicht.«
Die vier Freunde schauten sich an.
»Das ist richtig«, sprachen Aramis und Porthos, in der Hoffnung, die Wahl würde auf sie fallen.
Athos und d’Artagnan sagten nichts.
»Nun wohl«, sprach Mordaunt mitten unter der tiefen, feierlichen Stille, die in dem geheimnisvollen Haus herrschte, »nun wohl, ich wähle zu meinem ersten Gegner denjenigen von Euch, der sich, da er sich nicht mehr für würdig hielt, Graf de la Fère zu heißen, Athos nannte.«
Athos erhob sich von seinem Stuhl, als ob ihn eine Feder auf die Beine geschnellt hätte; aber zum großen Erstaunen seiner Freunde sprach er nach kurzem Schweigen, den Kopf schüttelnd: »Herr Mordaunt, jeder Zweikampf unter uns ist unmöglich; erweist also einem anderen die mir bestimmte Ehre.«
Und er setzte sich wieder.
»Ah!«, sagte Mordaunt, »bereits einer, dem bange ist.«
»Tausend Donner!«, rief d’Artagnan, auf den jungen Mann zuspringend, »wer sagt, Athos sei bange?«
»Lasst ihn sprechen«, versetzte Athos mit einem traurigen, verächtlichen Lächeln.
»Ist dies Euer Entschluss?«, fragte der Gascogner.
»Unwiderruflich.
»Gut, sprechen wir nicht mehr davon.
Dann sich gegen Mordaunt umwendend: »Ihr habt gehört, mein Herr, der Graf de la Fère will Euch nicht die Ehre antun, sich mit Euch zu schlagen. Sucht unter uns einen Stellvertreter für ihn.
»Schlage ich mich nicht mit ihm, so ist mir wenig daran gelegen, mit wem ich mich schlage. Legt eure Namen in einen Hut, und ich werde auf den Zufall herausziehen.«
»Das ist ein Gedanke«, sprach d’Artagnan.
Sie taten nach diesem Vorschlag, und d’Artagnan stieß einen Freudenschrei aus, als sein Name zuerst gezogen wurde, und rief: »Es gibt noch eine Gerechtigkeit im Himmel. Seid Ihr bereit, Herr?«
»Ich erwarte Euch«, sprach Mordaunt, den Kopf erhebend und d’Artagnan mit einem Auge anschauend, dessen Ausdruck sich nicht beschreiben lässt.
»Dann nehmt Euch in Acht, mein Herr«, sagte der Gascogner, »ich führe den Degen ziemlich gut.«
»Ich auch«, erwiderte Mordaunt.
»Desto besser, das beruhigt mein Gewissen. Legt aus!«
»Einen Augenblick«, sagte der junge Mann, »gebt mir Euer Ehrenwort, meine Herren, dass ihr mich nur einer nach dem anderen angreifen werdet.«
»Um das Vergnügen zu haben, uns zu beleidigen, forderst du das von uns, kleine Schlange?«, rief Porthos.
»Nein, sondern um ein ruhiges Gewissen zu haben, wie dieser Herr soeben sagte.«
»Dahinter muss ein anderer Grund stecken«, murmelte d’Artagnan und schaute mit einer gewissen Unruhe um sich her.
»Auf Edelmanns Wort!«, sprachen Aramis und Porthos gleichzeitig.
»Dann stellt euch in eine Ecke, meine Herren«, sagte Mordaunt, »wie es der Herr Graf de la Fère getan hat, der, wenn er sich auch nicht schlagen will, doch wenigstens die Gesetze des Zweikampfes kennt, und lasst uns freien Raum, wir brauchen ihn.«
Porthos und Aramis stellten sich, um jeden Vorwand zu weiterer Verzögerung abzuschneiden, in die Ecke Athos gegenüber, sodass die Fechtenden die Mitte des Zimmers einnehmen konnten und somit in vollem Licht standen, da man zwei Lampen, welche die Szene beleuchteten, auf Cromwells Schreibtisch gesetzt hatte.
»Vorwärts«, sprach d’Artagnan, »seid Ihr endlich bereit, mein Herr?«
»Ich bin es«, erwiderte Mordaunt.
Beide machten zu gleicher Zeit einen Schritt vorwärts, und durch diese einzige Bewegung waren die Degen gebunden.
D’Artagnan war ein zu ausgezeichneter Kämpfer, um seinen Gegner, wie die Fechter sagen, lange zu befühlen. Er machte eine rasche, glänzende Finte; sie wurde von Mordaunt pariert.
»Ah! Ah!«, rief er mit einem Lächeln der Zufriedenheit.
Und da er eine Öffnung zu sehen glaubte, tat er einen geraden Stoß, rasch und flammend, wie der Blitz.
Mordaunt parierte eine unnachahmliche Kontrequarte.
»Ich fange an zu glauben, dass wir uns unterhalten werden«, sprach d’Artagnan.
Statt jeder Antwort suchte Mordaunt den Degen d’Artagnans mit einer Kraft zu binden, die der Gascogner in einem scheinbar so gebrechlichen Körper nicht vermutet hätte, aber mit einer Parade, welche nicht minder geschickt ausgeführt wurde, als die seines Feindes, begegnete er zu rechter Zeit dem Eisen Mordaunts, das an dem seinen abglitt, ohne seine Brust zu treffen.
Mordaunt machte rasch einen Schritt rückwärts.
»Ah! Ihr weicht?«, sagte d’Artagnan, »Ihr dreht? Wie es Euch beliebt; ich gewinne sogar etwas dabei, ich sehe Euer abscheuliches Lächeln nicht mehr. Nun bin ich gänzlich im Schatten, desto besser. Ihr habt keinen Begriff, wie falsch Euer Blick ist, besonders wenn Ihr Euch fürchtet.«
Auf diesen Redefluss erwiderte Mordaunt kein Wort; aber beständig weichend und drehend, gelangte er dahin, dass er mit d’Artagnan den Platz wechselte.
Mordaunt lächelte immer mehr. Dieses Lächeln fing an, d’Artagnan zu beunruhigen.
»Vorwärts, es muss ein Ende gemacht werden«, sprach d’Artagnan, »der Bursche hat eiserne Kniebeugen. Nun zu den großen Stößen!«
Er drang auf Mordaunt ein, der zu weichen fortfuhr, aber offenbar aus Taktik, ohne einen Fehler zu machen, den d’Artagnan hätte benutzen können, und ohne dass sein Degen sich einen Augenblick von der Linie entfernte. Da jedoch der Kampf in einem Zimmer stattfand und es den Fechtenden an Platz mangelte, so berührte Mordaunts Fuß bald die Wand, an welche er seine linke Hand stützte.
»Ah!«, rief d’Artagnan, »diesmal weicht Ihr nicht mehr, mein schöner Freund! Meine Herren«, fuhr er, den Mund verziehend, fort, »habt Ihr je einen Skorpion an die Wand genagelt gesehen? Nein? Wohl, Ihr sollt es sehen.«
Und in einer Sekunde führte d’Artagnan drei furchtbare Stöße gegen Mordaunt. Alle drei berührten ihn, aber nur streifend. D’Artagnan begriff diese Gewalt nicht. Die Freunde schauten sich, schwer atmend, mit Schweiß auf der Stirn, an.
Seinem Gegner zu nahe, machte d’Artagnan ebenfalls einen Schritt rückwärts, um einen vierten Stoß vorzubereiten. Aber in dem Augenblick, wo er erbitterter als je auf seinen Gegner eindrang, im Augenblick, wo er, nach einer raschen Finte, wie der Blitz angriff, schien sich die Mauer zu spalten; Mordaunt verschwand durch die gähnende Öffnung, und zwischen den zwei Füllungen gefasst, zerbrach der Degen d’Artagnans, als ob er von Glas gewesen wäre.
D’Artagnan machte einen Schritt rückwärts. Die Wand schloss sich wieder.
Mordaunt hatte, während er sich verteidigte, so manövriert, dass er an die geheime Tür kam, durch die wir Cromwell haben hinausgehen sehen. Sobald er sich hier befand, suchte er mit der linken Hand den Knopf und drückte daran; dann verschwand er, wie auf dem Theater die bösen Geister verschwinden, welche die Gabe besitzen, durch die Mauern zu gehen.
Der Gascogner stieß eine wütende Verwünschung aus, die auf der anderen Seite der eisernen Füllung von einem wilden, unheimlichen Gelächter erwidert wurde, wobei sogar die Adern des skeptischen Aramis ein Schauer durchlief.
»Herbei, meine Herren!«, rief d’Artagnan, »stoßen wir diese Türe ein.«
»Das ist der leibhaftige Teufel!«, sprach Aramis und lief zu seinem Freund.
»Gottes Blut, er entkommt uns!«, brüllte Porthos und stemmte sich mit seiner breiten Schulter gegen den Verschlag, der, durch eine geheime Feder gehalten, unerschütterlich blieb.
»Desto besser«, murmelte Athos mit dumpfer Stimme.
»Ich vermutete es, Mord und Tod!«, rief d’Artagnan, vergeblich seine Kräfte erschöpfend, »ich vermutete es, als der Elende sich im ganzen Zimmer herumdrehte; ich sah irgendein schändliches Manöver voraus; ich ahnte, dass er etwas im Schilde führte, aber wer konnte hierauf gefasst sein?
»Es ist ein furchtbares Unglück, das uns der Teufel, sein Freund, zusendet!«, rief Aramis.
»Der Elende wird uns hundert eiserne Männer schicken«, stieß d’Artagnan hervor, »die uns wie Getreide im Mörser Cromwells zerstampfen. Auf! Auf! Abgezogen; wenn wir nur fünf Minuten hier verweilen, ist es um uns geschehen!«
»Ja, Ihr habt recht, vorwärts!«, riefen Athos und Aramis.
»Wohin gehen wir?«, fragte Porthos.
»In den Gasthof, lieber Freund, um unsere Pferde zu holen; dann, wenn es Gott gefällt, auf dem Blitz nach Frankreich, wo ich wenigstens die Bauart der Häuser kenne. Unser Schiff erwartet uns, das ist meiner Treu noch ein Glück.«
Rasch steckte d’Artagnan seinen Degenstumpf in die Scheide, hob seinen Hut auf, öffnete die Tür der Treppe und stieg mit seinen drei Freunden hinab.