Nick Carter – Band 12- Eine gestörte Hochzeit – Kapitel 1
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Eine gestörte Hochzeit
Ein Detektivroman
Eine geheimnisvolle Warnung
Die erste Morgenpost brachte dem berühmten Detektiv Nick Carter unter anderem einen anonymen Brief folgenden Inhalts:
Sie sind ein Freund Sanborns. Ich will Ihnen einen Wink geben. Seine Tochter wird heiraten. Die Geschenke werden sehr zahlreich und wertvoll sein. Am Ende der Hochzeit soll das Haus überfallen werden. Mein Wort genügt Ihnen.
Nick las den Brief sorgfältig und unterzog sogar das Papier, auf dem er geschrieben war, einer genauen Prüfung. Aber dies war erfolglos. Ein kurzer Blick auf den Umschlag zeigte ihm, dass das Schreiben am Abend vorher auf dem Hauptpostamt aufgegeben worden war.
Da der Brief keinen besonderen Sanborn bezeichnete, deren es vielleicht Hunderte gab, zweifelte Nick nicht, dass in diesem Fall nur Harmon Sanborn gemeint sein konnte. Harmon Sanborn war ein steinreicher Mann, viele Millionen schwer. Zwischen ihm und dem berühmten Detektiv herrschte ein freundschaftlicher Verkehr, der sich vor mehreren Jahren angebahnt hatte. Nick hatte damals versucht, einem auffälligen Rückgang, der sich in einem der vielen Sanbornschen Unternehmungen bemerkbar machte, auf den Grund zu kommen.
Nick wusste, dass Sanborn mehr als eine unverheiratete Tochter hatte. Als der anonyme Brief in seine Hände gelangte, hatte er keine Ahnung, dass die Hochzeit der einen Tochter stattfinden sollte.
Chick war in dem Zimmer anwesend und las seine Morgenzeitung. Nick fragte ihn: »Chick, du kennst wohl Herrn Sanborn. Hast du gehört, dass eine seiner Töchter heiraten will?«
»Ja, warum?«, entgegnete Nicks hervorragender Mitarbeiter. »Die Zeitung bringt einen ganzen Artikel darüber.«
»Welche Tochter ist es?«
»Die älteste.«
»Wen wird sie heiraten?«
»Einen jungen Engländer, der vor einigen Jahren hier gewesen ist. Er soll mit einigen Adelsfamilien drüben verwandt sein.«
»Schreiben sie viel über die Geschenke?«
»Ja. Die Hälfte der Millionäre des Landes schenken der Braut Diamanten, Smaragde und was weiß ich sonst.«
Nick reichte Chick den Brief, welchen er mit der Morgenpost erhalten hatte, und fragte: »Was denkst du darüber?«
Chick las das Billett genau und meinte nachdenklich: »Kein Name! Das finde ich sonderbar. Ich weiß kaum, was ich dazu sagen soll. Doch ich denke, daraufhin hätte ich gehandelt.«
»Allerdings mit der größten Vorsicht. Wann findet die Hochzeit statt?«, fragte Nick weiter.
»Heute Nachmittag.«
Nick sah nach der Uhr. »Es ist neun Uhr«, sagte er. »Wir haben genug Zeit, unsere Maßnahmen zu treffen, wenn solche überhaupt nötig sind. Ich möchte nur noch wissen, wo sich Sanborn während dieser Zeit aufhält.«
»Wahrscheinlich in seinem Haus. An solch einem Tag!«, gab Chick zurück.
»Wahrscheinlich.«
Nick setzte sich durch das Telefon mit Herrn Sanborn in Verbindung.
Er bat den Millionär, für eine kurze Zeit zu Hause zu bleiben, und erhielt die Antwort, wenn Sanborn das Haus verlassen würde, tue er es nur, um der Hochzeitsfeierlichkeit in der Kirche beizuwohnen.
Nick sagte ihm, es sei ein Gegenstand von großer Wichtigkeit für ihn. Durch das Telefon könnte er ihm das nicht mitteilen, er würde es ihm aber bald persönlich sagen.
Er bat nun Chick, ihn zu begleiten, und beide begaben sich unverzüglich zu dem prächtigen Wohnhaus des reichen Mannes. Die Front des Hauses ging zum Central Park hinaus.
Als sie das Haus erreichten, wurden sie sofort in ein Zimmer im ersten Stock geführt, das Herr Sanborn als Arbeitszimmer zu benutzen pflegte, wenn er zu Hause war.
»Ich weiß nicht«, sagte Nick zu dem Millionär, »ob es recht ist, mich hier einzumischen. Diesen Brief hier bekam ich mit der Morgenpost. Mehr als das weiß ich nicht.«
Er reichte ihm den Brief, den er erhalten hatte.
Nachdem Sanborn ihn gelesen hatte, legte er das Blatt weg und meinte: »Es ist etwas Wahres daran; dass ich Ihr Freund bin, Carter, ist die eine Wahrheit, und die andere ist, dass die Geschenke sehr zahlreich, und was die Hauptsache ist, sehr wertvoll sind. Meine Tochter war der Liebling meiner Freunde und Geschäftsteilhaber. Was sagen Sie dazu?«
»Mir scheint, es ist ein Brief, der Sie warnen soll«, antwortete Chick, »und ich würde Ihnen raten, sofort die nötigen Maßnahmen zu treffen, um die Geschenke zu sichern.«
»Jawohl«, sagte der Millionär. »Diese Zeitungen haben aber auch ordentlich für Anzahl und Wert der Geschenke Reklame gemacht. Diejenigen, welche Absichten darauf haben, könnten sich sämtliche Kenntnisse durch das Lesen dieses Blattes verschaffen. Und nun noch etwas, Carter, was für eine enorme Anzahl von Einladungen für das Fest nach der kirchlichen Feier ergangen ist. Ich fürchte, das Haus wird gestopft voll sein von all den Menschen.«
»Unter solchen Umständen«, sagte Chick, »würde es für etwaige Langfinger nicht schwer sein, einen Weg in das Haus zu finden. Viele von denen, die in diesem Fach arbeiten, können sich, wenigstens den Kleidern nach, mit den ersten Damen des Landes in eine Linie stellen.«
»Was für Anordnungen haben Sie getroffen, Herr Sanborn, das Haus während dieser Zeit zu bewachen?«
Sanborn blickte ein wenig überrascht und sagte: »Leider muss ich gestehen, dass ich nichts dergleichen getan habe. Ich habe auch gar nicht daran gedacht.«
Er lachte, als er fortfuhr: »Alles das ist mir noch neu. Von Anfang an schon habe ich nichts als Fehler gemacht. Lieber will ich von New York nach San Franzisko zu Fuß laufen, als so eine Hochzeit auszurichten.«
Die zwei Detektive lachten nicht wenig über dieses Geständnis, und Nick sagte: »Es ist noch nicht zu spät, Anordnungen zu treffen, Mister Sanborn. Sie sollten es ohne Verzug tun.«
»Ja«, warf Chick ein, »machen Sie ja keinen Fehler, indem Sie denken, dass Spitzbuben bei Hochzeiten, noch dazu mit so kostbaren Geschenken, fehlen. Es weiß niemand, dass Sie alles außer Acht gelassen haben?«
»Meinen Sie«, fragte Sanborn, »die Diebe wüssten es, dass ich das nicht getan habe?«
»Sicher«, antwortete Chick.
Nick gab seine Zustimmung durch ein Kopfnicken. Mr. Sanborn war sehr überrascht – um nicht zu sagen – verblüfft. Endlich wandte er sich schnell zu Nick um und sagte: »Sie, Carter, können Sie die Sache nicht in die Hand nehmen und das Richtige tun?«
Nick lächelte ein wenig, als er antwortete: »Es wäre schon möglich, aber es schlägt nicht in unser Fach. Diese Arbeit wird gewöhnlich von den Beamten des Polizeihauptquartiers übernommen. Es überrascht mich, dass man Sie warten lässt, bis Sie darum bitten. Gewöhnlich kommen sie doch bei solchen Gelegenheiten, um gleich zu fragen, welche Vorkehrungen Sie etwa getroffen zu haben wünschen.«
Sanborns Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick. Er war sehr ernst, als er sagte: »Ich könnte Ihnen den Grund dieses Verhaltens wohl sagen, aber ich halte das nicht für geraten. Da es nun auch nicht innerhalb Ihres Wirkungskreises liegt, wäre es trotzdem zu viel, Sie darum zu bitten, die Sache in die Hand zu nehmen?«
»Es ist nicht zu viel verlangt, obwohl es die Arbeit anderer wäre; aber wir sind ja Freunde. Unter diesen Umständen werden wir, wenn Sie es wünschen, heute die Überwachung übernehmen.«
»Tun Sie es«, sagte Herr Sanborn, sein Gesicht heiterte sich dabei auf. »Sie werden mir eine schwere Sorge abnehmen.«
»Gut«, bemerkte Nick, »wir werden gleich beginnen!«
Er ging zum Telefon, rief Patsy an und sagte ihm, er solle sich wie für eine vornehme Hochzeit kleiden und sobald wie möglich in Herrn Sanborns Haus erscheinen, wo er entweder Chick, ihn selbst oder sie beide antreffen würde, um ihm die Sachlage zu erklären. Dann rief er auch Ida, seine Cousine und Mitarbeiterin, an und sagte ihr dasselbe wie Patsy. Vom Telefon zurückkommend, bemerkte er zu Chick: »Ich denke, Chick, du wirst guttun, dich noch etwas auszustaffieren. Du musst dich doch unter die Gäste mischen, als ob du einer von ihnen wärest.«
Chick entfernte sich, indem er versprach, im Laufe einer Stunde wieder zu erscheinen.
Er war noch keine fünf Minuten fort, als sich durch eine Karte ein Beamter der Polizeizentrale melden ließ.
»Vielleicht etwas spät, aber sie kommen doch, mir Hilfe anzubieten«, sagte Sanborn.
Er wollte den Diener schon wieder fortschicken, mit der Antwort, dass alle Vorsichtsmaßregeln getroffen seien und dass die Detektive der Zentrale nicht benötigt würden, als Nick ihn aufhielt.
»Warten Sie, Mr. Sanborn, lassen Sie den Mann ganz ruhig kommen und ihn uns ansehen.«
Sanborn unterrichtete den Diener darüber, als ihn Nick zum zweiten Mal unterbrach: »Nicht so hastig«, sagte er. »Ich wünsche nicht, dass Sie die Herren vor den Kopf stoßen, wenn es mit dem Besuch seine Richtigkeit hat. Und wenn dies nicht der Fall ist, dann ist es nicht nötig, dass mich der Bursche erkennt. Wo kann ich mich verbergen, um den Mann ungesehen beobachten zu können?«
Sanborn ging zu einer Ecke, nahm einen Ofenschirm hervor und setzte ihn so, dass dadurch das eine Fenster verdeckt wurde.
»Ich gebrauche diesen Schirm, damit ich das Fenster öffnen und die frische Luft hereinlassen kann, ohne dass Zug entsteht. Sie sitzen ganz und gar gedeckt dahinter, na, und zum Sehen können Sie sich ja ein Loch hineinschneiden.«
»Er ist eigentlich zu wertvoll, um ein Loch hineinzuschneiden«, sagte Nick, als er hinter den Schirm sah. »Gut«, wandte er sich an Sanborn. »Hören Sie sich in aller Ruhe an, was der Mann zu sagen hat. Wenn Sie dann drei Schläge hinter dem Schirm hören, die ich mit dem Messer an der Lehne des Stuhles ausführen werde, dann sagen Sie, Sie würden hocherfreut sein, wenn die Zentrale drei Männer in unauffälliger Kleidung schicken wollte.«
Nick sah sich rings im Zimmer um. Er bemerkte, dass er durch das Fenster leicht in einen anderen Raum gelangen konnte. Deshalb fuhr er fort: »Wenn Sie mich aber im nächsten Zimmer pfeifen hören, dann müssen Sie auf jeden Fall sagen, dass schon Vorkehrungen getroffen sind und dass Sie der Beamten nicht bedürfen.«
Nick setzte sich hinter den Schirm, und bald trat auch der Mann ein, den der Diener gemeldet hatte. Mit großer Zungengewandtheit erzählte er dem Millionär, weshalb er gekommen sei. Kaum hatte er geendet, als im anstoßenden Zimmer gepfiffen wurde. Darauf sagte Sanborn kurz, dass die Detektive nicht nötig wären. Er dächte nicht, dass ihn einer seiner Gäste bei der Gelegenheit berauben wollte. Der Mann versuchte, Mr. Sanborn vorzustellen, welche Gefahr er dadurch hinauf beschwöre, aber dieser schnitt das Gespräch kurz ab.
Nun konnte der Mann nichts weiter tun, als wieder zu gehen.
Nick kehrte zurück und sagte: »Ich vermutete, einen von der Detektivzentrale zu erkennen. Auf den ersten Blick aber stellte ich fest, dass der Mann einer der allergefährlichsten Verbrecher ist, welche gewöhnlich in großen Städten ihr Arbeitsfeld suchen. Er ist von Philadelphia, und ich bin sicher, er ist derjenige, der im vorigen Winter die Räubereien gelegentlich der offiziellen Empfänge im Weißen Hause in Washington ausführte.«
»Deshalb«, sagte Sanborn, »glauben Sie, dass der an Sie gerichtete anonyme Brief eine gutgemeinte Warnung war?«
»Unter diesen Umständen muss ich es«, sagte Nick. »Und ich werde auf jeden Fall vorbereitet sein.«
»Ich muss ebenfalls noch einige Anordnungen treffen«, erwiderte Sanborn. »Ich werde Sie hier alleinlassen müssen. Wenn Sie mich wünschen, so lassen Sie mich durch den Diener rufen.«
Er ging, und Nick nahm ein Buch, seine Gehilfen erwartend.
Der Erste, der kam, war Patsy. Als er eintrat, blickte Nick in unverhohlener Überraschung auf. Patsy hatte ein Meisterstück gemacht. Nach der Sorgfalt und Korrektheit seines Anzuges konnte man ihn für einen der tonangebenden Stutzer der Stadt halten.
»Du machst mich stolz«, sagte Nick. »Ich traue mir doch auch zu, eine gute Verkleidung anzulegen, aber wie ich dich gesehen habe, fürchte ich fast, dass es mir nicht möglich sein wird, diese Vollkommenheit zu erreichen.«
»O«, sagte Patsy, ein wenig verwirrt von der Neckerei Nicks, »ich habe nur Ihren Befehlen gehorcht, Meister.«
»Wie du es immer tust«, gab Nick zurück und nahm seinen Hut, um zu gehen. »Ich werde versuchen, deiner Eleganz gleichzukommen. Einstweilen musst du auf das Haus gut Obacht haben. Es sind schon wieder Bemühungen gemacht worden – durch Lannigan.«
»Den Einbrecher aus Philadelphia?«, fragte Patsy begierig.
»Derselbe«, sagte Nick. »Er ist vertrieben worden, aber ein anderer Versuch wird gemacht werden, dem musst du vorbeugen.«
Dann berichtete er ihm genau, was sich ereignet hatte. Er warnte ihn noch, wenn ein wirklicher Beamter des Detektivbüros kommen sollte, diesen ja nicht fortzuschicken.
Als Nick ging, kamen Chick und Ida, und nachdem er sie eingehend von allem unterrichtet hatte, ging er die Treppe hinunter. Da sah er Lannigan in kurzer Entfernung mit einem anderen sprechen, der dann in einen Wagen sprang, welcher rasch davonrollte.
Lannigan ging in einer anderen Richtung fort und war bald verschwunden.
»Wo habe ich nur den Mann schon gesehen? Sein Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich vermute, er ist einer von Lannigans Gesellschaft«, murmelte der Detektiv gedankenverloren vor sich hin.
Er ließ den Gegenstand fallen, weil er nach Hause musste, um sich darauf vorzubereiten, einen von Sanborns Hochzeitsgästen spielen zu können.