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Der Hexer Band 47

Robert Craven (Frank Rehfeld)
Der Hexer, Band 47
Stadt der bösen Träume

Horror, Grusel, Heftroman, Bastei, Bergisch-Gladbach, 20. Januar 1987, 64 Seiten, 1,70 DM, Titelbild: Don Maitz

Es war dunkel hier unten, fast hundert Fuß unter der Erdoberfläche, doch das Ding benötigte keine Augen, um sich zurechtzufinden. Gierig peitschten seine schleimglänzenden Tentakel über die nachtschwarzen Granitwände des Stollens. Es hatte seinen Ruf ausgesandt, und es wusste, dass er gehört worden war. Die Gier nach frischem, pulsierendem Leben wurde beinahe übermächtig in ihm. Die Opfer waren unterwegs …

Leseprobe

Unruhig tanzte der Lichtschein des Karbidscheinwerfers über die rauen Wände des Stollens, als David Jones die Lampe versehentlich mit dem Fuß anstieß. Das Licht brach sich an unzähligen Kanten und warf bedrohlich anmutende Schatten, schien Leben zu schaffen, wo keines war – oder zumindest keines sein durfte –, aber wer wusste in dieser unbegreiflichen Umgebung schon zu sagen, ob hier die gleichen Gesetze wie anderswo galten?

Nervös fingerte Jones am Abzug seines Gewehres herum, obwohl er nicht sicher war, dass ihm die Waffe im Notfall wirklich helfen würde. Die Umgebung flößte ihm ein körperlich spürbares Unbehagen ein. Es war ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl, aber etwas an dieser unterirdischen Steinwelt kam ihm sonderbar falsch vor.

Es schien hier Winkel zu geben, die auf eine bizarre Art stärker als dreihundertsechzig Grad gekrümmt anmuteten, Linien, die mit der menschlichen Geometrie nicht vereinbar waren, ohne dass er zu sagen vermochte, was diesen Eindruck in ihm auslöste. Immer, wenn er sich genauer auf einen der unmöglich erscheinenden Winkel konzentrierte, verschwammen die Konturen vor seinen Augen, als wolle die Umgebung sich seinen Blicken ganz bewusst entziehen.

Natürlich wusste Jones, dass das alles nicht wirklich so war und ihm nur seine überreizten Nerven einen bösen Streich spielten. Aber ob eingebildet oder nicht, machte keinen großen Unterschied, dachte er nervös. Letztlich war es vollkommen egal, ob er nun durch eine eingebildete oder eine reale Gefahr den Verstand verlor.

Dieser Platz war fremd, und er war nicht für Menschen gemacht. Es war falsch, dass sie sich hier aufhielten. Sie hätten niemals herkommen sollen. Er hätte nicht kommen sollen.

Immer wieder warf er verstohlene Blicke in Richtung der Wand aus saugender Schwärze, die sich kaum ein halbes Dutzend Yards hinter ihm erhob. Trotz seiner fünf Begleiter fühlte er sich hilflos und allein.

»Was zum Teufel ist das?«, murmelte er. Er wusste nicht, wie oft er die Frage im Verlauf der letzten drei Stunden schon gestellt hatte, ohne eine Antwort zu finden, und auch jetzt erntete er lediglich ein unbehagliches Schulterzucken, das seine Nervosität nur noch verstärkte.

Natürlich wusste keiner seiner Begleiter mehr als er selbst über die Barriere aus gestaltgewordener Nacht, aber ebenso natürlich war es, dass sie alle sich Gedanken über das Ding machten, das sie bewachten.

Bewachten!

Verächtlich spie Jones aus. Der Auftrag Kapitän Nemos war völlig klar. Sie sollten verhindern, dass irgendetwas oder jemand durch die Wand aus ineinanderfließenden Schatten auf die Insel kam, und gleichzeitig dafür sorgen, dass niemand die unbegreifliche Barriere von ihrer Seite aus durchquerte. Notfalls durch Einsatz ihrer Waffen, freilich ohne den Betreffenden zu töten.

Und wenn es uns selbst erwischt?, dachte Jones.

Der Gedanke lag nahe, auch wenn sie alle ihn in den vergangenen Stunden immer wieder verdrängt hatten. Beim Schürfen nach Erzen waren sie vor zehn Tagen auf eine Reihe von natürlichen unterirdischen Gängen gestoßen, an deren Ende sich diese Wand befunden hatte. Niemand, nicht einmal Nemo, wusste, was es war. Es war, als höre die Welt an dieser Stelle einfach auf. Genauer: Als würde sie von einem nur optisch sichtbaren, physisch aber nicht existenten schwarzen Vorhang von etwas gänzlich anderem abgetrennt; einem Vorhang, hinter dem sich unsichtbare Bewegung und unheimliches schattenhaftes Leben verbargen. Kein Lichtstrahl konnte die Wand aus Schwärze durchdringen, obwohl es sich überhaupt nicht um eine richtige Wand handelte, sondern um …

Ja, wenn sie das wüssten. Die Barriere bestand aus nichts weiter als Finsternis, die jeden Lichtstrahl aufsog. Einen festen Widerstand gab es nicht. Einer der Männer war mühelos hindurchgegangen. Das Zurückkommen freilich schien nicht so mühelos zu sein. Genau genommen, war er überhaupt nicht zurückgekehrt …

In der darauffolgenden Nacht der zweite. Zumindest nahm man an, dass er durch die Barriere gegangen war, getrieben von einer Neugier, die stärker war als sein Gehorsam und stärker als seine Furcht. Beim Betreten der Stollen war er zum letzten Mal gesehen worden. Diese beiden Vorfälle allein wären schon Grund genug zur Beunruhigung gewesen, doch ihre Zahl hatte sich rasch gemehrt. Bereits wenige Stunden später war der nächste Mann, William Staff, in die Stollen gegangen. Ein Freund hatte ihn verfolgt und beobachtet. Als er versucht hatte, Staff vom Durchschreiten der Barriere zurückzuhalten, hatte dieser sich mit schier übernatürlicher Kraft zur Wehr gesetzt und ihn niedergeschlagen.

Und er war nicht der letzte gewesen. Fortan waren in immer kürzeren Abständen Menschen in dem Stollen verschwunden. Nichts hatte sie aufhalten können; selbst durch einen künstlich herbeigeführten Erdrutsch hatten sie sich hindurchgewühlt. Niemand wusste, was die Menschen mit fast magnetischer Kraft zu der Barriere zog.

Heute hatte Nemo schweren Herzens sein Einverständnis gegeben, Wachen aufzustellen und die Beeinflussten zu ihrem eigenen Schutz notfalls anzuschießen. Da der fremde Einfluss von der Entfernung scheinbar völlig unabhängig war, hatten sie direkt an der Barriere Posten bezogen.

Bislang war es zu keinem weiteren Zwischenfall gekommen, und jeder von ihnen war mehr als froh darüber. Für Jones war der Gedanke unvorstellbar, auf Freunde zu schießen, selbst wenn er sie damit vor einem möglicherweise viel schlimmeren Schicksal bewahren konnte. Er kannte Nemo und wusste, wie schwer dem Kapitän die Entscheidung gefallen sein musste. Aber er wusste auch, dass es wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, das Verderben aufzuhalten. Besser eine Kugel im Bein, dachte er sarkastisch, als gar kein Bein mehr …

»Was verbirgst du?«, flüsterte er. Ein bisschen kam er sich albern dabei vor, mit nichts anderem als Dunkelheit zu reden; und trotzdem war er fast sicher, dass das, was immer sich hinter der Barriere aus geronnener Finsternis verbarg, ihn hörte und verstand.

Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter, und er blickte in O’Reileys wettergegerbtes Gesicht. »Mach dich nicht selbst verrückt«, sagte der alte Ire. Seine Stimme klang wie das Brummen eines schlechtgelaunten Waschbären, aber Jones wusste, dass O’Reiley hinter seiner rauen Schale einen sensiblen und gutmütigen Kern verbarg.

Und das war der letzte klare Gedanke, den er fasste …

Eine gigantische schwarze Hand schien nach seinem Gehirn zu greifen und fegte sein Denken mit feurigen Fingern hinweg. Dann sah er …

Es war eine Vision, und er war sich dieses Umstandes völlig bewusst, und trotzdem war sie so echt, dass er glaubte, die Realität zu erleben. Er sah eine Stadt… eine Stadt, wie er sie noch niemals zuvor erblickt hatte. Die Gebäude schimmerten silbern. Sie waren von unvergleichlicher Feinheit, schmal und hoch, mit unzähligen Erkern und kristallenen Türmchen. Es gab Parks mit Teichen und munter plätschernden Springbrunnen, und Blumen von einer Pracht und Farbenvielfalt, die ihresgleichen suchte. Wesen von anmutiger Zartheit tanzten in den Straßen dieser Elfenstadt…

Dann verblasste das Bild, als lege sich ein milchiger Schleier darüber. Enttäuscht stöhnte Jones auf. Noch nie zuvor hatte er einen Ort von solcher Schönheit gesehen, und er wusste, dass er dorthin gelangen musste, wenn er nicht vor verzehrender Sehnsucht sterben wollte. Es gab keine Anstrengung, die zu groß war, um die Stadt zu erreichen.

Mit tänzerischer Leichtfüßigkeit bewegte er sich auf den Durchgang zu. Schatten waren um ihn herum, die ihn zurückzuhalten versuchten. Ohne jede Mühe schüttelte Jones sie ab. Ein lautes Geräusch ertönte, und gleichzeitig knickte ihm ein Bein unter dem Körper weg, ohne dass er wirklichen Schmerz spürte. Er stemmte sich wieder hoch. Es dauerte nicht einmal zwei Sekunden, auch den letzten der konturlosen Schatten abzuschütteln.

Unbeirrt setzte Jones seinen Weg durch den schmalen Stollen fort. Mit der Gleichmäßigkeit einer Maschine setzte er einen Fuß vor den anderen. Sein Gesicht zeigte einen verklärten, glücklichen Ausdruck, als er die Barriere erreichte.

David Jones lächelte noch, als er hindurchschritt und nachtschwarze Tentakel auf ihn zuglitten …

 

***

 

Der Pub sah von innen genauso aus, wie es sein Äußeres erwarten ließ: schmutzig und ungepflegt. Die Luft war stickig und verbraucht; es roch nach kaltem Rauch und abgestandenem Bier, und der Gestank von Howards Zigarre verringerte meine Atemprobleme auch nicht gerade.

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Es war später Nachmittag, und um diese Zeit hielten sich nur wenige Menschen in dem Pub auf. Es waren einfache Seeleute in verschlissener Kleidung. Ihre derben, grobschlächtigen Gesichter passten zu der Umgebung wie die berüchtigte Faust aufs Auge. Ich glaubte die taxierenden Blicke der Männer wie Dolchstöße zu spüren. Betont unauffällig blickte ich in eine andere Richtung, wobei ich mir bewusst war, dass wir auch so genügend Aufmerksamkeit erregten.

Schon unsere Kleidung machte deutlich, wie sehr wir uns von den Männern hier unterschieden, und die blitzförmige weiße Strähne in meinem Haar tat ein Übriges. Auch wenn die Mode immer törichter zu werden begann, hatte sich eine solche Stilrichtung bislang noch nicht durchsetzen können. Möglicherweise war ich hundert Jahre zu früh dran, was ausgefallene Frisuren anging.

Der Wirt, einer jener Zeitgenossen, denen ich auch nicht unbedingt allein in einer nächtlichen Gasse begegnet wäre, kam mit finsterer Miene herangeschlurft und knallte die bestellten Bierkrüge vor uns auf den Tisch, dass gut ein Viertel der Flüssigkeit, von der er behauptete, dass es sich um Bier handle, dabei überschwappte und auf unsere Anzüge spritzte. Angesichts seiner massigen Statur erschien es mir angeraten, mich nicht darüber zu mokieren. Ich verbiss mir die Frage, in welchem Wasser die Krüge wohl gespült worden sein mochten – wenn überhaupt –, und probierte einen Schluck. Entgegen allen Erwartungen schmeckte das Bier sogar recht gut, aber das erschien mir als Grund, warum Howard mit mir in überstürzter Hast nach Brighton aufgebrochen war, reichlich unzureichend, zumal es auch in London – zumindest gelegentlich – gutes Bier gab.

Howard machte auch jetzt noch keine Anstalten, mir zu erklären, warum wir diese Reise unternommen hatten. Scheinbar gelangweilt blickte auch er sich in der Schankstube um, aber ich spürte genau, dass es eine Art von aufgesetzter Langeweile war, hinter der sich höchste Konzentration und scharfes Beobachten verbargen.

»Es wäre nett, wenn du mir endlich erklären würdest, was wir hier wollen«, richtete ich das Wort an ihn.

Howard sog an seiner Zigarre und paffte mir eine dicke Rauchwolke wie unbeabsichtigt genau ins Gesicht. Ich musste husten, aber diesmal war ich nicht bereit, mich wieder mit Ausflüchten abspeisen zu lassen. Howard Phillips Lovecraft verstand es immer noch meisterhaft, Geheimnisse aufzubauen und mich mit seiner Fähigkeit, selbst direkten Fragen auszuweichen, an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Bei seiner Begabung, mit vielen Worten so gut wie nichts auszudrücken, hätte er glattweg Schriftsteller werden können.

»Also?«, fragte ich ungeduldig.

»Wir warten«, erklärte er im Verschwörerton, wobei er ein Gesicht machte, als hätte er soeben ein ungeheuer wichtiges Geheimnis preisgegeben.

»Das hätte ich mir fast gedacht«, gab ich wütend zurück. »Worauf? Oder auf wen?«

Howard sah mich einige Sekunden lang an, aber ich erkannte, dass er mir nicht direkt in die Augen blickte, sondern nur einen Punkt dazwischen fixierte, dann senkte er den Blick und schüttelte auf väterliche Art den Kopf. »Warum wartest du nicht einfach ab, was passiert?«

Ich kannte Howard inzwischen, zumindest bildete ich mir das ein, aber an seine Geheimniskrämerei würde ich mich wohl nie gewöhnen können.

»Ich möchte endlich wissen, was hier gespielt wird«, sagte ich mit mühsam erzwungener Ruhe. »Ich bin kein grüner Junge mehr, das dürftest selbst du mittlerweile erkannt haben. Also gib mir endlich eine klare Antwort. Ich kenne bessere Möglichkeiten, mir die Zeit zu vertreiben, als hier herumzusitzen, weißt du?«

»Ich… ich kann dir nicht sagen, auf wen wir warten, Robert«, murmelte er gequält. Bei dem Ernst, der mit einem Mal in seiner Stimme mitklang, war ich einen Augenblick lang fast bereit, ihm zu glauben, bis mir bewusst wurde, dass auch das nur Teil seiner Ablenkungsdtrategie war. »Es ist besser für dich, wenn du es nicht weißt«, fügte er hastig hinzu, bevor ich aufbrausen konnte. »Man hat mir eine Nachricht übermittelt, dass wir hierherkommen sollen.«

Es war Teil meines magischen Erbes, jede Lüge sofort zu erkennen, und deshalb wusste ich, dass Howard die Wahrheit sprach, auch wenn das eigentlich unmöglich war. Ich war den ganzen Morgen mit ihm zusammen gewesen und hätte es gesehen, wenn ein Bote ihm eine Nachricht gebracht hätte. Aber auch wenn Howard nicht log, so behielt er doch einen großen Teil seines Wissens für sich. Es war hoffnungslos, sich mit ihm zu streiten. Wenn er etwas nicht sagen wollte, dann hätte vermutlich nicht einmal die spanische Inquisition etwas aus ihm herausbekommen.

Resignierend lehnte ich mich zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren, als mir einen Sekundenbruchteil zu spät einfiel, dass der Hocker keine Rücklehne hatte. Mit rudernden Armen fand ich das Gleichgewicht wieder; ein Anblick, der auf die anderen Gäste des Pubs überaus erheiternd wirken musste. Wütend griff ich nach dem Bierkrug und trank einen Schluck.

Mehr als eine Stunde verbrachten wir in dem Pub, ohne dass ich ein weiteres Wort mit Howard wechselte. Allmählich füllte sich die Schankstube. Bei jedem neuen Gast zuckte er zusammen und beobachtete den Neuankömmling genau, aber die Person, auf die er wartete, kam nicht. Ich konnte sehen, wie er von Minute zu Minute nervöser wurde. Schließlich erhob er sich.

»Es muss etwas passiert sein«, murmelte er, während er Geld auf den Tisch legte und seinen Mantel anzog. Ich griff ebenfalls nach meinem Mantel und vergaß auch den Gehstock nicht, in dessen Hülle sich ein scharfgeschliffener Degen verbarg.

Obwohl ich immer noch nicht wusste, um was es eigentlich ging, konnte ich nicht verhindern, dass mich Howards Nervosität ansteckte, während wir den Pub verließen.

Gerade als ich die Tür öffnen wollte, wurde sie von außen aufgestoßen. Ein Mann stürzte herein und rannte mich fast über den Haufen. Und es gehörte keine allzu große Menschenkenntnis dazu, um zu erkennen, dass er vor Angst beinahe den Verstand verlor.

2 Antworten auf Der Hexer Band 47

  • Jens F. Acker sagt:

    Laut Bild hat Band 47 von “Der Hexer” den Namen “Stadt der bösen Träume”. Im Titel wird aber “Das Rätsel von Stonehenge” angegeben.
    Da im Titelbild auch “Band 47” angegeben wird, ist wohl die Angabe im Artikel falsch.

    • W. Brandt sagt:

      Hallo Jens,
      besten Dank für den Hinweis. Ich habe den Fehler behoben.

      Schaurige Grüße und bleib uns gewogen.