Andreas Eschbach – Freiheitsgeld
Andreas Eschbach
Freiheitsgeld
Thriller, Hardcover, Lübbe, Köln, 26. August 2022, 528 Seiten, 25,00 EUR, ISBN 9783785728123
Es beginnt … schwindelerregend auf dem Ulmer Münster, der auch im Jahre 2063 die Rolle als höchster Kirchturm weltweit einnimmt – zumindest in Eschbachs aktuellem Werk. Getrieben von jugendlichem Übermut und einer überaus wagemutigen Challenge aus dem Netz erklimmt Zoe mit ihrem Freund und Komplizen, ausgestattet mit Kameradrohne und Bungeeseil, die Turmspitze und bezahlt dafür den ultimativen Preis. Tragisch, in der Tat; und ein gefundenes Fressen für die Sensationslüsternen und die Presse im In- und Ausland, da Zoe nicht bloß irgendwer ist, sondern die Urenkelin von Robert Havelock, seines Zeichens früherer Bundeskanzler, einstiger EU-Präsident und zuständig für die Einführung des sogenannten Freiheitsgeldes in den frühen 30er Jahren des 21. Jahrhunderts.
Mittlerweile weit über 90, verbringt Havelock den Lebensabend in einer Gated Community, einer bewachten Wohnanlage namens Oase. Wachdienste, prächtige Apartments, Friseursalon, Ärzte, personalisierte Apotheken und so vieles mehr: Da passt der Name. Für Valentin Jouvens, der seine Stelle als Personaltrainer antritt und aus weniger luxuriösen Verhältnissen stammt, ist der erste Eindruck dementsprechend überwältigend. Kann dies wahr sein? Leider nicht, wie der Einzeltrainer von Robert Havelock feststellt. Da wären etwa die mehr als intimen Fragen seiner Chefin und deren Drängen auf eine nur vordergründig harmlos anmutende Blutwäsche, während seine Frau Lina auf Ungereimtheiten in Bezug auf Valentis Vorgänger stößt. Zu allem Übel verstirbt, trotz des hohen Alters unerwartet, Robert Havelock, und das ausgerechnet vor der 30-Jahr-Feier zu Ehren des bedingungslosen Grundeinkommens, des erwähnten Freiheitsgeldes. Dies wiederum ruft den jungen Polizeibeamten Ahmad Müller auf den Plan, der alsbald auf eine kontroverse Rede Havelocks stößt, die er bei der Feier vortragen wollte.
Nach den über 1200 Seiten des letzten Eschbach-Romans, EINES MENSCHEN FLÜGEL, aus dem Jahr 2020, wirkt FREIHEITSGELD fast wie eine Novelle. Nach überbordender Science-Fantasy nun also lupenreine Social-Fantasy. Wie bereits etwa das Ende des Erdölzeitalters in AUSGEBRANNT (2007) oder Wahlmanipulation in EIN KÖNIG FÜR DEUTSCHLAND (2009) greift Eschbach abermals eine Thematik auf, die momentan in (fast) aller Munde ist und bisweilen für heftige wie umstrittene Debatten sorgt. Doch was genau ist dieses bedingungslose Grundeinkommen? Auf dem Papier ein großartiges Konzept: gesetzlich festgelegte und gleiche staatliche Zuwendung ohne Gegenleistung. Keine gesellschaftlichen Abgrenzungen mehr. Man stelle sich das bloß vor! Während etwa in der Schweiz und Spanien erste Pilotprojekte und Experimente durchgeführt wurden und in Brasilien die ersten Schritte für das bedingungslose Grundeinkommen eingeleitet sind, nimmt Eschbach den Extraschritt voraus. Kohärent hinterfragt er Konsequenzen und Schattenseiten. Denn was tut der Mensch, wenn er nicht mehr arbeiten muss? Was wird dann aus dem Menschen; wie entwickelt sich sein Verhalten? Von einer Dystopie ist FREIHEITSGELD weit entfernt, selbst für den Klimawandel findet Eschbach eine durchaus akzeptable Lösung. Und keine Sorge, in gut 40 Jahren sind wir nicht zu sabbernden Bummelanten verkommen. Jedenfalls nicht alle. Auch hier überzeugt Eschbachs schlüssiges Weiterspinnen. Wenngleich etwa das Baugewerbe durch 3D-Drucker und der Einzelhandel zuvorderst dank Roboter mehr oder minder menschenfrei sind, erlebt das klassische Handwerk ebenso einen völlig verdienten Aufschwung, ebenso die Pflegebranche. Wäre schön und überfällig, wenn dies bei letzten beiden Branchen etwas früher einsetzen würde. Gerade im Alltag des Jahres 2063 zeigen sich abermals Eschbachs nahezu unerreichten Qualitäten sowohl in Sachen Worldbuilding als auch futurologische Prognosen. Keine Utopie, einfach nur Weiterdenken, aber dies meist so unauffällig und so eingebettet, dass die Gesamtheit schlüssig und natürlich ist. Routiniert, geschickt und unterhaltsam baut Eschbach die Thematik in einen mehr als soliden Thrillerrahmen ein, dem man diverse Klischees und das mitunter zu häufige Auftreten von Gevatter Zufall verzeiht. Erneut ein überaus lohnendes Buch voller Denkanstöße des gebürtigen Ulmers.
((thsch)