Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl – 6. Kapitel
Heinrich Döring
Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl
Verlag C. F. Schmidt, Leipzig, ca. 1840
Sechstes Kapitel
Wie der Berggeist dem armen Peter hundert Taler lieh
»Verdammter Bauernlümmel!«, sprach die donnernde Stimme des Berggeistes, der in der bekannten Köhlergestalt vor ihm stand und ihn mit durchbohrendem Blick betrachtete. »Weißt du nicht, dass das letzte Stündlein dem geschlagen ist, der sich erkühnt, den mir verhassten Namen auszusprechen? Sterben musst du; darum wähle, ob du lieber erwürgt sein willst oder ob ich dir den Schädel mit meinem Schürrbaum zerschmettern soll.«
»Tut, was Euch gut dünkt«, sprach der arme Peter bebend, doch mit verzweifelter Fassung. »Nur gewährt mir die Bitte und hört mich erst an, ehe Ihr mich tötet.« »Sprich«, brummte Rübezahl vor sich hin, und jener schilderte nun treuherzig sein namenloses Leid und Elend, wie er von den reichen Vettern Hilfe gehofft und kein Erbarmen gefunden hatte.
Als er nun in Rübezahls Gesichtszügen, die etwas freundlicher geworden waren, einige Teilnahme zu bemerken glaubte, da fasste er sich ein Herz und trat mit der Bitte um ein Darlehen von hundert Talern hervor. »Euch, Herr«, sprach er, »ist das eine Kleinigkeit, und mir und den meinen wäre dadurch geholfen. Nur auf ein Jahr borgt mir jene hundert Taler. Ich gebe Euch eine Handschrift darüber und zahle Euch das Geld mit den landesüblichen Zinsen und mit meinem besten Dank dazu zurück.«
Da brach Rübezahl in ein gellendes Gelächter aus. »Narr!«, rief er, »gehe zu deinesgleichen, wenn du Geld borgen willst. Von mir bekommst du keins.«
»Das ist nicht Euer Ernst, Herr«, entgegnete Peter treuherzig. »Habe ich Euch doch erzählt, wie spröde ich von den reichen Vettern abgewiesen worden bin. Ich sehe es Euch an, Ihr seid nicht so hart und lieblos. O, habt Erbarmen! Ich bitte Euch nochmals oder tötet mich auf der Stelle und befreit mich so für immer von meinem namenlosen Elend.«
Als der arme Peter so sprach, glaubte er ein gutmütiges Lächeln in Rübezahls Zügen zu bemerken.
»Sei’s denn!«, sprach der Berggeist, »ich will sie dir borgen, die hundert Taler, aber merke dir, dass ich sie in Jahresfrist wiederhaben muss.«
Peter beteuerte es. Aber das Herz klopfte ihm immer stärker, als er dem Geist auf unwegsamen Pfaden folgte, immer tiefer Wald einwärts. Neben einer riesenhohen Tanne, die ihre Zweige herabsenkte, blieb Rübezahl auf einen schroffen Felsen an. Er stampfte mit dem Fuß auf, und der Eingang zu einer, wie es schien, sehr geräumigen Höhle wurde sichtbar.
»Merke dir diesen Baum«, sprach Rübezahl, auf die Tanne deutend, »und folge mir!«
Als nun Peter sich in dem schauerlichen Felsengewölbe so allein befand, matt beleuchtet von einer Lampe, da fühlte er, wie ihm das Herz pochte. Er warf einen scheuen Blick auf die ungeheure Braupfanne, die ihm in der Mitte der Höhle entgegenglühte, bis zum Rand mit harten Talern angefüllt. Dukaten und andere Goldstücke blinkten in mehreren kleinen Gefäßen.
»Nimm dir, soviel du brauchst!«, sprach Rübezahl.
Da zählte sich der arme Peter gewissenhaft die erbetenen hundert Taler ab und unterzeichnete mit seines Namens Unterschrift den Schuldschein, den Rübezahl unterdessen eigenhändig niedergeschrieben hatte.
»Geh mit Gott!«, sprach er, ihm auf die Schulter klopfend. »Vergiss nicht, wiederzukommen in Jahr und Tag, zu dieser Stunde und an diesem Ort, um mir die hundert Taler zurückzuzahlen, die ich dir geliehen habe.« Der arme Peter aber gelobte das heilig, und Freude und Sehnsucht beflügelten seine Schritte, als er wieder aus der Höhle emporgestiegen war und die Wanderung in seine Heimat antrat.