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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 11. – 14. Bändchen – Kapitel VI

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Elftes bis vierzehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

VI. Der Verlarvte

Obwohl es erst vier Uhr war, herrschte doch schon finstere Nacht. Der Schnee fiel dick und eisig. Aramis kehrte ebenfalls zurück und fand Athos, wenn auch nicht mehr ohne Bewusstsein, so doch aufs Tiefste herabgestimmt; aber bei den ersten Worten seines Freundes erwachte der Graf aus der Lethargie, in die er versunken war.

»Nun«, sagte Aramis, »wir sind besiegt durch Missgeschick!«

»Besiegt, sprach Athos, »edler, unglücklicher König!«

»Seid Ihr denn verwundet?«, fragte Aramis.

»Nein, dieses Blut ist das seine.«

Der Graf trocknete seine Stirn.

»Wo wart Ihr denn?«

»Wo Ihr mich gelassen hattet, unter dem Schafott.«

»Und Ihr habt alles gesehen?«

»Nein, aber alles gehört. Gott bewahre mich vor einer zweiten Stunde, der ähnlich, die ich soeben durchmachen musste! Habe ich nicht weiße Haare?«

»Dann wisst Ihr, dass ich ihn nicht verlassen habe.«

»Ich hörte Eure Stimme bis zum letzten Augenblick.«

»Hier ist der Stern, den er mir gegeben hat«, sprach Aramis, »hier ist das Kreuz, das ich aus seiner Hand genommen habe. Er wünschte, dass beides der Königin zugestellt werde.«

»Und hier ein Taschentuch, um beides darein zu wickeln«, sagte Athos und zog das Tuch hervor, das er in des Königs Blut getaucht hatte.

»Was hat man mit der armen Leiche gemacht?«, fragte Athos.

»Auf Cromwells Befehl sollen ihr die königlichen Ehren erwiesen werden. Wir haben den Körper in einen bleiernen Sarg gelegt. Die Ärzte beschäftigen sich damit, die unglücklichen Überreste einzubalsamieren. Ist ihr Werk getan, so wird der König auf ein Trauergerüst gesetzt werden.«

»Hohn!«, murmelte Athos düster, »die königlichen Ehren dem, den sie ermordet haben!«

»Dies beweist, versetzte Aramis, »dass zwar der König stirbt, das Königtum aber nicht.«

»Ach!«, rief Athos, »das ist vielleicht der letzte ritterliche König, den die Welt haben wird.«

»Verzweifelt nicht, Graf«, sprach eine mächtige Stimme von der Treppe her, auf der Porthos’ schwere Tritte erschallten. »Wir sind alle sterblich, meine armen Freunde.«

»Ihr kommt spät, mein lieber Porthos«, sagte der Graf de la Fère.

»Ja«, erwiderte Porthos, »es waren Leute auf meinem Weg, die mich aufhielten. Die Elenden tanzten! Ich nahm einen beim Hals und erdrosselte ihn, glaube ich, so ziemlich. Gerade in diesem Augenblick kam eine Patrouille. Zum Glück war der, mit dem ich es hauptsächlich zu tun hatte, ein paar Minuten außerstande, zu sprechen. Ich benutzte dies, um mich in eine kleine Straße zu begeben. Diese kleine Straße führte mich in eine noch kleinere; dann verirrte ich mich. Ich kenne London nicht, ich verstehe nicht Englisch und glaubte, ich würde mich nie mehr zurechtfinden; aber endlich bin ich doch hier.«

»Aber d’Artagnan«, sagte Aramis, »habt Ihr ihn nicht gesehen? Sollte ihm etwas begegnet sein?«

»Wir wurden durch die Menge getrennt«, erwiderte Porthos, »und ich konnte trotz allen Anstrengungen nicht wieder zu ihm gelangen.«

In diesem Augenblick trat der Vermisste herein und setzte sich mit den Worten »Ich bin müde!« zu den Freunden.

»Trinkt ein Glas Portwein«, sagte Aramis, nahm eine Flasche vom Tisch und füllte ein Glas; trinkt, »das wird Euch erquicken.«

»Ja, trinken wir«, rief Athos. »Lasst uns trinken und dann aus diesem abscheulichen Lande eilen. Die Feluke erwartet uns, wie ihr wisst; reisen wir diesen Abend, denn wir haben hier nichts mehr zu tun.«

»Ihr habt es eilig«, Herr Graf, sagte d’Artagnan.

»Dieser blutige Boden brennt mir unter den Füßen«, erwiderte Athos. »Ich denke, es bleibt uns noch ein kleines Unternehmen auszuführen. Der Gedanke dazu kam mir, während ich das Schauspiel betrachtete.«

»Welcher?«, fragte Porthos.

»Ich wollte wissen, wer der maskierte Mann wäre, der sich zuvorkommend angeboten hatte, dem König den Kopf abzuschneiden.«

»Ein maskierter Mann!«, rief Athos, »Ihr habt also den Henker nicht entfliehen lassen?«

»Der Henker«, sagte d’Artagnan, »ist immer noch im Keller, wo er ohne Zweifel ein paar Worte mit den Flaschen unseres Wirtes sprechen wird. Aber Ihr erinnert mich eben daran …«

D’Artagnan ging an die Tür und rief: »Mousqueton!«

»Gnädiger Herr?«, erwiderte eine Stimme, die aus der Tiefe der Erde zu kommen schien.

»Lasst Euren Gefangenen los, alles ist vorbei.«

»Aber wer ist der Elende, der Hand an den König gelegt hat?«, sprach Athos.

»Ein Henker aus Liebhaberei, der das Beil mit großer Leichtigkeit handhabt, denn er bedurfte, wie er hoffte, nur eines Streiches«, sagte Aramis.

»Ihr habt sein Gesicht nicht gesehen?«, fragte Athos.

»Er hatte eine Maske«, erwiderte d’Artagnan.

»Aber Ihr, der Ihr in seiner Nähe wart, Aramis?«

»Ich sah nur einen gräulichen Bart, der unter der Larve hervorkam.«

»Es ist also ein Mensch von etwas vorgerücktem Alter?«, fragte Athos.

»Oh, das ist kein Beweis«, versetzte d’Artagnan, »nimmt man eine Larve, so kann man auch einen Bart nehmen.«

»Es tut mir leid, dass ich ihm nicht folgte!«, rief Porthos.

»Nun, mein lieber Porthos, das ist gerade der Gedanke, der mir kam«, erwiderte d’Artagnan.

»Nun?«, sprach Aramis.

»Nun«, versetzte d’Artagnan, »während ich hinschaute, kam mir das sehnsüchtige Verlangen zu erfahren, wer es wäre. Wie ich um mich her schaute, sah ich zu meiner Rechten einen Kopf, der gespalten und so gut als möglich wieder zusammengeflickt worden war. Bei Gott, sagte ich, zu mir selbst, das ist eine Naht von meiner Art, und ich habe diesen Schädel wohl irgendwo zusammengeflickt. Es war in der Tat der unglückliche Schotte, der Bruder Parrys, der Mensch, an dem, wie ihr wisst, Herr von Groslow seine Kräfte versuchte, und der nur noch einen halben Kopf hatte, als wir ihn trafen.«

»Ganz richtig, der Mann mit den schwarzen Hühnern«, sprach Porthos.

»Er selbst. Er machte einem anderen Menschen, der sich zu meiner Linken befand, Zeichen. Ich wandte mich um und erkannte den ehrlichen Grimaud, der, wie ich, damit beschäftigt war, meinen maskierten Henker mit den Blicken zu verschlingen.

›Oh! Oh!‹, rief ich ihm zu, und Grimaud und der Schotte bemerkten mich und gesellten sich zu mir. Als dann alles in der entsetzlichen Weise zu Ende war und das Volk sich verlief, zogen wir uns in einen Winkel des Platzes zurück und beobachteten von da aus den Henker, der sich in das königliche Zimmer begeben hatte und die Kleider wechselte. Die seinen waren blutig geworden. Er setzte sodann einen schwarzen Hut auf den Kopf, hüllte sich in einen Mantel und verschwand. Ich erriet, dass er herauskommen würde, und lief vor die Tür. Nach fünf Minuten sahen wir ihn dann die Treppe herabsteigen.«

»Ihr folgtet ihm?«, rief Athos.

»Bei Gott, erwiderte d’Artagnan, »aber es geschah nicht ohne Mühe. Er wandte sich jeden Augenblick um; dann waren wir genötigt, uns zu verbergen oder ein gleichgültiges Wesen anzunehmen. Ich wäre ihm zu Leibe gegangen und hätte ihn getötet, aber ich bin nicht selbstsüchtig, und es war ein Vorrecht, das ich Euch vorbehielt, Aramis, und Euch, Athos, um Euch ein wenig zu trösten. Endlich nach einem Marsche von einer halben Stunde durch die krummsten Straßen der Altstadt gelangte er zu einem kleinen, einzelnstehenden Haus, wo kein Tritt, kein Licht die Gegenwart eines Menschen andeutete. Der Maskierte blieb vor einer niedrigen Tür stehen und zog einen Schlüssel hervor. Aber ehe er ihn in das Schloss steckte, wandte er sich um, ohne Zweifel, um zu sehen, ob man ihm nicht folgte. Ich war hinter einen Baum gekauert, Grimaud hinter einen Weichstein. Der Schotte legte sich mit dem flachen Leib auf den Weg. Wahrscheinlich glaubte sich der Verfolgte allein, denn ich hörte das Klirren des Schlüssels. Die Tür öffnete sich, und er verschwand.«

»Der Elende!«, rief Aramis, »während Ihr zurückkehrtet, wird er entflohen sein, und wir finden ihn nicht mehr.«

»Still, Aramis«, sprach d’Artagnan, »Ihr verkennt mich.«

»Doch in Eurer Abwesenheit …«, sagte Athos.

»Hatte ich nicht in meiner Abwesenheit an meiner Stelle den Schotten und Grimaud?«

»Ehe er Zeit fand, zehn Schritte im Inneren zu tun, hatte ich die Runde um das Haus gemacht. An eine der Türen, an die, durch die er eingetreten war, stellte ich den Schotten, dem ich bedeutete, wenn der Mann mit der schwarzen Larve herauskomme, solle er ihm folgen, wohin er gehe, während Grimaud ihm selbst folgen und dann zurückkommen sollte, um uns da zu erwarten, wo wir waren. Grimaud stellte ich an den zweiten Ausgang mit demselben Auftrag, und hier bin ich nun! Das Wild ist umstellt, wer will zum Halali?«

Athos stürzte in die Arme d’Artagnans, der sich seine Stirn trocknete. »Freund«, sagte er, »Ihr seid in der Tat der Beste von uns.«

»Reist Ihr nun immer noch, Athos?«, fragte d’Artagnan.

»Nein, ich bleibe«, antwortete der Graf mit einer drohenden Gebärde, die dem, welchem sie galt, nichts Gutes verhieß.

»Die Degen also, und keine Minute verloren!«, rief Aramis.

Die vier Freunde zogen rasch wieder ihre gewöhnlichen Kleider an, gürteten ihre Degen um, ließen Mousqueton und Blaisois kommen und befahlen ihnen, die Rechnung bei dem Wirt in Ordnung zu bringen und alles für die Abreise bereitzuhalten, da man aller Wahrscheinlichkeit nach London noch in derselben Nacht verlassen würde.

Die Nacht war noch düsterer geworden, der Schnee fiel ohne Unterlass und sah aus, wie ein großes, über die königsmörderische Stadt ausgebreitetes Leichentuch; es war ungefähr sieben Uhr abends, man sah kaum ein paar Menschen durch die Straßen gehen; alle sprachen ganz leise und nur zu Vertrauten über die furchtbaren Ereignisse des Tages.

In ihre Mäntel gehüllt, durchwanderten die vier Freunde die am Tage so volkreichen, diese Nacht aber so öden Straßen und Plätze der City. D’Artagnan führte sie, wobei er von Zeit zu Zeit Kreuze zu erkennen suchte, die er mit seinem Dolch an den Mauern gemacht hatte; aber die Nacht war so finster, dass sich diese Spuren nur mit Mühe auffinden ließen. D’Artagnan hatte jedoch seinem Kopf jeden Weichstein, jeden Brunnen, jedes Schild so gut eingeprägt, dass er nach Verlauf eines Marsches von einer halben Stunde mit seinen drei Gefährten vor dem einzelnen Haus anlangte.

D’Artagnan glaubte einen Augenblick, Parrys Bruder sei verschwunden; er täuschte sich. An das Eis seiner Gebirge gewöhnt, hatte sich der kräftige Schotte an einem Weichstein ausgestreckt und, unempfindlich gegen die Ungunst der Witterung, vom Schnee bedecken lassen; aber bei Annäherung der vier Männer stand er auf.

D’Artagnan näherte sich dem Schotten und gab sich ihm zu erkennen. Dann machte er den andern ein Zeichen, herbeizukommen.

»Wie steht es?«, fragte Athos in englischer Sprache.

»Niemand ist herausgekommen«, antwortete Parrys Bruder.

»Gut, bleibt bei diesem Mann, Porthos, und Ihr auch, Aramis, d’Artagnan wird mich zu Grimaud geleiten.«

Dieser, der sich in eine hohle Weide gedrückt und sie als Schilderhaus benutzt hatte, gab auf d’Artagnans Frage, ob jemand herausgekommen sei, zur Antwort: »Nein, aber es ist jemand hineingegangen.«

»Ein Mann oder eine Frau?«

»Ein Mann.«

»Ah!«, sprach d’Artagnan, »sie sind also zu zweit.«

»Ich wollte, sie wären zu vier«, versetzte Athos, »dann wäre die Partie doch gleich.«

»Vielleicht sind sie zu vier«, versetzte d’Artagnan.

»Wieso?«

»Konnten nicht andere Menschen vor ihnen in diesem Haus sein und sie erwarten?

»Man kann sehen«, sprach Grimaud und deutete auf ein Fenster, durch dessen Läden einige Lichtstrahlen drangen.

»Das ist richtig«, sagte d’Artagnan, »rufen wir die anderen.«

Sie wandten sich um das Haus, um Porthos und Aramis zu bedeuten, sie sollten kommen. Diese liefen eilig herbei und fragten: »Habt ihr etwas gesehen?«

»Nein, aber wir werden etwas erfahren«, antwortete d’Artagnan und deutete auf Grimaud, der, sich an die Mauervorsprünge anklammernd, bereits fünf bis sechs Fuß über der Erde war.

Alle vier näherten sich. Grimaud stieg mit der Gewandtheit einer Katze aufwärts; endlich gelang es ihm, einen der Haken zu fassen, die zum Festhalten der Läden dienen, wenn diese offen sind; zu gleicher Zeit fand sein Fuß ein Gesims, das ihm einen hinreichenden Stützpunkt zu geben schien, denn er machte ein Zeichen, durch das er andeutete, er habe sein Ziel erreicht. Dann näherte er sein Auge der Spalte des Ladens.

»Wie ist es?«, fragte d’Artagnan.

Grimaud zeigte seine Hand, die bis auf zwei Finger geschlossen war.

»Sprich«, sagte Athos, »man sieht deine Zeichen nicht. Wieviel sind es?«

Grimaud tat sich Gewalt an und erwiderte: »Zwei; der eine ist mir gegenüber, der andere wendet mir den Rücken zu.«

»Gut. Wer ist der dir gegenüber?«

»Der Mensch, den ich an mir vorübergehen sah.«

»Kennst du ihn?«

»Es ist Oliver Cromwell.«

Die vier Freunde schauten sich an.

»Und der andere?«

»Mager und schlank gewachsen.

»Es ist der Henker«, sagten Aramis und d’Artagnan.

»Ich sehe nur seinen Rücken«, versetzte Grimaud; »doch halt, er macht eine Bewegung, er dreht sich um, wenn er seine Larve abgelegt hat, kann ich sehen . . . Ah! . . .«

Grimaud ließ, als wäre er im Herzen getroffen, den eisernen Haken los und sank mit einem dumpfen Seufzer zurück. Porthos fing ihn in seinen Armen auf.

»Hast du ihn gesehen?«, fragten die vier Freunde.

»Ja«, sprach Grimaud, mit emporgesträubten Haaren und Schweiß auf der Stirn.

»Und wer ist es?«, sprach Porthos.

»Er! Er!«, stammelte Grimaud, bleich wie ein Toter und mit seinen zitternden Händen die Hand seines Herrn ergreifend.

»Wer, er?«, fragte Athos.

»Mordaunt! …«, erwiderte Grimaud.

D’Artagnan, Porthos und Aramis stießen einen Freudenschrei aus.

Athos machte einen Schritt rückwärts, fuhr mit der Hand über die Stirn und murmelte: »Verhängnis!«